18
Aus Asche
Sam
Mag sein, dass es kindisch war. Aber während wir über den Dünenkamm zurück ans Meer schlenderten, musste ich Milas linke Hand immer wieder anheben und auf den schmalen, wie heller Honig schimmernden Ring sehen. Ich war mir nicht sicher, ob es an der Magie des Rings oder schlicht an mir lag, nur fühlte ich ihre Nähe jetzt um ein Vielfaches stärker. Dabei gefiel mir die Vorstellung, sie intensiver wahrzunehmen, weil sie sich zu mir bekannt hatte, eindeutig besser. Dieses Gefühl sollte nur uns gehören und nicht auf magische Tricks zurückzuführen sein. Danach sah es jedoch nicht aus, denn der Ring fühlte sich genauso harmlos an, wie Nikolai vorausgesagt hatte.
Als wir die Anhöhe erreicht hatten, bot sich uns ein überraschend friedlicher Anblick: Ranuken, Lena und Rufus saßen Karten spielend beim heruntergebrannten Lagerfeuer. Der Wind hatte sich mit Einbruch der Dunkelheit gelegt und selbst das Meeresgetöse klang sanfter.
»Glaubst du, sie haben uns was zu essen übrig gelassen?« Mila leckte sich über die Lippen.
Ich tat dasselbe, das aber wegen ihres Maiglöckchendufts. Zum Anbeißen. »Ich würde mir nicht allzu große Hoffnungen machen. Das Kräfteverhältnis stand zwei zu eins. Einen von den Fresssäcken hätte Lena wahrscheinlich in Schach halten können, aber beide gleichzeitig?« Milas Mundwinkel senkten sich. »Hat aber auch was Gutes: Wenn Ranuken und Rufus pappsatt sind, nerven sie uns vielleicht nicht mit dummen Sprüchen.«
Ranuken sichtete uns als Erster und machte diese Hoffnung sogleich zunichte. »Schaut mal, wer da kommt! Unser Liebespaar. Garantiert von oben bis unten einpaniert vom Rumgewälze zwischen den Dünen.«
Sofort drehte Rufus sich um und musterte uns mit zu Schlitzen verengten Augen. Was er zu sehen bekam, stimmte ihn offenbar gnädig, denn seine Schultern lockerten sich sichtbar. Als wir uns jedoch auf die Decke setzten und der Ring an meiner Hand die Restglut des Lagerfeuers reflektierte, zuckten sie erneut nach oben. »Wo kommt denn das gute Stück ganz plötzlich her?«
»Ich trage auch einen.« Mila zeigte stolz ihre linke Hand vor, als habe sie den scharfen Ton in der Stimme ihres Bruders gar nicht bemerkt.
Lena beugte sich neugierig vor. »Mensch, ist das so eine Verlobungskiste? Wie kitschig.« Augenblicklich zog Mila die Hand zurück. »Nun sei doch nicht so empfindlich, lass mich gucken. Der Ring ist wunderschön. Aus was für einem Material ist der?«
»Das ist Bernstein«, sagte Ranuken mit schockgefrorener Miene. Mist, ich hatte Nikolais Warnung völlig vergessen. Wenn man in der Sphäre lebte, stand man altem Schmuck aus Bernstein nicht unbedingt aufgeschlossen gegenüber. Selbst wenn er noch so harmlos war. »Das sind Bindungsringe. Sam, du weißt schon, wofür die stehen und vor allem, was sie können? Du kennst doch Shirins Ringe ums Handgelenk, die sie als Skla-«
»Das ist was vollkommen anderes«, unterbrach ich ihn barsch. Der Vergleich war ein echter Schlag in die Magengrube. Von den breiten Reifen um Shirins Handgelenke ging eine unselige Energie aus. Sie dienten dazu, sie an eine längst verschwundene Macht zu ketten: die Macht des Schattens. Damit hatten unsere Ringe nichts zu tun. Wenn ihnen etwas Negatives innewohnen würde, dann hätte ich das gespürt. »Diese Ringe weisen eine Liebesbindung aus, nicht mehr und nicht weniger. Es hat auch nichts mit Verlobung oder so zu tun. Es ist ganz allein etwas zwischen Mila und mir.«
