22
Trennlinie
Der Morgenhimmel zeigte sich in einem bleiernen Grau. Passend zu meinen Empfindungen, die keinen Sonnenschein vertragen hätten. Je lebloser es um mich herum war, desto besser. Ich wollte nicht, dass irgendetwas meine Aufmerksamkeit erregte. In mir sollte Stille herrschen, ich wollte weder fühlen noch erinnern. Das ging jetzt nicht.
Wie in Zeitlupe setzte ich die Tasse an und nahm einen Schluck, ohne darauf zu achten, ob der Tee heiß oder schon kalt war. Obwohl ich es mir strengstens verbot, wanderte mein Blick zum Telefon. Ich hoffte auf einen Anruf von Lena, die letzte Nacht weinend bei mir im Arm eingeschlafen war. Es gab allerdings nicht den leisesten Laut von sich, genau wie das Handy in meiner Hosentasche. Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Trotzdem schnappte ich es mir, egal, wie armselig ich mir dabei vorkam. Nur für den Fall der Fälle. Außerdem war es tröstlich, sich an etwas festhalten zu können.
Mir die müden Augen reibend, ging ich auf die Terrasse und setzte mich auf einen der gusseisernen Gartenstühle. Rezas erste Aktion am Morgen war es für gewöhnlich, die Polster aufzuziehen, sogar bei bewölktem Himmel. Schließlich war der Garten ihr zweites Wohnzimmer, wenn nicht sogar ihr erstes. Doch danach stand mir nicht der Sinn, obwohl der nackte Stuhl ein elendes Gefühl von Verlassenheit hervorrief. So hatte ich mich das letzte Mal als Achtjährige gefühlt, als mein Vater es verschwitzt hatte, mich vom Flötenunterricht abzuholen. Ich hatte eine gefühlte Ewigkeit auf der schneematschgrauen Straße auf ihn gewartet, bis es meiner Musiklehrerin aufgefallen war. Da hatte sie mich wieder reingeholt und meine Mama angerufen.
Genau das wollte ich jetzt auch nur allzu gern tun: meine Mama anrufen.
Nur durfte ich nicht einmal daran denken. Wenn ich Reza erst an der Strippe hatte, würde ich zweifelsohne zu schluchzen anfangen und sie anbetteln, sofort heimzukommen, weil ich mich einsam und allein gelassen fühlte. Das Letzte, was ich allerdings wollte, war, meinen Eltern den hart verdienten Kurzurlaub zu versauen, weil ich nicht in der Lage war, mich allein um meine Probleme zu kümmern. Probleme, die entstanden waren, weil meine Verliebtheit mir den Blick aufs Ganze verschleiert hatte. So verführerisch der Gedanke an die tröstende Stimme meiner Mutter und ihr Talent, die richtigen Worte zu finden, auch war, ich würde mich zusammenreißen und standhaft bleiben. Außerdem musste ich die Leitung freihalten, falls Lena doch noch anrief.
An meiner linken Hand wärmte sich der Bernsteinring unvermittelt auf. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er sich, seit Sam mit Nikolai am Nachthimmel verschwunden war, seltsam ruhig angefühlt hatte. Wobei es schon komisch war, einem Ring – und sei es ein Artefakt aus der Sphäre – allen Ernstes Gefühle zuzuschreiben. Der Gedanke, wie perfekt mein Leben in einem Moment gewesen war, nur um im nächsten in Stücke gerissen zu werden, überfiel mich wie ein Schlag in die Magengrube. Als ich eingewilligt hatte, den Ring zu tragen, war es mir damit ernst gewesen. Ich liebte Sam, mehr als ich ertragen konnte. Aber ich hatte mich selbst belogen, indem ich mir eingeredet hatte, unsere Liebe sei unabhängig von den äußeren Umständen. Nikolais Erscheinen hatte das schon im nächsten Augenblick widerlegt. Die dunkle Seite der Schattenschwingen zeigte sich nicht nur in der für uns unerreichbaren Sphäre, sondern auch am Strand von St. Martin. Vor Menschen, die ich liebte. Für die ich Verantwortung trug. Lena war ein Unglück zugestoßen, weil ich zu blind gewesen war, mir einzugestehen, welche Gefahr von den Schattenschwingen ausging. Weil ich unbedingt mit Sam zusammen sein wollte. Nun aber konnte ich die Wahrheit nicht länger leugnen.
