8
Heißgeredet
Etwas Mächtiges hatte die Grundmauern seines Gefängnisses erschüttert.
Dabei war es nur ein tastendes Suchen gewesen. Jemand war ins Weiße Licht eingedrungen und hatte nach ihm gesucht. Oder vielmehr nach dem, was von ihm übrig geblieben war. Nach seinem Besuch der letzten abendlichen Versammlung hatte er auch eine Ahnung, um wen es sich dabei handeln könnte. Wie auch immer, in seinem Kerker hatte er letztendlich nur die Ausläufer dieser Suche zu spüren bekommen. Zu weit war sein nutzloser Leib im Laufe der Zeit hinter den magischen Grenzwall abgedriftet, als dass er ohne Weiteres zu erreichen gewesen wäre. Ansonsten hätte er gewiss längst schon einen Weg zum Ausbruch gefunden.
Zu seinem Entsetzen jedoch hatte die Suche eine Bewegung im Weißen Licht ausgelöst, die seinen Leib noch weiter abtreiben ließ. Der Sog des Vernichteten Gebiets, in den er geraten war, ließ das brennende Licht seines Gefängnisses verbleichen. Was dort draußen auf ihn wartete, war mächtiger. Hätte er noch einen Mund besessen, so hätte er vor Zorn laut gebrüllt. Es brauchte nur eine solche Kleinigkeit, um ihn endgültig zu vernichten. Und das, wo er so kurz davor stand, seine Ketten zu sprengen. Das Schlimmste daran war für ihn, dass er nichts dagegen tun konnte. Seine Hilflosigkeit war unerträglich. Er würde mit diesem Körper untergehen. Nicht einmal die Träume der Menschen würden ihn dann noch retten können.

Sam
Kühle fiel auf mein erhitztes Gesicht und riss mich aus dem Sog aus Schwarz und Weiß, aus dem meine Träume seit meinem Wechsel in die Sphäre bestanden.
Ein Schatten, schoss mir durch den Kopf, das muss ein Schatten sein, der auf mich gefallen ist.
Bevor ich die Augen aufschlug und damit verriet, dass ich aufgewacht war, versuchte ich mich zu erinnern, wo verflixt noch mal ich eigentlich eingeschlafen war. Anstelle einer Erinnerung meldete sich mein komplett schmerzender Körper – und da wusste ich es wieder: Asami hatte mich am Morgen in einer Höhle unter der Klippe ohne mein Wissen gegen einen Lichtfresser antreten lassen. Ohne jeden Skrupel, damit ich meine Schwertkunst auf Schattenschwingenniveau brachte. Und anschließend hatten wir uns gegen die aufkommende Flut den Weg zurück ins Freie ertrotzt. Allein bei der Erinnerung daran begann es um mich herum zu brodeln und riss mit einer Kraft an mir, wie sie nur das Wasser hatte. Ein fieser Höllentrip. Irgendwie war es uns schließlich gelungen, den Ausgang der Höhlenwelt zu erreichen, von wo aus ich mich mit letzter Kraft an den Strand geschleppt hatte.
Ich musste also unbedarft wie ein Neugeborenes am Strand eingeschlafen sein. Keine schöne Situation für jemanden, der nicht ausschließlich von Freunden umgeben war.
Verzweifelt versuchte ich so etwas wie Anspannung in meine müden Knochen zu bekommen, um mich gegebenenfalls mit einem schnellen Sprung in Sicherheit zu bringen, bevor eine feindlich gesinnte Schattenschwinge ihre Chance wahrnehmen konnte, wenigstens einem der Unruhstifter, die den Dornröschenschlaf der Sphäre beendet hatten, den Garaus zu machen.
Gerade als ich mein Gewicht auf die Seite verlagerte, erreichte mich eine vertraute Stimme: »Wie tief kann man am helllichten Tage eigentlich schlafen?«
»Verdammt tief, wenn Asami einen vorher in den Fingern hatte.«
Ich blinzelte, obwohl Kastor sich mit ausgebreiteten Schwingen vor mir aufgebaut hatte und so das Sonnenlicht abschirmte, das nun doch noch seinen Weg durch die Wolkendecke gefunden hatte. Mit einem verächtlichen Zug um die Lippen musterte mich der Spartaner, der meine Erschöpfung vermutlich für einen Charakterfehler hielt. Von Asami war unterdessen nichts zu sehen. Zu meiner Erleichterung hatte er mir jedoch das Übungsschwert dagelassen. Als ich danach griff, riss es schmerzhaft in meinem Bizeps und mein Ächzen ließ Kastor noch herablassender dreinblicken.