»Dafür stechen einem die Ringe aber ganz schön ins Auge.« Rufus’ Schlitze verengten sich weiter, was ihn ausgesprochen angriffslustig aussehen ließ. Einen Tick zu heftig legte er die Karten aus der Hand. »Als wolltet ihr uns geradezu auf die Nase binden, dass ihr zusammengehört. Unser Super-Pärchen. «
War ja klar, dass Rufus nachlegen musste. Dabei hatte er seine Eifersucht in den letzten Tagen so gut im Griff gehabt, dass ich das Thema eigentlich schon vom Tisch geglaubt hatte. Genervt sammelte ich die Karten ein, die er hingeschmissen hatte. »Lass das alberne Geschmolle. Wenn du willst, schenk ich dir auch einen Ring. Da steht dann mit großen Lettern drauf: Rufus ist mein bester Freund.«
Der Spruch kam nicht an. Anstelle einer Antwort hielt Rufus mir lediglich seinen ausgestreckten Mittelfinger hin. Auch gut.
Die beiden Mädchen kümmerten sich nicht weiter um uns, sondern steckten die Köpfe zusammen. Ranuken rutschte dicht an sie heran, beziehungsweise möglichst weit weg von Rufus und mir, als würde er befürchten, die Luft um uns herum könnte sich plötzlich entzünden. Der Typ hatte wirklich einen guten Instinkt.
»Kitschig, aber schön kitschig. Also schön. Alles klar?«, schnappte ich Lenas Versicherung auf. Dann flüsterten die beiden Mädchen aufgeregt miteinander, und Mila kam mir dabei sehr jung vor. Jung, aber süß jung. Also süß, um es mit Lena zu sagen.
Rufus hingegen ließ sich nicht ablenken. »Du kannst manchmal ein richtiges Arschloch sein«, klärte er mich auf.
»Und ich dachte immer, das wäre dein Job.« Trotz meines Gegenangriffs verlor ich bereits die Lust an unserem Streit. »Komm, lass gut sein«, sagte ich, als Rufus mit rotem Gesicht nach Luft schnappte. »Das ist doch Blödsinn, dass wir uns zoffen. Worum geht es eigentlich?«
Es kochte ganz mächtig in Rufus, aber wenn ich mich nicht irrte, war es eine alte Kiste, die gerade noch einmal hochkam. Okay, dann müssen wir hier wohl durch, dachte ich und zwang mich, nicht allzu genervt zu wirken.
»Darum, dass ich hier der Arsch bin und du der Engel. Was glaubst du, dass ich mich bloß im Schein deiner Aura sonne und sonst nix draufhabe?«
»Himmel, Rufus! Geht’s einen Level leiser?«, knurrte ich ihn an.
Wie auf Kommando schielten wir beide zu Lena rüber, die aber immer noch in ihr hoch vertrauliches Gespräch mit Mila verstrickt war. Nur Ranuken legte den Finger über die Lippen und sah uns strafend an. Rufus hob beschwichtigend die Hand und redete dann im Flüsterton weiter.
»Ich habe die ganze Du-weißt-schon-Geschichte geschluckt, ohne Probleme zu machen, habe mir den Kopf zerbrochen, wie wir das mit deiner Rückkehr anstellen … Ich meine, ich habe mir doch wohl Respekt verdient. Ich bin vielleicht kein fliegendes Rotkehlchen wie der da drüben …«
»Hey, ich kann dich hören, du Pfeife!«
»… aber deshalb bin ich kein Stück schlechter«, schloss Rufus.
Es war ihm anzusehen, wie ernst es ihm war. Auf der einen Seite war sein Ego größer als China, auf der anderen Seite war die Luft bei ihm bisweilen schneller raus, als ich »Superman« sagen konnte.