Als ich Sam bemerkte, der über seinen üblichen Schleichweg in unseren Garten gelangt war, hatte ich mich bereits wieder ganz gut im Griff. Wenn ich meinen gerade gefassten Entschluss durchsetzen wollte, durfte ich keine Schwäche zeigen. Ich sah ihm dabei zu, wie er den Weg durch die Senke, in der unser Garten lag, zu mir hochkam. Obwohl seine Schritte lang und seine Bewegungen so anmutig wie immer waren, erkannte ich schon von Weitem, dass auch er vollkommen erschöpft war. Falls das überhaupt möglich war, sah er sogar noch mitgenommener aus als am Freitagabend. Er brauchte dringend Ruhe, das Leben in zwei Welten fraß ihn allmählich auf.
»Ich hätte früher da sein sollen. Ich …« Sams Stimme klang rau, als habe er sich in der letzten Nacht heiser geschrien.
Da ich mich weigerte aufzustehen, ging er vor mir in die Knie und schlang die Arme um mich. Ich starrte ins Leere, ignorierte seinen vertrauten Geruch, seine erhitzte Stirn, die er gegen meine lehnte.
»Mila …«, setzte er erneut an, bereits unruhig, weil keine Reaktion von mir kam. Aber ich konnte einfach nicht, ich hielt seine Nähe kaum aus. »Wie geht es Lena?«
»Sie ist im Krankenhaus. Zur Beobachtung.«
»Denkst du, dass ich ihr helfen kann?«
Sam ließ bewusst offen, was genau er unter Hilfe verstand – ob er sich ihr erklären oder stattdessen ihre Erinnerung verändern wollte.
»Das Beste wird es sein, wenn du sie in Ruhe lässt. Sie hat gestern bereits eine Überdosis Schattenschwingen-Hilfe abbekommen. «
Ich fühlte mich so eiskalt, wie meine Wort auf Sam wirken mussten. Endlich gab er die Umarmung auf und musterte mich eindringlich. Dann setzte er sich in den Stuhl mir gegenüber, die Hände um die Lehnen gekrallt, bis die Knöchel weiß hervortraten.
»Es sieht nicht gut aus, was?«
»Nein, nicht besonders.«
Sam nickte, dann blickte er in den Garten. »Du bist allein?«
»Ich habe die anderen gebeten, mir heute ein wenig Freiraum zuzugestehen. Shirin und Ranuken sind mit Rufus auf der Wilden Vaart und werden bis zum Abend draußen auf dem Meer bleiben.«
Fast hätte sich ein Schmunzeln auf mein Gesicht geschlichen, als ich daran dachte, mit welcher Grimasse Ranuken dem Plan zugestimmt hatte. Dann bemerkte ich den Ausdruck ins Sams Augen – abwartend, sich innerlich bereit machend für das, was noch kommen würde – und das Schmunzeln ging mir verloren.
»Den Ring… du trägst ihn noch? Daran hat sich also nichts geändert?«
Unwillkürlich streichelte ich über den hellen Bernsteinreif an meiner linken Hand. »Daran hat sich nichts geändert.«
Sam schloss die Augen und ich erkannte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Ich durfte keine Zeit verschwenden, sonst machte ich alles nur schlimmer.
»Wenn du den Ring nicht zurückforderst, werde ich ihn auch weiterhin tragen. Aber ich möchte dich bitten, vorerst nicht mehr zu mir zu kommen.«
Ich hatte den Satz noch nicht einmal zu Ende ausgesprochen, da war Sam auch schon aufgesprungen. Er beugte sich zu mir herunter, beide Arme seitlich von mir aufgestellt, als wollte er verhindern, dass ich flüchtete. Oder als müsse er sich davon abhalten, mich anzufassen. Entschlossen hielt ich seinem Blick stand, ohne ihn wirklich anzusehen. Ansonsten hätte meine Stimme versagt.
