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Beschattetes Haus

Das Haus, aus dem die Mitglieder meiner Familie – eins nach dem anderen – geflohen waren, bis nur noch mein Vater und sein Wahnsinn zurückgeblieben waren, sah genau so schäbig und verlassen aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Seitdem Jonas’ Aufenthalt in der Psychiatrie auf unbegrenzte Zeit verlängert worden war, hatte sich niemand weiter um das Haus gekümmert. Es hätte mich auch schwer gewundert, wenn Sina mit ihrer Familie eingezogen wäre. Ihre kleine Wohnung war zweifelsohne ein besseres Zuhause für die zwei Kinder als dieser düstere Ort, an dem man auch ohne übersinnliche Begabung die Nachwirkungen der schlimmen Geschehnisse, die sich hier abgespielt hatten, wahrnahm.

Unschlüssig blieb ich vor der offen stehenden Gartenpforte stehen. Kein Mensch war zu sehen, aus den umliegenden Häusern drang ein Mix aus Radiogedudel und den überdrehten Stimmen aus irgendwelchen Talkshows. Bislang hatte mich nur einer aus der Nachbarschaft wiedererkannt, und das war Kramers Bullterrier-Mischling gewesen, der freudig kläffend gegen seinen Zwinger gesprungen war. Obwohl mir keineswegs der Sinn danach stand, schaute ich mich um. Die ganze Straße machte nicht viel her, lauter heruntergewohnte Bauten mit einem Streifen Grün drumherum, der mal mehr, mal weniger gepflegt aussah.

Unser Garten bestand nur aus Rasen, oder viel mehr aus Moos. Früher hatte meine Mutter ein paar Blumenbeete gehabt, doch die waren schon längst zugewuchert. Einmal hatte ich begonnen, sie wieder freizulegen, aber Jonas hatte mir mit ein paar kräftigen Ohrfeigen deutlich gemacht, dass er nicht viel von solchen Sentimentalitäten hielt. Sogar der Apfelbaum – ein hübsches kleines Ding, dessen Früchte ich in der Regel bereits im halb reifen Zustand aß, einfach weil es so großartig war, etwas im eigenen Garten zu ernten – war einem Wutanfall meines Vaters zum Opfer gefallen, als gerade niemand anderes greifbar gewesen war. Die Axt, die er dafür verwendet hatte, hatte ich noch am Abend im Meer verschwinden lassen. Halb aus Rache, halb aus Furcht, er könnte sie ansonsten eines Tages gegen mich einsetzen. Jonas’ Wahnsinn hatte nicht erst eingesetzt, als er mir die Zeichen in den Arm geritzt hatte. In dieser Hinsicht war ich mir sicher.

Alles an dem Haus sah so aus wie immer, einmal davon abgesehen, dass in roter Schrift »Mörder« quer über die Eingangstür gesprayt stand und das Küchenfenster eingeworfen war. Irgendjemand hatte daraufhin von außen eine Folie über das Loch geklebt, die ich jetzt ablöste. Dann stieg ich ein, was angesichts der im Rahmen steckenden Glassplitter nicht gerade einfach war. Als ich in der Küche stand und meine schmutzigen Hände an der Jeans abwischte, stieg mir ein beißender Geruch in die Nase. Offenbar hatte bereits jemand anders den Weg durch das Fenster genommen und sich an der Einrichtung ausgetobt. Die Schubladen des Küchenschranks waren herausgerissen und der Inhalt über den Fußboden verteilt. Genau wie die wenigen Dinge, die der Kühlschrank hergegeben hatte. Die angetrocknete Lache mit den schwarzen Klumpen, die den Boden bedeckte, war dem zerbrochenen Glas nach zu urteilen Carbonarasoße gewesen. Na, mal gut, dass das alles bereits hart geworden war, wobei es auch so noch scheußlich stank. Den Bier- und Schnapsvorrat, den Jonas stets im Kühlschrank aufbewahrte, hatten die Besucher freundlicherweise nicht gegen die Wände geschmissen, sondern kurzerhand mitgenommen. Genau wie den Fernseher, wie ich beim Gang durch das Wohnzimmer feststellte. Wer auch immer sich das alte Ding unter den Nagel gerissen hatte, ich wünschte ihm viel Spaß damit.