»Du bist klasse, Rufus, echt wahr«, versuchte ich ihn zu besänftigen. »Es wundert mich bloß, dass ich dir das bestätigen muss. Es ist, wie du sagst: Kaum jemand anderes hätte das so locker weggesteckt. Die hätten alle an ihrem Verstand gezweifelt oder wären schlichtweg ausgeflippt.«
Zum Glück kam Rufus mit jedem meiner Worte ein Stück weiter runter. »Stell dir mal Lena vor, wenn die dich auf der Klippe live, voller Blutspritzer und mit sperrangelweit geöffneten Schwingen erlebt hätte. Gestatten: Samuel Bristol, Racheengel . Bei der hättest du den großen Radiergummi schwingen müssen, die wäre nämlich nicht damit klargekommen.«
»Meinst du?«
Nachdenklich musterte ich Milas beste Freundin, die spätestens auf der Rückfahrt eine Erklärung von mir einfordern würde. Ich hatte lange darüber nachgedacht, was ich ihr erzählen sollte, denn die Geschichte würde ich später halb St. Martin gegenüber zum Besten geben müssen. Nur widerstrebte es mir zutiefst, mir eine Lüge auszudenken.
Ich war so abgelenkt, dass ich erst mitbekam, wie die Glutreste des Lagerfeuers auseinanderstoben, als das Geschehen bereits voll im Gange war. Der Funkenregen sprengte in den Nachthimmel, fortgeschleudert von einer Explosion im Herzen des Feuers. Unter dem enormen Druck zerfiel das schwarz verkohlte Holz in feine Partikel und stieg als dichte Wolke auf.
Hinter mir stieß Lena einen heiseren Schrei aus, unterstützt von Ranukens Flüchen. Mit einem Sprung war ich auf den Beinen und griff instinktiv an meine Seite. Doch leider fand meine Hand dort keinen Schwertgriff. Schließlich war ich zu keiner Zeit davon ausgegangen, in der Menschenwelt ein Katana zu benötigen.
Die Aschewolke verteilte sich in Zeitlupe, schwebte durch die Luft, hielt unnatürlich lange ihre Form. In ihr zeichnete sich ein Schatten ab, aber sein Umriss verbarg sich noch in der Dunkelheit.
»Das ist Kastor!«, rief Ranuken aufgeregt. »Ihm gehört das Feuer.«
»Das ist nicht Kastor.«
Ich konnte nicht sagen, woher ich das wusste, aber ich war mir absolut sicher. Kastor fühlte sich anders an, nicht so seltsam vertraut. Die Schattenschwinge, die gerade von der Sphäre in die Menschenwelt eintrat, hatte meine Aura berührt. Auch wenn sich die Berührung nicht falsch angefühlt hatte, so war mir damit offenbar ein Siegel aufgedrückt worden, auf das ich nun reagierte. Darüber würde ich mir später Gedanken machen müssen.
Obwohl ich Lena einige Schritte hinter mir wusste, ließ ich meine Aura aufleuchten, um meine Vermutung zu bestätigen, wer da in die Menschenwelt wechselte. Der Schatten inmitten der Asche nahm eine menschliche Gestalt an, dann breitete er auch schon seine Schwingen aus und stieß sich mit einem kräftigen Satz empor. Dabei leuchtete seine Aura wie ein Diamant auf, sodass ich für einen Moment nichts als blendendes Licht sah.
Hastig schlug ich die Hände vor die Augen, während das Aufkeuchen der anderen mir verriet, dass sie ebenfalls geblendet waren. Nur war ich im Gegensatz zu ihnen der Einzige, der wusste, mit wem wir es zu tun hatten.