»Könntest du das bitte unterlassen?«
Kastor verschränkte die Arme vor der Brust. »Was meinst du?«
»Na, mich anzustarren, als wäre ich irgendein ekeliges Gewürm zu deinen Füßen, nur weil mein Muskelkater mich umbringt. Abgesehen von den Prellungen, die ich diesem Sadisten Asami zu verdanken habe. Ob du es glaubst oder nicht: Er hat mich in eine Höhle gebracht, in der mir ein Lichtfresser aufgelauert hat. Nur so zum Training, verstehst du?«
»Ein Lichtfresser also.«
Diese verhaltene, ja, geradezu gelangweilte Reaktion traf mich. Nicht dass ich ein mordsschwer beeindrucktes »Wahnsinn! « erwartet hatte, aber ein Tick Respekt wäre schon nicht schlecht gewesen. Stattdessen deutete Kastors Miene an, dass er allmählich die Geduld mit mir verlor. Vermutlich verspeiste er Lichtfresser zum Frühstück, so ganz nebenbei.
»Samuel, du hast zu lang in der Sonne gelegen. Es ist schon seit dem Krieg kein Lichtfresser mehr in der Sphäre gesehen worden, weil sie nämlich alle vernichtet worden sind. Selbst wenn es einem von ihnen gelungen sein sollte zu entkommen und er von Asami entdeckt worden wäre, hätte er ihn sofort ausgelöscht. Diese einstigen Schattenschwingen, denen ihre Aura geraubt worden war, waren damals ein echtes Übel. Sie können große Zerstörung anrichten, wenn sie in die Reichweite unserer Aura geraten. Davon einmal abgesehen, würdest du jetzt wohl kaum entspannt in der Sonne dösen, wenn du tatsächlich einem von ihnen begegnet wärst. Vor allem nicht umrahmt von deiner leuchtenden Aura.«
Der Protest lag mir bereits auf der Zunge, aber ich hielt inne. Asami hatte zwar nichts davon gesagt, dass ich über den Lichtfresser Stillschweigen bewahren sollte, aber Kastor schien von dem, was er da sagte, sehr überzeugt. Nun, ich hatte in den letzten Tagen ja bereits herausgefunden, dass Asami nicht so leicht einzuschätzen war, wie ich gedacht hatte. Da passte es fast ins Bild, dass er sich einen Lichtfresser für seine Schwertkampfübungen hielt.
»Einverstanden, ich gestehe. Asami hat mich beim Iaido alle gemacht und ich bin vor lauter Überanstrengung zusammengebrochen. «
Die Art, wie Kastor die Augenbrauen hochzog, bedeutete wohl, dass er sich genau das gedacht hatte. Das wollte ich dann aber auch nicht auf mir sitzen lassen.
»In meiner Kultur gilt man übrigens nicht gleich als Weichei, nur weil man ein bisschen rumstöhnt. Man gilt auch nicht als echter Kerl, weil man Kleidung für überflüssig hält«, fügte ich schnippisch hinzu, wohl wissend, dass meine Worte an Kastor abprallen würden.
Mit so viel Elan, wie mir überhaupt möglich war, kam ich auf die Beine und streckte mich. Dabei knackte meine Wirbelsäule wie ein Maschinengewehr. Es war schwer zu sagen, wer bei diesem Geräusch gereizter aussah: Kastor oder ich. Letztendlich machte er den ersten Schritt auf mich zu, indem er seine Schwingen einzog, was einem Friedensangebot gleichkam.
»Hübscher Rock übrigens«, sagte er und gab mir einen Klaps aufs Hinterteil.