Während ich die Treppe hochstieg, konnte ich weitere Schmierereien an den Wänden lesen. »Kinderquäler« und »Mögest du in der Hölle schmoren, du Schwein« waren noch die harmloseren Verwünschungen. Welche Befriedigung mochten diese Verunglimpfungen den Leuten wohl bringen, die sich fünfzehn Jahre lang nicht darum geschert hatten, dass Jonas Bristol seine Familie rund um die Uhr tyrannisierte?

Als ich im oberen Flur ankam, wusste ich nicht, in welches Zimmer ich zuerst gehen sollte. In mein altes Zimmer, das Badezimmer oder in den Raum, in dem Jonas geschlafen hatte … das war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Ich wollte hier nicht sein.

Meine Vergangenheit als Sam Bristol, der in diesem verrotteten Haus aufgewachsen war, hatte ich mit meinem Eintritt in die Sphäre hinter mir gelassen. In den letzten Monaten hatte ich kaum einen Gedanken an meine Zeit in diesem Haus verschwendet. Fast war es mir so vorgekommen, als würde all dies zu einem anderen Jungen gehören. Und nun stand ich da mit flatterndem Puls und rechnete fest damit, jeden Augenblick das zornige Schnauben meines Vaters zu hören. Bevor mich die Erinnerung vollends in ihren Bann schlug, entschied ich mich für den am wenigsten erdrückend wirkenden Raum: mein altes Zimmer. Seit das Jugendamt mich in Verwahrung genommen und direkt an Sina übergeben hatte, war ich nicht mehr hier gewesen.

Während ich mit der einen Hand nach der Klinke griff, ballte ich die andere zur Faust. Gerade so, als müsste ich viel Schlimmeres als lediglich böse Erinnerungen befürchten. Zu meiner Überraschung war das Zimmer leer. Vollständig ausgeräumt. Nicht einmal die Filmplakate hatte Jonas an den Wänden hängen lassen. Eigentlich sollte mir das egal sein, aber ich konnte mich der Vorstellung nicht erwehren, wie er mit der ihm eigenen Brutalität mit größter Befriedigung sämtliche Spuren von mir in diesem Raum getilgt hatte. Wahrscheinlich hatte er in seinem Eifer sogar jedes einzelne Glas zerschlagen, aus dem ich je getrunken hatte. Er machte es einem wirklich nicht schwer, ihn zurückzuhassen.

Aufgeputscht von meiner Enttäuschung stieß ich die Tür zu seinem Schlafzimmer auf und verpasste als Erstes dem mitten im Raum stehenden Bettgestell einen kräftigen Tritt, das daraufhin mit einem lauten Knall auseinanderbrach. Hätte mir in diesem Augenblick jemand eine Farbdose gereicht, dann hätte ich mit Freude in extra großen Lettern »Fuck you« an die Wand geschrieben. Stattdessen musste ich mich mit bereits ramponierten Einrichtungsresten zufrieden geben, an denen schon ein anderer zur Genüge seine Aggressionen abgelassen hatte.

Es sah nämlich ganz danach aus, als hätten sich die Vandalen in diesem Raum mit besonderer Hingabe ausgetobt: Die Matratze lag aufgeschlitzt in einer Ecke, während die Reste des Bettzeugs fein säuberlich zerschnitten den Boden bedeckten. Vom Kleiderschrank war keine Spur mehr zu entdecken, genauso wenig wie von den anderen Möbelstücken. Mit zunehmender Verwirrung bemerkte ich, dass tatsächlich nur noch das Bett im Zimmer stand. Die Vorhänge mit dem altmodischen Blümchenmuster waren verschwunden, dafür waren die Fensterscheiben mit schwarzer Farbe angemalt worden. Durch die Schlieren fiel spärliches Licht ein, sodass ich die zerfetzten Wände erst auf den zweiten Blick bemerkte. Die Tapete war bis auf ein paar Reste heruntergekratzt worden. Übrig geblieben waren tiefe Risse im Putz. Überall waren Löcher hineingeschlagen worden, große und kleine. Rillen und Dellen. Bräunliche Schlieren, als habe jemand mit der Faust auf die Wände eingeschlagen, bis sie zu bluten begonnen hatten.

