21
Schmerzvolle Erkenntnis
Mila
Der Krankenhausflur roch nach Desinfektionsmitteln. Ein scharfer Geruch, der mir Übelkeit verursachte. Mit unters Kinn gezogenen Knien hockte ich in der Sitzecke und bemühte mich darum, die flackernde Leuchtröhre am Ende des Ganges zu ignorieren. Ich war ohnehin mit meinen Nerven am Ende, da konnte ich so was nicht gebrauchen. Erneut bereute ich es, Rufus und Ranuken heimgeschickt zu haben. Doch wenn die Leute in der Notfallaufnahme Ranuken zu Gesicht bekommen hätten, wäre alles sicherlich noch viel komplizierter abgelaufen. Deshalb hatte Rufus mich mit der schweigsamen und am ganzen Leib zitternden Lena bis zum Empfang gebracht und war dann schnell zu dem verstörten Ranuken zurückgelaufen, bevor der noch eine Dummheit beging.
Der jungen Ärztin, die sich Lenas angenommen hatte, hatte ich eine wilde Geschichte über einen Jungenstreich erzählt, bei dem Lena sich beinahe zu Tode erschreckt hatte. Während die Ärztin mit ungläubigem Ausdruck die Brille zurechtgerückt hatte, wäre ich vor Anspannung fast explodiert, weil Lena bloß in sich gekehrt auf der Krankenliege gelegen und keinen Piep von sich gegeben hatte.
»Stimmt das denn auch?«, hatte die Ärztin sie gefragt. »Auf den ersten Blick scheinst du körperlich zwar erschöpft, ansonsten aber recht fit zu sein. Nur dein Herzrhythmus macht mir Sorgen, das werden wir uns genauer anschauen. Ich kann mir nun wirklich nicht vorstellen, dass einem Mädchen in deinem Alter ohne auffällige Krankengeschichte wegen eines Dumme-Jungen-Streichs beinahe das Herz stehen bleibt.«
Während Lena stumm zur Zimmerdecke gestarrt hatte, hätte ich alles dafür gegeben, mit ihr den Platz tauschen und das, was ihr zugestoßen war, auf mich nehmen zu können, so schrecklich schuldig fühlte ich mich. Und nun zwang ich ihr auch noch eine Lüge auf. Als Lena endlich den Blick der Ärztin erwidert hatte, war ich kurz davor gewesen, die Wahrheit herauszuschreien, bloß um meinen inneren Druck loszuwerden.
»Klingt vielleicht bescheuert, aber es war genauso, wie Mila es gesagt hat. Hab mich einfach mordsmäßig erschreckt und bin umgekippt. Kann ich jetzt schlafen?« Dabei hatte sie so ernst und überzeugend dreingeblickt, dass die Ärztin nur genickt hatte.
Richtig schlimm war es mir noch einmal ergangen, als Lenas aufgelöste Eltern aufgetaucht waren. Bislang hatte ihre Tochter das Krankenhaus nämlich nur einmal von innen gesehen. Damals, als ihr Pferd Artemis ihr auf den Fuß gestiegen war. Ihnen jetzt Rede und Antwort zu stehen, wo Lenas Mama vor Schreck so blass war wie ein Gespenst, war die Hölle.
Das war vor einer Stunde gewesen und nun ging es auf Mitternacht zu. Mit jedem Klicken der Wanduhr am Ende des Ganges war meine Hoffnung, dass Sam noch auftauchen würde, kleiner geworden. Endlich ging die Tür zu Lenas Zimmer auf und ihre Eltern traten raus. Sie sahen zwar geschafft aus, aber zu meiner Erleichterung nicht mehr so aufgelöst. Schnell versteckte ich mich hinter einem der Sessel. Ich lauschte auf ihre Schritte und das Verklingen ihrer geflüsterten Worte, dann waren sie verschwunden. Voller Beklemmung trat ich in Lenas Zimmer. Ich hatte keine Ahnung, ob ich überhaupt noch willkommen war.
