28

Ein Willkommensgruß

Sam

»Sitz nicht rum und blas Trübsal, sondern tu was!«

Das klang schon besser, eindeutig kraftvoller als die Male zuvor.

Einverstanden, es war eigenartig, in diesem beengten Wohnwagen auf mich selbst einzureden, nur leider blieb mir nichts anderes übrig. Die Alternative bestand darin, weiterhin in Selbstmitleid zu versinken und dann würde die von Mila verordnete Auszeit definitiv niemals enden. Mein Entschluss stand fest: Ich würde die Sache angehen. Und zwar mit Vollgas. Jetzt musste der Funke nur noch auf meine müden Glieder überspringen. Die zeigten sich allerdings nicht sonderlich beeindruckt von meinen Motivationsversuchen. Ich hockte wie angewachsen auf dem Bett.

»Na los, Sam. Bekomm endlich den Hintern hoch. Diese Selbstmitleidsnummer ist Mist. Wenn du diese Auszeit beenden willst, dann musst du dich zusammenreißen und Mila beweisen, dass es dir ernst ist mit dem Leben in St. Martin. Und dass du ab jetzt für immer in der Menschenwelt bleibst.«

Himmel, den letzten Satz hätte ich mir lieber schenken sollen. Die bloße Vorstellung, für immer in St. Martin zu sein, presste mir schier die Luft ab. Für immer Menschenwelt – absolutes Horrorszenario.

Da half nur eins: Ich musste mich auf Mila konzentrieren, musste das Ziel im Auge behalten. An ihrer Seite würde alles gut werden, darauf musste ich bauen. Für andere Dinge war kein Platz, Punkt und Schluss. Schon gar nicht für einen verzweifelten Miyamoto Asami, das ging einfach nicht. Ansonsten konnte ich mich gleich in der Mitte durchschneiden, schön der Länge nach. Eine Hälfte für Mila, eine Hälfte für die Sphäre … Wer zu viel will, bekommt oftmals gar nichts, oder?

Bevor ich noch weiteren mentalen Blödsinn verzapfen konnte, stieß ich mich vom Bett ab, schnappte mir einige Anziehsachen und sah zu, dass ich aus dem Wohnwagen rauskam. Auch wenn ich mit Asami gebrochen hatte, so musste das noch lange nicht für die Lektionen gelten, die er mir erteilt hatte. Handeln geht vor Reden. Richtig.

In diesem Moment klopfte Kastor laut und deutlich gegen meine mentale Tür. Großartig, er war meinetwegen also auch in die Menschenwelt gewechselt. Obwohl es mich fast umbrachte, ignorierte ich seinen Versuch, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich kam mir zwar wie ein Mistkerl vor, weil ich mich nicht von ihm verabschieden würde, aber ich sah keine andere Lösung. Wenn ich Kastor an mich ranließ, mich womöglich sogar mit ihm traf, war das Risiko zu groß, dass ich von meinem Vorhaben abkam. Ich hatte meine Entscheidung bereits getroffen: für Mila und gegen die Sphäre. Anders ging es einfach nicht.

Bevor ich mich in Richtung Stadt aufmachte, wobei ich Kastors Anklopfen mehr und mehr ausblendete, schlüpfte ich in ein Paar ausgetretene Chucks von Luca. Der Durchschnittsbürger von St. Martin trug Schuhe, ergo tat ich das auch, obwohl sie sich eher wie Betonklötze anfühlten. Nun, ich würde mich sicherlich wieder daran gewöhnen, der Weg zum ehemaligen Haus meiner Familie war nicht gerade kurz.

Irgendwie kam es mir richtig vor, bei meinem Neuanfang da anzusetzen, wo mein altes Leben aufgehört hatte: an dem Ort, an dem mein Vater mir geheimnisvolle Zeichen in den Unterarm geschnitten hatte, nachdem jemand ihn des Nachts dazu angestiftet hatte, während er sich in seinen Träumen herumwälzte. Das war meine erste Berührung mit der Sphäre gewesen und genau dort wollte ich auch von ihr Abschied nehmen.