Ich atmete tief ein, dann zog ich die Hände weg. »Nikolai, was hast du hier zu suchen?«
So, wie er mit seinen hellen Schwingen den Nachthimmel erleuchtete, sah er mehr denn je wie das perfekte Abbild eines Engels aus. Die feinen Gesichtszüge, die schmalen, geschmeidigen Glieder, das Goldhaar. Wären da nicht die grauen statt der babyblauen Augen gewesen, die seine Pforte verrieten. Und die Ascheschicht, die seine ansonsten makellose Haut und Kleidung bedeckte. Im Gegensatz zu unserem letzten Treffen trug Nikolai ein besticktes Hemd, das ihm bis zu den Oberschenkeln reichte, und eine Lederhose.
»Ich wollte dich sehen. Ich wollte sie sehen.« Nikolai deutete auf Mila, die ihn aus tränenden Augen heraus ungläubig anblinzelte. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, das bei Milas Anblick allein mir zustand. »Es ist gut, dass du sie mit dem Geschenk an dich gebunden hast. Wir alle brauchen etwas, dass uns im Sturm der Ewigkeit hält.«
Hör endlich auf, Mila anzustarren, hätte ich ihn am liebsten angebrüllt. Aber ich beherrschte mich. Es gab im Moment Wichtigeres als Nikolais Faszination für meine Freundin. Lena zum Beispiel, die leise wimmerte.
»Komm runter, Nikolai. Es ist noch ausreichend Asche vorhanden, durch die du zurück in die Sphäre wechseln kannst. Und zwar sofort. Du hast mit deinem Erscheinen bereits genug Schaden angerichtet.«
Auf seinem Gesicht zeichnete sich reines Unverständnis ab. »Schaden? Ich wollte keinen Schaden anrichten. Ich wollte sie sehen, bei ihr sein, aber ich wollte ihr ganz bestimmt keine Angst einjagen. Die Stimme in meinem Kopf… Ich war mir ganz sicher, dass an meinem Wechsel nichts verkehrt ist.«
Es brauchte nicht mehr als einen Flügelschlag und Nikolai stieg hinab zur Erde. Langsam, als wandelte er durch die Luft. Kaum dass er den Boden berührte, zog er die Schwingen ein. Trotzdem sah er nicht einen Deut weniger überirdisch aus.
»Sam.« Milas Stimme war die Anstrengung, gelassen zu klingen, anzuhören. »Mach, dass er geht. Das ist zu viel auf einmal für Lena.«
Ich warf einen Blick über die Schulter. Lena saß mit geweiteten Augen da, ihr Kinn bebte und ihre Nasenflügel bebten wie Schmetterlingsflügel. Es brauchte nicht mehr viel und sie würde hyperventilieren. Als ich mich umdrehen und mir Nikolai vornehmen wollte, schritt er gerade an mir vorbei, Lena fest im Blick.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten.« Der warme Ton in Nikolais Stimme sorgte tatsächlich dafür, dass Lenas Atem stockte und dann merklich ruhiger wurde. Trotzdem packte ich ihn am Arm.
Er drehte sich zu mir um. »Samuel, ich bin nicht erschienen, um Kummer zu verursachen. Lass es mich wiedergutmachen. Du weißt, wie begabt ich darin bin. Ich werde die Ängste dieses Mädchens wegwischen, damit sie erkennen kann, was wir wirklich sind.«
»Der Kerl wird gar nichts bei Lena wegwischen!« Rufus war aufgesprungen und schneller bei uns, als ich blinzeln konnte. Bedrohlich baute er sich vor Nikolai auf, der verblüfft den Kopf einzog.
»Er kann unmöglich echt sein. Unmöglich. Das gibt es nicht. Nein. Eine Täuschung, unecht.« Sobald Nikolai nicht mehr auf sie einredete, gingen Lenas Nerven wieder mit ihr durch.