Im trüben Licht kam ich langsam zu der Überzeugung, dass es keinesfalls ehrenhafte Bürger dieser Stadt gewesen waren, die ihrem Gerechtigkeitssinn mittels einer Verwüstung Ausdruck verliehen hatten. Selbst der Linoleumboden war aufgeschlitzt und mit Schleifspuren übersät. Vor meinem Auge verdichtete sich zunehmend ein Bild, in dem ein übernächtigter Jonas sein Bett von einer Wand zur anderen schob, in der Hoffnung, dort etwas Ruhe zu finden. Doch ihm war keine Ruhe gegönnt worden. Etwas hatte ihn wach gehalten … oder ihm Angst vor dem Einschlafen gemacht. Sein elendes Stöhnen von damals klang mir in den Ohren, als er sich des Nachts in seinem Bett hin und her geworfen hatte. Ich spürte es mit absoluter Gewissheit: Jemand hatte sich bei ihm eingeschlichen und ihn zu beeinflussen versucht. Dieser Jemand hatte selbst dann nicht damit aufgehört, als ich schon längst aus dem Haus war. In seiner Verzweiflung hatte Jonas angefangen, die Wände aufzureißen und nach dem Quell des Flüsterns zu suchen. Doch egal, wie verbissen er auch an den Wänden gekratzt hatte, dem Eindringling, dessen Verführung er sich überlassen und wegen dem er mich gezeichnet hatte, war er auf diese Art nicht auf die Schliche gekommen.

Bei mir sah das anders aus. Mir konnte sich dieser Eindringling nicht so leicht entziehen. Zumindest nicht mehr, seit ich die Sphäre betreten und anfangen hatte, meine Fähigkeiten kennenzulernen und einzusetzen.

Mit den Fingern strich ich über die im Schatten liegende Wand. Ein Hauch von Silber blieb zurück.

»Ich kenne dich«, stellte ich fest. »Der Staub, den du jedes Mal bei deinen Besuchen zurücklässt, verrät dich. Du hast nicht nur Jonas heimgesucht, sondern auch Mila in deinen Bann gezogen. Du bist der Schatten, der sich einst über die gesamte Sphäre ausgebreitet hatte. Wie ist es dir gelungen, deinen Körper zu verlassen, obwohl er im Weißen Licht gefangen gewesen ist?«

Ein scharfes Brennen breitete sich auf meinem Rücken aus und grub sich zwischen meine Schulterblätter. Meine Schwingen pressten gegen die Haut, wollten durchbrechen. Das konnte ich ihnen jedoch nicht erlauben. Genauso wenig wie ich meine Aura einsetzen konnte, um meinen Verdacht zu bestätigen, dass der Schatten in diesem Zimmer irgendetwas als Pforte benutzt hatte. Wenn ich auch nur eine meiner Schattenschwingen-Gaben einsetzte, war mein Entschluss, Mila zuliebe nur noch Mensch zu sein, eine Farce. Die Angelegenheiten der Sphäre durften nicht länger die meinen sein. Ich musste standhaft bleiben und durchziehen, weshalb ich hergekommen war: um einen Schlussstrich unter das Kapitel »Mein Leben als Schattenschwinge« zu ziehen. Einmal davon abgesehen, dass Kastor gut genug darin war, das feinste Zeichen von mir zu orten, sobald ich das mentale Netz auch nur antickte. So besessen, wie er mich ständig zu erreichen versuchte, würde er sofort zu mir kommen. Ich wollte ihn jedoch auf keinen Fall sehen. Denn ihn abzuweisen, würde uns beide unnötig verletzen. Einmal davon abgesehen, dass ich schlecht abschätzen konnte, ob es mir überhaupt gelingen würde.

Gegen meinen Willen zerrieb ich die silbrige Substanz zwischen meinen Fingern. War es wirklich Silber?

»Das ist Traumstaub«, hörte ich mich flüstern. »Die Pforte des Schattens sind die Träume der Menschen.« Als habe ein Teil von mir, der sich meinem Zugriff entzog, die Führung übernommen. Jener Teil, der einfach nicht von der Sphäre ablassen konnte und ihre Angelegenheiten weiterhin als die eigenen ansah. Jener Teil, der sich nach der Wahrheit sehnte.

Verzweifelt stemmte ich mich gegen die ramponierte Wand. Das war immer noch besser, als völlig von Sinnen auf sie einzuprügeln.

Mila hatte sich von mir abgewendet. Damit war mir das Schlimmste passiert, das ich mir überhaupt vorstellen konnte. Und ich hatte nur die eine Chance, sie zurückzugewinnen. Als Preis dafür hatte ich bereits Asami abgewiesen und verweigerte Kastor eine Antwort. Ich war bereit, meine Freunde … meine Familie, die ich gerade erst gewonnen hatte, wieder aufzugeben und meine Schwingen geschlossen zu lassen. So weit war ich bereits gegangen. Und trotzdem gelang es mir nicht, mein Schattenschwingen-Dasein aufzugeben. Ganz egal, was ich mir vornahm, ich konnte nicht aufhören, wie eine Schattenschwinge zu denken und zu fühlen.