»Ich will dich nicht verletzen, aber …«
»Du tust es gerade.«
»Bitte, lass mich ausreden.« Ich verhielt mich gröber als beabsichtigt, aber ich musste das hier schnell hinter mich bringen, andernfalls würde ich es nicht durchstehen. »Ich liebe dich, daran hat sich nichts geändert. Nicht im Geringsten. Aber ich bin der Überzeugung, dass es das Beste für uns beide ist, wenn wir uns eine Weile nicht sehen. Es ist zu viel in zu kurzer Zeit passiert. Lauter Dinge, die wir beide in ihrer Reichweite nicht einmal ansatzweise abschätzen können. Das, was gestern Abend geschehen ist, war nur ein weiterer Mosaikstein. Sam, wir müssen beide zur Ruhe kommen. Die Welten, in denen wir leben, müssen zur Ruhe kommen.«
»Gut. Das verstehe ich. Dieser ganze Wahnsinn, in dem wir feststecken, das muss ein Ende haben.« Sam zeigte eine wilde Entschlossenheit, die jeden Augenblick in Verzweiflung umkippen konnte. Zu gern hätte ich etwas Tröstendes gesagt oder ihn gar berührt. Doch das war unmöglich. »Ich werde hierbleiben, bei dir, Mila. Ich werde nicht wieder in die Sphäre zurückkehren, wir werden nicht einmal mehr über sie sprechen. Ich werde diesen Teil in mir einfach tilgen.«
Ich schüttelte den Kopf und ließ mir nicht anmerken, dass ich innerlich bei diesem Vorschlag jubilierte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als Sam einfach bei mir zu behalten und alles andere zu vergessen. Aber auch über diese Möglichkeit hatte ich vorher nachgedacht und sie als grundlegend falsch verworfen. Ich liebte Sam wirklich – und gerade deshalb konnte und durfte ich nicht von ihm verlangen, dass er einen großen Teil seines Ichs abtötete. Ganz gleich, was dadurch gewonnen war.
»Ich liebe dich, Sam, aber es ist unmöglich, dich von der Sphäre zu trennen. Du kannst nicht immer wieder nach St. Martin kommen und Mensch spielen, solange du eigentlich der Sphäre angehörst. Ihr Schatten würde immer über uns hängen, einfach aus dem Grund, weil du eine Schattenschwinge bist. Davon abgesehen, dass du durch deine Anwesenheit hier Menschen gefährdest, Menschen, die zu mir gehören und für die ich mich verantwortlich fühle.« Ich hielt inne, denn nun kam der Teil, der mich fast umbrachte. »Die einzige Möglichkeit für uns beide würde tatsächlich darin bestehen, dass du dich ganz von deinem Schattenschwingen-Dasein lossagst. Aber das will ich nicht. Ich weiß genau, wie wichtig es für dich ist. Wichtiger, als ich für dich bin. Die Schattenschwingen sind deine Familie, du brauchst sie genauso sehr, wie ich meine Familie und Freunde brauche. Wahrscheinlich sogar noch mehr.« Sam schüttelte den Kopf, als wäre alles, was ich gesagt hatte, vollkommen falsch. Wie sehr sehnte ich mich danach, dass er recht hatte, aber ich durfte mich nicht selbst belügen. »Als ich Shirin gemalt habe, hat sie mir von der Liebe erzählt. Sie hat gesagt, man kann nicht bestimmen, wen man liebt, aber man kann sich entscheiden, das Richtige zu tun. Ich will das Richtige tun, Sam. Darum musst du jetzt gehen.«
»Das kannst du nicht wirklich wollen.« Sams Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sein Gesicht war eine Handbreit von meinem entfernt, doch ich sah ihn nicht an. Durfte ihn nicht ansehen.
»Ich will es nicht, aber ich tu es trotzdem. Geh bitte.«
Ich sah ihm nicht hinterher, als er sich abwandte. Ich sah in den grauen Himmel und machte alles leblos in mir.

Was tun Menschen, die trauern?
Denen gerade jemand verloren gegangen ist, an dem ihr Herz hing? Sich in Schweigen einigeln oder vor sich hin weinen, manche stumm, andere wiederum laut und klagend.
Nachdem der Schutzpanzer, mit dem ich Sam auf Distanz gehalten hatte, aufgebrochen war, tat ich beides. Der Verlust, den ich erfahren hatte, als er gegangen war, riss mich in einen Abgrund. Zugleich erinnerte mich eine strafende Stimme daran, dass ich mir mein Elend selbst zuzuschreiben hatte. Darin lag der Unterschied zum ersten Mal, als ich Sam verloren hatte: Ich hatte auf einer Auszeit bestanden, daran änderte auch noch so lautes Schluchzen nichts. Es war meine Entscheidung gewesen. Das war fast genauso grausam wie der Verlust und die überwältigende Einsamkeit. Ich konnte mich meinem Leid nicht überlassen, sondern sprach mir das Recht darauf ab.