»Das ist kein Rock, das ist eine Hose.« Zum Beweis zog ich die gefalteten Stoffbahnen auseinander. »Heißt Hakama oder so. Und selbst wenn es ein Rock wäre, müsste ich mir wohl deutlich weniger Sorgen um mein Outfit machen als du. Schließlich ist die Sphäre kein Nudistenclub.«
Kastor bedachte mich mit einem Kopfschütteln, als habe ich nicht die geringste Ahnung, wovon ich da eigentlich sprach, dann nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an. »Während du mit deinem Freund«, das Wort Freund sprach er betont ironisch aus, »gespielt und anschließend ein Nickerchen gehalten hast, bin ich allein ins Weiße Licht geflogen, um unsere Idee endlich umzusetzen.«
Mit einem Schlag war meine Müdigkeit verflogen. »Das hast du allein getan? Du erinnerst dich noch, warum die Zustimmung des Rates zu diesem Vorgehen so wichtig war, oder? Weil es zu zweit kaum zu schaffen ist, im Weißen Licht nach den Überresten des Schattens zu suchen – geschweige denn allein.«
»Beruhige dich, es hat ja auch nicht funktioniert. Er muss tatsächlich abgetrieben sein. Nicht, dass er zuvor mit leichter Hand auszumachen gewesen wäre. Shirin hat wirklich hervorragende Arbeit geleistet, als sie die Überreste verborgen hat. Eine solche Aufgabe hätte keine andere Schattenschwinge stemmen können, dazu brauchte es einen Feuereifer. Sich der Grenze zum vernichteten Süden zu nähern, kostet mehr Kraft, als ich gedacht habe. Außerdem ist mir klar geworden, dass ich ohne einen Fixpunkt den Weg nicht wieder zurückfinde. Ich war nur so wütend auf den Rat, der seit Tagen beisammensitzt und keine Lösung zustande bringt. Heute Vormittag habe ich einen letzten Vorstoß unternommen und bin gescheitert. Vielleicht wäre es mit dir an meiner Seite besser gelaufen.«
»Als würden die Schattenschwingen sich ausgerechnet von mir etwas sagen lassen.«
Es sah ganz danach aus, als wäre ich nicht nur für Mila eine Enttäuschung. Auch Kastors Ansprüchen konnte ich nicht gerecht werden. Dabei hatte ich recht: Bei den Ratsversammlungen war ich nicht mehr als ein Statist, nachdem man mir wegen Mila ordentlich auf den Zahn gefühlt und dann beschlossen hatte, Shirin auch in diesem Punkt die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ohne ihre Zustimmung als Wächterin wäre es Ranuken und mir nie möglich gewesen, einen Menschen in die Sphäre zu bringen … wo Milas Anwesenheit auch prompt für dunkle Zwecke missbraucht worden war. Außerdem misstrauten mir die älteren Schattenschwingen. Es hätte mich nicht einmal überrascht, wenn einige mich sogar insgeheim der Ereignisse verdächtigten. Wahrscheinlich war ich bislang nur deshalb weiteren unangenehmen Befragungen entgangen, weil der Erste Wächter mich als seinen Herrn betrachtete … oder zumindest als das, was jemand wie Asami als Herr ansah. Besonders unterwürfig begegnete er mir nämlich nicht.
Während ich meine Schwingen ausfuhr, um den lästigen Sand von meinem Rücken zu bekommen, grübelte ich darüber nach, wie ich Kastor unterstützen konnte. »Bei der nächsten Versammlung geben wir ihnen eine letzte Chance, uns zuzuhören. Es braucht doch nicht viel, um den Plan umzusetzen, nur zwei, oder besser noch, drei erfahrene Schattenschwingen, die dem Sog des Weißen Lichts widerstehen können.«
»Wie zum Beispiel dein Freund Asami, der unsere Idee bislang so verbissen abgeblockt hat?« Bitterkeit schwang in Kastors Stimme mit.