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An diesem Vormittag lag die Straße verlassen da. Die Ferien waren vorbei, der Alltag war wieder in St. Martin eingezogen und das Wetter so trübe, dass nicht einmal die Rentner Lust auf einen Spaziergang hatten. Gut für mich, denn obwohl ich mir das Schild meiner Kappe tief ins Gesicht gezogen hatte, kam ich mir vor, als würde ständig ein großer roter Pfeil auf mich zeigen. Nachdem ich die Hauptstraße passiert hatte, ohne dass sich jemand nach mir umgedreht oder gar meinen Namen gerufen hatte, entspannte ich mich langsam. Das lief besser als vermutet. Warum auch nicht? Nach fast fünf Monaten hielt eben niemand mehr nach mir Ausschau. Selbst wenn, so hätte es nichts geändert – schließlich ging es ja darum, mich nicht länger zu verstecken.

»Ja, genau«, schimpfte ich leise vor mich hin. »In Wirklichkeit willst du dir eben doch noch ein Hintertürchen offen halten, weil du weiterhin hoffst, eine Lösung zu finden, bei der du gar nichts aufgeben musst. So geht das aber nicht, Bristol.«

Entschlossen zog ich den Ärmel meines Wollpullovers hoch, bis das breite Lederarmband freilag, unter dem sich die Narben verbargen. Wenn ich tatsächlich nicht zurück in die Sphäre wollte, dann brauchte ich es auch nicht mehr zu tragen. Also ab damit. Bevor ich allerdings auch nur die Schnüre öffnen konnte, baute sich eine kurvige Gestalt vor mir auf.

»Wahnsinn! Sam, das bist du ja wirklich!«

Zu laute Stimme, blonde Mähne, Schönheitsköniginnen-Make-up: Jette, Chris’ Freundin. Mist.

»Hi, Jette. Das ist ja ein Ding, dass ich ausgerechnet dir in die Arme laufe. Echt super. Wie geht’s?«

»Wie es geht? Die Frage ist doch wohl nicht dein Ernst. Mann, Sam! Ich kann es überhaupt nicht fassen, dass du es wirklich bist. Ich meine: Du bist doch tot.«

Ich zwang mich dazu, keine Grimasse zu schneiden. »Komisch, dabei fühl ich mich ganz lebendig. Das hätte mir jemand auch schon früher sagen können, dass ich tot bin, dann müsste ich hier jetzt nicht rumlaufen.«

Jette brach in ihr helles Lachen aus, das ihr zu Schulzeiten stets hundert Prozent Aufmerksamkeit garantiert hatte. Dabei warf sie den Kopf in den Nacken und hielt sich zum Ausgleich an mir fest. Nicht dass sie noch umfiel, klar. »Humor hast du auch entwickelt in den letzten Monaten«, ließ sie mich wissen, als es dann auch mal wieder gut war mit dem Lachen. »Und Muskeln. Wow.«

Ja, genauso hatte ich Jette in Erinnerung. »Was soll ich sagen? Ich muss dann mal weiter. Grüß Chris von mir.«

»Moment mal, du kannst mir doch nicht einfach weglaufen. «

Jette hielt mich entschlossen am Pulli fest. Zweifelsohne hatte sie nicht vor, so schnell von ihrer Beute abzulassen. An diesem tristen Montagvormittag war ich sicherlich mit Abstand das Interessanteste, was man aus dem Kaff hier rausholen konnte. Ihr Hofstaat würde begeistert sein über die sensationellen News: Samuel Bristol, auferstanden von den Toten. Obwohl in ihrer Version bestimmt sie die Hauptrolle spielen würde, das konnte ich von ihren glänzenden Augen ablesen. Mittlerweile nahm ich es Jette wirklich übel, dass sie mich entdeckt hatte. Ich hatte Besseres zu tun, als bei dieser Soap mitzuwirken.

»Jette, wenn du noch ein bisschen fester zupackst, reißt dir bestimmt ein Fingernagel ein. Davon abgesehen, dass mir diese Festhaltnummer gegen den Strich geht.«

»Warum bist du denn so eklig zu mir? Ich freue mich riesig, dich wiederzusehen, und du ziehst die totale Grabesmiene. Also echt.«

Nun schmollte sie – mich loslassen tat sie aber trotzdem nicht. Wo war Asami bloß mit seinem scharf geschliffenen Katana, wenn man ihn brauchte?