»Hör mal zu, du Möchtegern-Erscheinung, du kannst nicht einfach jemandes Erinnerungen wegwischen. Was bildest du dir eigentlich ein?«
Man sah Rufus an, dass er kurz davor war, Nikolai einen Schlag vor die Brust zu versetzen. Offensichtlich hatte er nicht vergessen, wie sehr es ihm zugesetzt hatte, als ich ihm seine Erinnerung gelöscht hatte. Wenn er wirklich die Beherrschung verlor, dann war ihm der sichtlich irritierte Nikolai kaum gewachsen. Oder im Zweifelsfall eben doch. Rasch drängte ich mich dazwischen, obwohl Mila mich zu sich rüberwinkte. Lenas Redetempo beschleunigte sich nämlich fast noch mehr als ihr Atem. Wirr stammelte sie vor sich hin und sah zugleich aus, als bliebe ihr fast die Luft weg. Mit unserer Einschätzung, dass jemand wie sie mit dem Einbruch des Unwirklichen in ihr Leben schwer zurechtkommen würde, hatten wir zweifelsohne richtig gelegen. Als Ranuken sich ihr vorsichtig näherte, um sich wie ein Schild vor sie zu schieben, damit sie den weiterhin hell leuchtenden Nikolai nicht länger anstarrte, schrie sie panisch auf und schlug blindlings nach ihm.
»Gar nicht gut«, flüsterte ich, dann sagte ich laut, an Rufus gewandt: »Hör jetzt auf damit. Dieses Theater macht nur alles schlimmer. Ich muss zu Lena rüber, also reiß dich gefälligst zusammen.«
Doch Rufus hatte nicht vor, mich gehen zu lassen. »Du wirst ihr nicht die Erinnerung rauben. Es ist grausam, wenn einem ein Stück von sich selbst verloren geht.«
»Das ist doch gar nicht nötig«, mischte Nikolai sich ein. Er hatte ein bezauberndes Lächeln aufgesetzt, allerdings waren in diesem Augenblick weder Rufus noch ich empfänglich dafür. »Warum die Erinnerung nehmen, wenn man bloß die Angst in ein gutes Gefühl zu verwandeln braucht? Wenn man Licht dorthin bringt, wo Schatten ist. So wie ich es bei dir auf dem Eiland getan habe, Samuel.«
»Aus Schwarz mach Weiß.« Die Losung kam mir über die Lippen, ohne dass ich sie verstand. Wie ein vergessenes Geheimnis, das sich mir unmittelbar offenbarte. »Hilf ihr.«
Nikolais Lächeln wurde breiter, dann wandte er sich Lena zu, die mittlerweile lautstark nach Luft schnappte, wobei sie nicht aufhörte, ihre Überforderung in Worte zu fassen. Allerdings wich sie nicht zurück, als er sich vor ihr niederließ.
»Du vertraust diesem Kerl, obwohl er für Lenas Panikattacke verantwortlich ist?«, fragte Rufus mich gereizt.
»Nikolai ist nicht gefährlich, er hat die Wirkung seines Wechsels nur falsch eingeschätzt. Er kann Lena helfen, das hat er auch bei mir gemacht. Außerdem vertraut Kastor ihm. Geben wir ihm also eine Chance, es wieder gutzumachen.«
Zögernd rutschte Ranuken beiseite, um Nikolai Platz zu machen, während Mila sich weigerte, ihrer Freundin von der Seite zu weichen. »Du darfst ihr nur die Angst nehmen, nicht mehr«, forderte sie. Dabei sah sie ihn eindringlich an.
Anstelle einer Antwort ließ Nikolai seine Aura aufflammen und ich spürte ihre sanfte Wärme, obwohl ich einige Schritte von ihm entfernt stand. Die Reste meiner Sorge, er könnte Lena mehr schaden als helfen, wurden weggefegt. Ich hörte sie wohlig seufzen und entspannte gerade meine Schultern, als sich abrupt etwas veränderte. Das lag weniger an Nikolai als an Mila, die ihn unverwandt ansah, mit einem Blick, als würde sie nicht den blonden Jungen vor sich sehen, sondern hinter seine Fassade blicken. Unter diesem Blick begann Nikolais Aura einen anderen Charakter anzunehmen. War sie eben noch angenehm und weich gewesen, so stach sie jetzt kalt. Panik stieg in meiner Kehle hoch.