»Lass uns nicht wieder damit anfangen.« Obwohl es naheliegend war, widerstrebte mir die Vorstellung, Asami etwas zu befehlen, genau, wie es mir widerstrebte, dass er mich Herr nannte. So wollte ich unser Verhältnis nicht haben. »Wenn ich Asami gegen seinen Willen ins Weiße Licht zwingen würde, wäre ich nicht mehr als ein mieser Sklaventreiber. Das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Das werde ich auch nicht, obwohl ich im Gegensatz zu dir keine moralischen Bedenken hätte, diesem Querkopf einen Befehl zu erteilen. Es ist nur so frustrierend, der Sache nicht auf den Grund gehen zu können, weil niemand der Realität ins Auge sehen will. Selbst Asami fürchtet die Wahrheit über den Schatten. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum er dich beim Training so stark fordert: damit dir die Kraft für andere Dinge fehlt.«
»Dinge wie das Eintauchen ins Weiße Licht, ohne verloren zu gehen.« Laut sprach ich aus, was Kastor lediglich dachte. »Warum will Asami nicht, dass die Überreste des Schattens geborgen werden? Schließlich behauptet jede einzelne der alten Schattenschwingen, die den Krieg erlebt hatten, steif und fest, dass es auf keinen Fall der alte Widersacher gewesen sein kann. Eigentlich sollte es dann doch nichts ausmachen, wenn wir uns mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er wirklich aus der Gleichung rausfällt. Wo liegt also das Problem?«
Kastor ließ sich Zeit mit der Antwort. Mit verschränkten Armen stand er da, wieder ganz Denkerstatue. Ich war bestimmt kein hibbeliger Kerl, aber wie man sich so vollständig reglos hinstellen konnte, war mir ein Rätsel. Während seiner Zeit als Wächter im Weißen Licht musste er wirklich ausgiebig Gelegenheit gehabt haben, alles einer einzigen Sache unterzuordnen. Allerdings konnte Kastor genauso unvermittelt wieder zu sich kommen, wie er sich aus einer Situation ausklinkte. Jedenfalls waren seine grauen Augen hellwach, als er sie jetzt auf mich richtete.
»Ich kann nur eine Vermutung anstellen, weil ich erst am Ende des Krieges in die Sphäre gewechselt bin und damals kaum wusste, wie mir geschah. Da hatte der Schatten seine Maske bereits abgelegt und trat offen als Kriegsherr auf. Was er den Schattenschwingen in der Zeit davor angetan hat, als er noch seine Spielchen mit ihnen gespielt hat, kann ich mir lediglich aus Bruchstücken zusammenreimen, die ich aufgeschnappt habe. Aber es reicht mir aus, um ihre Furcht zu verstehen. Allein die Vorstellung, sie müssten sich ihm ein weiteres Mal entgegenstellen, lässt sie jegliche Vernunft vergessen.«
Kastors Vermutung klang schlüssig, wie ich mir enttäuscht eingestand. »Dann legen also auch Schattenschwingen typisch menschliches Fehlverhalten an den Tag: Das Offensichtliche wird ignoriert, stattdessen reibt man sich an Nebensächlichkeiten auf und ist dann überrascht, wenn das Elend über einen hereinbricht. So ist es ja schon immer gewesen. Denk nur an diese antike Stadt Troja, da hat die Hellseherin Kassandra …«
Kastor winkte ab. »Komm mir jetzt bloß nicht mit Troja.«
Unter gesenkten Lidern blinzelte ich in die Sonne, die hoch oben am dunstigen Himmel stand. War etwa schon Mittag? »Lass es uns zuerst einmal zu zweit ausprobieren. Wenn das misslingt, werde ich mit Asami sprechen.«
»Du willst dich also tatsächlich lieber noch einmal ins Weiße Licht wagen, als Druck auf Asami auszuüben?«
Ich nickte zögernd. Denn bei der Erinnerung an das Weiße Licht zog sich mein Brustkorb gequält zusammen.
Obwohl sich niemand in dem von Magie verbrannten Gebiet so gut auskannte wie Kastor, wäre es mir ganz lieb gewesen, jemanden wie Asami mit von der Partie zu haben. Einem Frischling wie mir konnte der Sog des Weißen Lichts gefährlich werden, aber einem Sturkopf wie Asami bestimmt nicht. Die Einbahnstraße in seinem Schädel war viel zu breit, als dass ihn jemand von einem einmal gefassten Plan abbringen konnte. Trotzdem stellte ich mich lieber meinen Ängsten, als einem anderen meinen Willen aufzuzwingen.