»Ich bin übrigens nicht mehr mit Chris zusammen«, klärte sie mich auf. »Ich mag zwar blond sein, aber ich kann mir so ungefähr vorstellen, was da so auf einer Rucksacktour abgeht. Der hätte mich ganz bestimmt von vorn bis hinten betrogen. Weiß doch jeder, wie ihr Jungs tickt. Da kann Chris noch so viel von Treue säuseln, ich glaube ihm kein Wort. Na ja, außerdem habe ich den Sommer über als Animateurin auf Ibiza gejobbt.«

Es gelang Jette tatsächlich, rot zu werden, als ihr ein paar von den Sachen, die sie auf der Königin der Partyinseln erlebt hatte, in den Kopf kamen. So abgebrüht war sie dann doch nicht, mir etwas über die nicht vorhandene Treue der Kerle zu erzählen, während sie selbst … Ich schaute auf meine abgetretenen Chucks. Manchmal empfand ich es wirklich als Fluch, die inneren Vorgänge der Menschen zu leicht zu erkennen. Wer zum Teufel wollte das alles schon wissen?

Wenigstens war Jette wieder bei ihrem Lieblingsthema – sie selbst – angekommen und ich nutzte die Gelegenheit, sie weiter abzulenken. »Und was machst du jetzt, wo die Schule und der Sommer vorbei sind?«

Das war offensichtlich keine gute Frage gewesen, denn Jette zuckte zusammen, was sie jedoch sogleich mit einem Lächeln zu kaschieren versuchte. »Ach, da gibt es so viele Möglichkeiten, dass ich noch gar keine Lust habe, mich festzulegen. Vielleicht geh ich erst mal etwas Großstadtluft schnappen, so in London oder Barcelona. Oder ich mach irgendwas Cooles, aber woanders. Ich will doch nicht in diesem Kuhkaff hier hängen bleiben. Ist viel zu muffig hier, da passiert doch nie was.«

»Wie, du hältst St. Martin etwa nicht für das perfekte Sprungbrett in deine große Zukunft?« Leider konnte ich mir diesen Kommentar nicht verkneifen. Das ganze Gerede war doch nur Show. In Wirklichkeit hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte, aber bei ihr musste ja trotzdem alles besonders abgefahren daherkommen. »Ich trete gerade auf der Stelle« – so was gestanden möglicherweise andere Leute ein, aber Jette hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Die Menschheit wartete quasi nur darauf, dass sie endlich durchstartete. Diese Haltung nervte vielleicht. »Wie auch immer«, hängte ich hintenan, »jetzt bist du aber erst einmal in St. Martin anstatt in der großen weiten Welt.«

Der Spott in meiner Stimme sorgte dafür, dass Jette die angemalten Augen zusammenkniff, als wolle sie mich genauer unter die Lupe nehmen. »Genau wie du«, sagte sie kühl. »Was ist denn an St. Martin so toll, dass du wieder aufschlägst? Wohl nicht etwa Rufus’ kleine Schwester mit den Rehkitzaugen?«

Womit wir beim Thema wären. Obwohl das Jette so was von gar nichts anging. »Was soll ich sagen: Ich habe es einfach nicht länger ohne Mila ausgehalten! Sie ist meine große Liebe, ich kann nicht ohne sie sein.« Ich hob theatralisch die Hände in die Luft, um die alberne Note auf die Spitze zu treiben.

»Nun mach mal einen Punkt.« Mein Schauspiel war allem Anschein nach nicht sonderlich nach Jettes Geschmack, wie ihre rapide sinkenden Mundwinkel bewiesen. Wenigstens ließ sie mich endlich los. Danke! »Du bist also abgehauen, obwohl alle Welt nach dir gesucht hat, und jetzt bist du wegen dem Bambi mit diesem ätzenden Kurzhaarschnitt zurück? Ich glaub dir kein Wort.«

»Du hast recht. Eigentlich geht es mir nur darum, Geld aus der Story rauszuschlagen. Kennst du jemanden beim Wochenblatt, an den ich meine Geschichte verticken kann, bevor ich erneut aufbreche, um woanders tolle Sachen zu machen?«

Nachdenklich knabberte Jette an ihrer Unterlippe, dann entschied sie sich für einen Kurswechsel. »Weißt du schon, wo du heute Nacht schläfst?«

Diese Frage erwischte mich nun trotz meiner Fähigkeit, ihre Gedanken zu lesen, kalt. Wer kam auch schon mit solchen abrupten Themenwechseln klar? Ich stand da wie belämmert, während Jettes Zeigefinger über meine Brust strich.