Es war deine Entscheidung, nun steh auch dazu, sagte mir die unerbittliche innere Stimme immer wieder. Nach und nach zeigte sie Wirkung und ich wischte mir die Tränen vom Gesicht.
Sei so stark, wie du vor Sam vorgetäuscht hast zu sein.
Mach jetzt nicht alles kaputt, indem du dir die Augen aus dem Kopf weinst. Das entwertet nur alles, denn es war richtig, auf einer Auszeit zu bestehen.
Mühsam schleppte ich mich die Treppe hinauf in mein Zimmer, wobei jeder einzelne Muskel in meinem Körper spannte. Auch hinter meiner Stirn pochte es unentwegt. Mein Inneres und Äußeres passten nicht länger zusammen, alles in mir war durcheinandergeraten. Ich ließ mich aufs Bett fallen und verbot mir, auch nur darüber nachzudenken, ob das Kopfkissen vielleicht noch nach Sam roch.
Auch wenn sich dein Rücken wie gebrochen anfühlt, du zeigst jetzt Rückgrat!
Außerdem ist er ja nicht für immer fort. Es ist nur eine Auszeit. Sobald einer von uns beiden eine Lösung gefunden hat …
Eigentlich brauchen wir uns doch nur zusammenzuraufen. Darauf kommt es an.
Ich muss nur mit Sam sprechen, seine Stimme hören …
Mit einem Stöhnen unterdrückte ich diese verführerischen Gedanken. Ich würde an der Auszeit festhalten, allein deshalb, weil zu viel in zu kurzer Zeit geschehen war. Ich musste mein inneres Gleichgewicht wiederfinden, um entscheiden zu können, was richtig und falsch war.
Voller Zorn dachte ich an all die Filme und bescheuerten Liebeslieder, in denen immer so getan wurde, als würde sich alles von selbst in Wohlgefallen auflösen, wenn man nur kräftig an die Liebe glaubte. Von wegen: Liebe kann Berge versetzen. Na, vermutlich konnte sie das auch, nur stellte sich eben die Frage, wer unter dem Berg begraben wurde.
Erneut liefen mir Tränen über das Gesicht, allerdings aus Wut.
Die Liebe war so ungerecht und eine einzige Quälerei. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, Samuel Bristol niemals begegnet zu sein. Die ganzen berauschenden Gefühle, die er in mir geweckt hatte, kehrten sich nun gegen mich, genau wie die erlebte Zweisamkeit mir nun grausam vor Augen führte, wie schrecklich es war, allein zu sein. All das wäre mir erspart geblieben, genau wie die Trauer, als er verschwunden war, und das Chaos, in das sich mein Leben seit seiner Rückkehr verwandelt hatte. Ohne ihn wäre ich jetzt frei und unbeschwert, einfach ein anderes Mädchen. Nun trug ich seine Prägung. Dafür hätte es nicht einmal dieses Ringes bedurft, der als Symbol für unsere Verbundenheit stand.
Wie im Fieber starrte ich den Ring an. Ein honigfarbenes, perfekt gearbeitetes Schmuckstück. Bernstein aus der Sphäre. Form gewordene Vergangenheit, hatte Shirin es genannt. Nun, meine Liebe hatte es mir nicht erhalten können. Schattenschwingen-Magie. Ich hätte wissen müssen, dass darin nichts Gutes liegen konnte.
Mit vor Entschlossenheit fest aufeinandergepressten Lippen packte ich den Ring und zog daran. Er rührte sich nicht von der Stelle. Ich grub meine Fingernägel unter ihn, doch es half nichts. Der Ring saß wie angegossen, ein unverrückbares Zeichen für die Liebe, die ich trotz allem für Sam empfand. Mir kam es so vor, als wolle er mir vor Augen führen, dass ich zwar so tun konnte, als würde ich mein Schicksal selbst bestimmen, dass in Wirklichkeit aber alles bereits feststand. Oder vielmehr: festsaß wie dieser verdammte Ring!
Das war zu viel für mich. Hemmungslos weinend, kauerte ich mich zusammen und schaffte es gerade noch, die verwirrt dreinblickende Pingpong in meine Arme zu schließen. Ihr sauber duftendes Fell an meiner Wange schenkte mir wenigstens etwas Trost.