»Wann wollen wir aufbrechen?«
Kastor zuckte mit den Schultern. »Warum nicht gleich, wenn wir ohnehin auf uns allein gestellt sind?«
Tja, warum nicht gleich? Das Wasser glitzerte wirklich einladend und unter der Haut auf meinem Rücken kribbelte es, weil meine Schwingen sich danach sehnten, endlich geöffnet zu werden und den Widerstand der Luft zu spüren. Was sprach da schon gegen einen Ausflug, von dem der Rat erwartete, dass er lediglich die leere Hülle eines alten Feindes zum Vorschein bringen würde? Nichts leichter als das.
»Gut, dann mal los. Bewegung ist vermutlich eh das Beste für meine verspannten Muskeln. Wir müssen uns aber beeilen, ich wollte Mila heute Abend einen Überraschungsbesuch abstatten«, sagte ich schnell, ehe meine Selbstmotivation verpuffte.
Zu meiner Überraschung begann Kastor zu lachen. »Wenn ich dich das nächste Mal für eine Heulsuse halte, dann brauchst du mich nur an diesen Moment zu erinnern. Aber glaubst du wirklich, dass du Mila nach diesem Ausflug noch gewachsen sein wirst?«
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Warst du denn noch nie verliebt? Ich würde mich selbst auf allen vieren und mit raushängender Zunge über den gesamten Strand schleppen, wenn am Ende ein Treffen mit Mila dabei herausspringen würde.«
»So ist das also mit verliebten Kerlen. Klingt irgendwie nicht danach, als ob ich was verpassen würde.«
Ich schnaufte abfällig durch die Nase. »Du solltest es wirklich einmal probieren. Was du machst, ist wie aufs Fliegen verzichten, weil du keine Lust auf Gegenwind hast.«
»Wenn du es sagst«, erwiderte Kastor wenig überzeugt. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er meine Verliebtheit für eine Art Geisteskrankheit hielt. Und zwar von der ganz üblen Sorte. Zugegeben, mir kam es auch manchmal so vor. Aber das änderte nichts daran, dass ich das Gefühlschaos, das Mila mir bescherte, selbst in den dunkelsten Momenten genoss. Nichts reichte an die Empfindungen heran, die sie in mir weckte. Nicht einmal das Fliegen.

So grau wie der Tag begonnen hatte, so mild zeigte er sich mittlerweile. Ein herrlicher Herbsttag, an dem man sich am Strand fläzte oder auf der Terrasse eines Cafés saß. Zumindest wenn man Mitglied im Verein der Menschenwelt war. Für mich als Schattenschwinge bedeutete es, mit raschem Schlag in Richtung Süden zu fliegen, wo es deutlich heller und wärmer war, als man es ansonsten von der Sphäre kannte. Als würde die Luft von einer unsichtbaren Energiequelle aufgeheizt … was vermutlich auch stimmte. Der Flug über dem Meer, das so weit draußen hohe Wellenkämme bildete, war zweifelsfrei eine schöne Sache. Nur leider machte mir das mulmige Gefühl in meiner Magengegend einen Strich durch die Rechnung.
Der Flug zu den Rändern des vom Krieg zerstörten Südens dauerte länger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Das konnte allerdings auch daran liegen, dass die Aussicht auf unser Vorhaben mir mehr zusetzte, als ich mir eingestand. Im Gegensatz zu Kastor, der eine halbe Ewigkeit als Wächter im Weißen Licht gefristet hatte, war ich erst einmal damit konfrontiert worden – dafür waren mir seine Auswirkungen jedoch äußerst lebendig in Erinnerung geblieben. Fast hätte ich mich damals selbst verloren gegeben. Genau das, worauf die dortige Form der Magie abzielte: Sie löschte alles aus, was einen als Person ausmachte, bis man nur noch als leere Hülle schwerelos durchs Licht schwebte. Ein Schutzwall oder gar »das perfekte Gefängnis«, wie Kastor das Weiße Licht bei unserem ersten Treffen genannt hatte. Heute sollten wir also herausfinden, ob seine Annahme stimmte und das Gefängnis den Schatten hatte gefangen halten können.