»So eine Rückkehr muss doch gefeiert werden …«

Das war der Augenblick, in dem ich in ihre Erinnerung eingriff, schlicht, weil ich mich komplett überfordert fühlte. Nicht besonders heldenhaft und ganz bestimmt nicht okay, aber gegen diese Frau kam ich nicht anders an. Es war leicht, wenn auch gerade nicht angenehm, weil ich dabei einiges von dem mitbekam, was ihr so an Gedanken kamen. Das kleine Biest. Ja, ich musste sie unbedingt dazu bringen, sich endlich zu verabschieden.

Jette schüttelte den Kopf, als wolle sie einen lästigen Gedanken verscheuchen. Dabei verfestigte sich gerade ein neuer, den ich ihr eingepflanzt hatte. »Du, das ist jetzt zwar blöd, aber ich muss sofort los. Da war ein Job-Aushang in dieser coolen Boutique in der Strandstraße. Nicht dass ich Geld brauchen würde, ich find nur deren Klamotten super. Das wäre auch nur so zur Überbrückung, ich will ganz bestimmt nicht Verkäuferin werden. Trotzdem sollte ich zusehen, dass ich da aufschlage, bevor sich eine andere den Job schnappt. Hier, ich gebe dir meine Nummer.« Sie kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche hervor, auf dem bereits eine Ziffernreihe draufstand. Sah ganz danach aus, als wäre sie hervorragend für den Fall der Fälle ausgerüstet. »Ruf mich später an, dann können wir für heute Abend was ausmachen. Wenn es gut läuft, können wir sogar auf meinen neuen Job anstoßen. Du weißt schon, was ich meine.«

Bevor ich mich versah, hatte Jette mir einen innigen Kuss auf die Lippen gedrückt, dann stürmte sie mit wehenden Haaren davon, als rechnete sie fest damit, ich würde sie ansonsten zum Bleiben zwingen.

Einen Moment lang stand ich kopfschüttelnd da, weil ich einfach nicht dahinterkam, woher Jette bloß ihr Selbstvertrauen nahm. Ein klasse Aussehen in allen Ehren, aber dachte sie wirklich, dass das über ihre Egotour hinwegzusehen half? Bei Chris zweifelsohne, für den war sie die reinste Trophäe gewesen. Okay, je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Kerle fielen mir ein, die an Jettes Art ziemlich viel Vergnügen gehabt hätten. Das änderte jedoch nichts daran, dass mich ihre dreiste Anmache komplett abtörnte. Da war Mila ganz anders gewesen: auf ihre Art zwar selbstbewusst, aber dabei stets im harmonischen Zusammenspiel mit mir, weil meine Reaktionen ihr wichtig gewesen waren. Oder weil die Chemie einfach gestimmt hatte. Warum formulierte ich das alles bloß in der Vergangenheitsform? Als wäre es endgültig vorbei und nicht nur eine Auszeit, die ich möglichst kurz halten würde …

In Gedanken versunken, wollte ich den Ärmel über das Lederarmband schieben, als mir etwas einfiel. Vorsichtig holte ich den Bernsteinring unter dem eng anliegenden Leder hervor und betrachtete ihn. Warm und lebendig fühlte der Bernstein sich an, ganz anders als das feste Material, aus dem Shirins Armreifen waren. Die Beziehung, für die dieser Bernstein stand, war noch lange kein Zeugnis der Vergangenheit, seine Form noch nicht erstarrt. Was aus Mila und mir werden würde, lag in unserer Hand. Ich musste schmunzeln. »Daran musst du mich immer aufs Neue erinnern«, flüsterte ich ihm zu, ehe ich ihn an meinen Ringfinger steckte. Genau da gehörte er hin. Zumindest eine Sache war großartig, wenn es um ein Leben in St. Martin ging: Den Ring würde ich offen tragen können, genau wie ich meine Gefühle für Mila zeigen durfte … sobald sie mich wieder bei sich haben wollte. Wie aufs Stichwort lief ich die Straße hoch, um genau diesen Prozess zu beschleunigen. Je eher ich einen Schlussstrich unter die Sphäre zog, desto besser.