»Weil es jetzt schlicht noch nicht möglich ist«, raunte mir dieser widerspenstige Teil zu, der für immer mit der Sphäre verbunden sein würde. »Du hast es dem Schatten zu verdanken, dass das ganze Elend überhaupt seinen Lauf genommen hat. Er hat Jonas seinem Willen unterworfen und dich damit – ob nun beabsichtigt oder nicht – in die Sphäre gelockt. Ohne ihn wärst du jetzt nur Samuel Bristol, der sich zwar fremd unter den Menschen fühlt, aber durch Mila wäre dieser Zustand zu ertragen gewesen. Nicht zu wissen, wer man in Wirklichkeit ist, unterscheidet sich nämlich grundlegend davon, seine Natur mit Absicht zu verleugnen. Du schuldest es dir, den Schatten dafür zur Verantwortung zu ziehen. Solange du ihn nicht stellst, wird die Sphäre stets aufs Neue deinen Weg kreuzen. Weil du nicht von ihr ablassen kannst. Weil er nicht von dir ablassen wird. Die Verbindung, die er damals geschaffen hat, lässt sich nicht durch Leugnen zerschlagen. Nein, dazu braucht es mehr. Sehr viel mehr. Du musst dich dem Schatten stellen, ihn endgültig bannen. Dann erst kannst du dich zurückziehen.«

»Wie stellt man jemanden, von dem nur noch eine leere Hülle da ist?«, flüsterte ich, während die zerkratzten und eingedellten Wände um mich herum zu kreisen begannen. Ein Stöhnen unterdrückend, stemmte ich mich kräftiger gegen die Wand, aber es half nichts. Ein Strudel tat sich unter mir auf, drohte mich hineinzuziehen, während mir zugleich bewusst war, dass dies alles nur in meinem Kopf stattfand. Ich musste mich entscheiden, jetzt! Nahm ich die Herausforderung an oder hielt ich an meinem Plan, die Schattenschwinge in mir zu bannen, fest?

Anstelle einer Antwort ließ ich meine Aura aufleuchten. Mit einem Schlag stoppte das Karussell, in das sich der Raum verwandelt hatte. Stattdessen begannen die Reste des Traumstaubs zu schimmern, als wäre er eine hauchdünne Membran, die – wenn man sie zu berühren verstand – sich in eine Pforte in die Welt der Schattenschwingen verwandelte. Meine Heimat. Zumindest noch für eine Schonfrist.

Nachdenklich betrachtete ich die Pforte des Schattens. Worin auch der Kern seines Wesens bestehen mochte, er war dem Weißen Licht entkommen. Schon vor langer Zeit, so viel stand fest. Aber wonach hatte er gesucht? Nach einem Körper, der ihn beherbergen konnte. Der Schatten hatte einen Platz zum Nisten gesucht. Und hier in St. Martin war er schließlich fündig geworden. Die Zeichen, die Jonas mir auf seine Einflüsterungen hin eingeritzt hatte … in der Sekunde, in der er den letzten Schnitt vollendet hätte, wäre er in mich eingedrungen. Hätte in mir genistet und nach und nach meinen Körper übernommen, während meine Persönlichkeit ausgelöscht worden wäre. Allein bei der Vorstellung zog mein Magen sich zu einem festen Knoten zusammen. Trotzdem brauchte ich den endgültigen Beweis für meine Vermutung.

Ich zog den Pullover aus und öffnete meine Schwingen, die sich mit der gleichen Freude öffneten, mit der ein Falke nach langer Gefangenschaft dem Himmel entgegeneilt. Dann überließ ich mich den Eindrücken, die mir meine Aura zuspielte. Wie von selbst verschmolz ich mit der Hinterlassenschaft des Schattens, dem wunderschönen Schimmern seines Traumstaubs. Kurz wunderte ich mich noch darüber, dass meine Aura tatsächlich zunehmend wie ein Körperteil funktionierte, das über eigene Reflexe verfügte, dann flackerten bereits erste Bilder auf. Abrisse von Erinnerungen … Schlaglichter in der Dunkelheit … zusammenhanglose Empfindungen strömten auf mich ein. Mir war, als würde ich in einer fremden Haut stecken. Nein, in einem fremden Geist. Meinen Körper nahm ich gar nicht mehr wahr. Ich war jemand, der zusah, wie die Tage verrannen. Sonnenlicht … Nacht … ein schlafender Mann … Geflüster … ein Schrei!