Ich hatte einen Fehler gemacht!
Schreiend stürzte ich vor, aber als ich Nikolai packen wollte, prallte ich gegen ein Netz aus Eissplittern. So scharf fühlte sich die Berührung jedenfalls an. Ich starrte auf meine Hände, in denen ich einen schneidenden Schmerz fühlte, obwohl sie nicht bluteten.
»Was geschieht mit Lena? Eben war doch alles gut.« Ranuken wirkte mindestens genauso entsetzt wie ich.
Lenas Gesicht war aschfahl, ihre Züge verzerrt, während ihr Mund zu einem Oh erstarrt war. Einzig ihre Finger bewegten sich. Sie krallten sich krampfartig in ihren Pulli. Es sah aus, als hätte der Schock ihre Lebensfunktionen gelähmt, als hätten sowohl ihre Lungen als auch ihr Herz die Arbeit eingestellt. In der Sekunde, in der Mila den Blick von Nikolai wandte und den Zustand ihrer Freundin bemerkte, erlosch Nikolais Aura. Mit aller Kraft riss ich ihn von Lena fort und schleuderte ihn beiseite. Wie eine Katze kam er sofort wieder auf die Beine und schaute sich verwirrt um.
»Was ist passiert?« Seine Lider flackerten und ehe ich mich ihm nähern konnte, hatte er seine Schwingen geöffnet und war aufgestiegen. »Das war ich nicht! Ich wollte es gutmachen, dem Mädchen ein schönes Gefühl schenken, und dann …«
Ich wartete Nikolais Erklärung nicht ab, sondern zerrte das Basketball-Shirt über meinen Kopf. Meine Schwingen, die unter meiner Haut pulsiert hatten, brachen hervor.
Ich fing Nikolai mitten im Flug ab. So hart ich konnte, packte ich ihn und zog ihn mit mir aufs offene Meer. So weit hinaus, dass die Küste hinter dem Horizont verschwand. Ich konzentrierte mich auf Ranuken, der mich bereitwillig in seine Gedanken eintreten ließ. Ihr Herz schlägt wieder, ich kann es spüren! Sie wird es schaffen … irgendwie.
Auf Nikolais Zügen spiegelte sich reine Fassungslosigkeit und Verwirrung. »Samuel …«, setzte er stockend an.
Mir war es jedoch gleichgültig, was er zu sagen hatte. »Es war ein Fehler, dir zu vertrauen.«
Die grauen Augen blickten nicht länger verzweifelt, sondern wütend. Nikolai hatte Ähnlichkeit mit einem Hund, den man in die Ecke gedrängt hat. »Wenn du das glaubst, dann weißt du gar nichts. Ich sage dir doch, ich war das nicht. Du weißt nichts, gar nichts über das, was gerade passiert ist.«
»Das musste ich mir in der letzten Zeit schon häufiger anhören. Ich weiß nicht viel, einverstanden. Aber eins weiß ich ganz genau: dass du jetzt baden gehst, Nikolai.«
Vollkommen außer sich versuchte er sich aus meinem Griff zu winden, doch damit hatte ich gerechnet. Kurz spürte ich noch dem Wind für den optimalen Winkel nach, dann setzte ich mit einem um sich schlagenden Nikolai zum Sinkflug an. Als ich den Wasserspiegel berührte, flammten die Zeichen in meinem Unterarm schmerzhaft auf und für einen Herzschlag glaubte ich mich wieder in dem Kokon gefangen. Abgeschnitten von mir selbst und von der Welt. Dann zerstob das Gefühl auch schon und die Sphäre hieß mich willkommen, während Mila in einer anderen Welt wahrscheinlich gerade ihre bewusstlose Freundin im Arm hielt.