»Samuel, bevor wir das Weiße Licht erreichen, führ dir noch einmal vor Augen, wie man sich seiner Wirkung entzieht: Du bietest dich ihm an, lässt dich von ihm umfluten, und kurz bevor es mit deiner Auslöschung beginnt, offenbarst du ihm deinen Kern: deine Aura. Sie ist es, die dir in dieser magischen Bannmeile Halt gibt.«
»Ja, das habe ich verstanden. Es ist diese Feuer-mit-Feuer-Bekämpfen-Nummer«, erwiderte ich, nachdem ich den Druck in meiner Kehle runtergeschluckt hatte. »Ich habe nur meine Zweifel, ob ich das auch so locker umsetzen kann, wie es bei dir klingt.«
Obwohl Kastor Feigheit ansonsten strikt ablehnte, sah er mich verständnisvoll an. »Erstens ist es ganz und gar keine lockere Geschichte, sich dem Weißen Licht mit voller Absicht auszuliefern, zweitens bist du einer der wenigen, denen ich es zutraue, es zu bestehen. Deine Aura ist stark genug, du kannst dich dieser Magie widersetzen.«
»Super, als du das letzte Mal auf meine Fähigkeiten vertraut hast, habe ich mich anschließend unter einem Mob tobsüchtiger Schattenschwingen wiedergefunden, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie mich aus Hass zerquetschen oder aus Zuneigung zu Tode drücken sollten.« Auch wenn meine Augen wegen der uns umgebenden Helligkeit brannten, starrte ich trotzig in das weiß strahlende Band, das den Horizont ersetzt hatte. »Selbst auf die Gefahr hin, feige zu wirken … Brauchst mich wirklich für diese Sache?«
Genau wie meine schlugen auch Kastors Schwingen gemächlich auf und ab. Geschickt nutzten wir den Aufwind aus, um uns in der Luft zu halten, ohne uns dabei groß vom Fleck zu bewegen. Kastor ähnelte einem aufgespießten Schmetterling – einem mit bronzefarbenem Körper und grau-schlierigen Flügeln. Bevor er sich zu einer Entgegnung herabließ, musterte er mich ausgiebig. Ich ließ es einfach geschehen. So war er eben. Kastor redete nie um eine Sache herum, nein, jedes Wort musste sitzen, als gälte es für überflüssiges Gerede einen hohen Preis zu zahlen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir Plappermäuler das wahrscheinlich auch.
»Kastor, wenn du mich noch lange so anstierst, fange ich bereits Feuer, bevor ich überhaupt mit dem Weißen Licht in Berührung gekommen bin.«
Zumindest entlockte ich ihm damit ein Seufzen.
»Ich werde es dir nicht nachtragen, solltest du jetzt einen Rückzieher machen«, ließ er mich mit seiner überaus ruhigen Stimme wissen. »Um die Hülle des Schattens zu finden, muss ich sehr weit in das Weiße Licht vordringen. Weiter, als ich je gewesen bin. Dabei komme ich dem Vernichteten Gebiet nah. Du sollst mein Leuchtturm sein, damit ich den Weg zurück finde. Von uns allen strahlst du am hellsten, Samuel. Aber wenn du dich mit dieser Aufgabe überfordert fühlst, verstehe ich das. Von dir als Neuling kann niemand erwarten, dass du eine solche Last schulterst, obwohl du befürchtest, unter ihr zusammenzubrechen.«
Kastor meinte es ernst. Sollte ich mich dagegen entscheiden, ihm bei seiner Suche zur Seite zu stehen, würde er es mir nicht nachtragen. Die Wahl lag bei mir.
Ich spürte die wohlige Wärme des Weißen Lichts auf meiner Haut und erinnerte mich unwillkürlich daran, dass es sich auch dann noch wohlig anfühlte, wenn es einen bereits in ein Brathuhn verwandelt hatte.
Für einen Moment schloss ich die Augen und legte meinen Kopf in den Nacken, dann sagte ich: »Also gut, ich spiele für dich Leuchtturm, selbst auf die Gefahr hin abzufackeln. «
Ich sah, wie Kastors Lippen sich bewegten, aber ich wollte weder eine Ermunterung noch irgendeinen Spartanerspruch über Mut und die Liebe zur Tat hören. Mit einem kräftigen Schwingenschlag stob ich davon.