Es war mein eigener, denn ich hielt diesen Zustand kaum noch aus. Doch dann, gerade als ich die Verbindung zum Traumstaub kappen wollte, flackerte eine Erinnerung so hell wie ein Blitz am Nachthimmel auf.

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Mit jedem Mal, wenn er die Pforte zu diesem von Alkohol und Wut verwirrten Geist durchschritt, wurde es einfacher. Ein ausgetretener Pfad war selbst im größten Dickicht leicht zu verfolgen. Und die Träume der Menschen waren ein Dickicht, in dem man nur allzu leicht verloren ging.

Als die Falle damals zugeschnappt war, hatte er im letzten Augenblick gerettet, was noch zu retten gewesen war und hatte es durch seine Pforte geschleudert.

Doch das bisschen von seinem Bewusstsein, das in das Traumreich der Menschen geflüchtet war, war nach der Berührung mit dem Weißen Licht verwirrt gewesen. Und seiner mühsam angehäuften Macht beraubt. Schließlich war er nur der Schatten seiner selbst gewesen, ohne eine nennenswerte Verbindung zu seinem Körper, der von Zeichen seiner Macht übersät war. Das Chaos, das in den Träumen der Menschen herrschte, hatte ihn beinahe ausgelöscht. So hatte es beschämend lange gedauert, bis ihm wieder klar geworden war, wer er überhaupt war. Und weit wichtiger: was er wollte. Trotzdem hatten die Träume noch lange Zeit seinen Weg bestimmt und nicht umgekehrt. Er war von einem schlafenden Kopf in den nächsten gespült worden, unfähig, einen Anker zu werfen. Erst in dem umnebelten Hirn von Jonas Bristol hatte er Halt gefunden.

Angewidert blickte er auf den schnarchenden Mann. Das schäbige Zimmer, die Alkoholausdünstungen, die Träume, die sich ewig um die gleichen ermüdenden Gewaltphantasien drehten. Hierher hatte es ihn verschlagen, hier übte er, seine Kunst einzusetzen, auch wenn sie nach dem Verlust seiner körperlichen Form kaum an alte Ausmaße heranlangte. Nur ein Bruchteil seiner Machtfülle war ihm geblieben.

Doch es gab keinen Grund zum Klagen! Er hätte letztendlich keinen besseren Träumer als diesen Säufer finden können. Denn eine Mauerbreite und gleichzeitig unendlich weit entfernt schlief jemand, der die perfekte körperliche Form für ihn bot. Es musste ihm nur noch gelingen, einen Weg zu finden, seine übrig gebliebene Macht in dieses Gefäß umzufüllen. Er hatte auch schon eine Ahnung, wie er das anstellen würde. Die Zeichen, mit denen er in seinem früheren Leben die Macht der anderen auf sich umgeleitet hatte, würde er dieses Mal verkehren: Sie würden einen Eingang schaffen, damit er seine Macht auf den Jungen übergehen lassen konnte. Aber nicht, um sie zu verlieren. Nein, um sie neu aufzubauen. Wenn er dann in die Sphäre zurückkehren würde, wäre er ein anderer und doch immer noch der Gleiche.

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Das Triumphgefühl, das der Schatten bei diesem gefassten Plan empfunden hatte und von dem der Traumstaub noch bis heute kündete, katapultierte mich zurück in die Gegenwart.

Wie knapp ich der Versklavung entkommen war … Unwillkürlich rieb ich meine Oberarme, um den Schüttelfrost zu verscheuchen. Dabei hinterließ ich eine silbrige Spur. Zuerst wollte ich sie mit dem Pullover abwischen, dann entschied ich mich anders.

Ich würde den Spieß umdrehen!

Jetzt war ich der Jäger, der den Spuren des Schattens folgte, bis ich ihn schließlich stellte. Meine letzte Handlung in der Sphäre würde darin bestehen, dem Schatten in den Hintern zu treten. Für das, was er mir und allen anderen angetan hatte. Wenn ich Shirin und die Schattenschwingen, die unter seiner Herrschaft und den bis heute reichenden Spätfolgen litten, gerächt hatte, würde es mir hoffentlich leichter fallen, die Sphäre zu verlassen.