Lena lag kerzengerade ausgestreckt auf dem Rücken, obwohl ihre Beine unter der Decke wie von unsichtbarer Hand durchgeschüttelt wurden. Sich zusammenzukauern, war eben nicht ihr Ding. Mucksmäuschenstill stellte ich mich neben das Bett, bereit, alles hinzunehmen, was auf mich zukam.
»Eigentlich sollte man meinen, dass sie einem nach so ’nem Schrecken irgendwelche Opiate anbieten, aber Pusteblume. Dabei würde ich jetzt echt gern schlafen. Ich bin so was von erledigt.« Lena sprach mit geschlossenen Augen, aber als mir keine Erwiderung einfiel, schlug sie die Lider auf. »Wäre das jetzt nicht der richtige Moment, um mir zu sagen, dass ich die Sache bei den Wellenbrechern bloß geträumt habe, Mila?«
»Würde es dir denn helfen, wenn ich lüge?«
»Mir wäre es lieber, wenn du die Zeit zurückdrehen würdest. «
»Weißt du, Sam könnte das für dich tun. Ich meine, deine Erinnerung löschen. Die Schattenschwingen können so etwas. «
Lena sah mich lange aus ihren geröteten Augen an. »Klingt verführerisch, aber ich denke, ich verzichte darauf. Die Wahrheit ist nun mal die Wahrheit, und ich will sie akzeptieren, auch wenn sie mich gerade echt in den Wahnsinn treibt.«
Doch Lenas Körper sah das offenbar anders: Die Linie auf dem Monitor, an den sie angeschlossen war, begann aufgeregt zu hüpfen.
»Lena, ganz ruhig«, redete ich auf sie ein, wobei meine Stimme alles andere als entspannt war.
»Ja, super! Vielleicht verrätst du mir mal, wie man ruhig bleibt, wenn die eigene Welt auf den Kopf gestellt wird?«
Lena begann zu weinen. Als ich sie in die Arme nahm, ließ sie die Umarmung nicht bloß zu, sondern krallte sich regelrecht an mir fest.
Während ich sie festhielt, verschob sich etwas in mir: Ich vergaß meine eigene Angst, meine Sorge um Lena und auch das Verlangen, Sam jetzt an meiner Seite zu haben. All meine Empfindungen wichen beiseite und gaben den Blick frei auf die Tage seit Sams Rückkehr und den ganzen Wahnsinn, der in mein Leben eingezogen war. Und nicht nur in meins, sondern auch in das der Menschen, die mir nahestanden. In meiner Sehnsucht nach Sam hatte ich ignoriert, welche Folgen der Wechsel von Schattenschwingen in unsere Welt mit sich bringen konnte. Dass die Gefahr weit über den Schrecken, dass diese überhaupt existierten, hinausging. Die Schattenschwingen waren uns in vielerlei Hinsicht überlegen und nicht alle waren uns wohlgesonnen. Nachdem Sam meinetwegen seine Pforte aufgestoßen hatte, würden andere folgen. Solche wie Shirin und Ranuken, die sich anpassten, aber auch solche wie Nikolai, die keinen Sinn dafür hatten, was ihr Auftauchen für uns Menschen bedeutete. Und schlimmer noch: die Gaben einsetzten, gegen die wir Menschen nichts ausrichten konnten.
Wie ein Schmerz jagte die Erinnerung durch mich hindurch, wie die Berührung der engelsgleichen Schattenschwinge sich innerhalb eines Atemzugs in eine Heimsuchung gewandelt hatte. Und ich hatte nur zuschauen können. Nein, was durch die Pforten trat, waren nicht ausschließlich Freunde. Aber wenn die Schattenschwingen keine Freunde waren, dann stellten sie eine unabschätzbare Gefahr für uns Menschen dar – und nicht nur für solche, die mir nahestanden.