32. KAPITEL

Juliette hatte sich mit der Falschen angelegt.

Kaia hatte die ganze Stunde genutzt, um ihre vertrauenswürdigen Angehörigen und Freunde zusammenzutrommeln.

Alle waren ohne zu zögern herbeigeeilt, und dafür wäre sie ihnen für immer dankbar. Die ganze Zeit über hatte Strider, der ganz offensichtlich noch immer unter Schmerzen litt, sie beruhigt und ihr versichert, dass alles gut werden würde.

So ein liebenswerter Mann. Er saß direkt hinter ihr, sein Zimtduft hüllte sie ein, und sie entschied sich, ihm zu glauben. Außerdem hatte sie gemerkt, dass sie tiefer verbunden waren denn je, und er unterstützte sie unentwegt über ihre mentale Verbindung und machte ihr Mut.

Sie hatte ihre eigene Mutter besiegt. Das hier würde sie auch schaffen.

Juliette ausfindig zu machen war nicht schwierig gewesen. Nicht mit Lucien und seinem Beam-Dingsda. Er war ihrem spirituellen Pfad gefolgt, bis er sie aufgespürt hatte, hatte sich vergewissert, dass es Bianka gut ging (sie war verletzt, hielt sich aber wacker), hatte Kaia informiert, wohin sie kommen musste. Dann war er zu Bee zurückgeeilt, um sie zu beschützen – unsichtbar natürlich.

Luciens heimliche Anwesenheit war der einzige Grund, warum Kaia der hinterhältigen Juliette noch nicht die übelsten Schmerzen zugefügt hatte. Dasselbe galt für Lysander. Nun ja, das und die Tatsache, dass Zacharel ihn mit eiserner Hand zurückhielt.

Sobald sich die Lage änderte, würde Lucien sie verständigen, und sie könnten ihren derzeitigen Plan ändern. Einen Plan, der dafür sorgen würde, dass die Eagleshields so etwas nie wieder versuchen würden.

Mit Taliyah und Gwen an ihrer Seite marschierte Kaia hoch erhobenen Hauptes los. Strider und seine umstandsbedingten Brüder gingen hinter ihnen. Lysander und seine Kriegerengel-Armee befanden sich in der Luft, sie kreisten über der Gegend, wobei sie ihre weißgoldenen Flügel elegant ausstreckten. Man hatte Kaia gesagt, sie würden im Himmel gebraucht – irgendein Engelskrieg, der sich zusammenbraute – doch Lysander hatte sie stattdessen hierher beordert.

Seine Frau war für ihn das Allerwichtigste.

Juliette hatte sich also mit der falschen Familie angelegt. Denn das sind diese Leute um mich herum, dachte Kaia. Meine Familie. Nicht ein einziger von ihnen würde ruhen, bevor Bianka in Sicherheit war. Sie würden sogar für sie sterben. Würden für Kaia sterben.

Genauso wie Kaia für sie sterben würde.

Dazu wird es nicht kommen. Sie straffte die Schultern, während sie die Umgebung analysierte. Der vom Mond beschienene Strand bot einen trügerisch ruhigen Anblick. Entlang des Weges reckten sich antike römische Ruinen in den Nachthimmel, und Felsbrocken schimmerten silbern im fahlen Licht. Wasser wurde in den Sand gespült, was wie ein beruhigendes Schlaflied klang.

Zu schade, dass schon bald Blut spritzen und Schreie ertönen würden.

„Juliette“, rief Kaia. Kein Warten mehr. Sie wollte die Sache hinter sich bringen.

Eine zornige, rußbedeckte Juliette trat in einen goldenen Mondstrahl. Ihr Hass war so stark, dass die Luft um sie herum vibrierte. Ihr Clan bildete eine bedrohliche Linie hinter ihr.

Kaia blieb wenige Meter vor ihr stehen, gerade noch außer Reichweite, und ihre Gefolgschaft tat es ihr gleich.

Juliette brodelte. „Ich bin überrascht, dass dein kleingeistiges Ich es geschafft hat, mich zu finden, aber ich bin sehr froh darüber. Lass uns die Sache sofort zu Ende bringen. Wo ist die Rute?“

Statt zu antworten, sagte Kaia: „Das mit deinem Gemahl tut mir leid, ehrlich, und ich wünschte, die Dinge hätten ein anderes Ende genommen. Aber ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Ich kann nur die Zukunft willkommen heißen. Deshalb gebe ich dir eine Chance – nur eine – einfach zu gehen. Lass meine Schwester frei, und ich bin weg. Ende.“

Juliettes Antwort ließ keine Sekunde auf sich warten. „Oh nein. Du wirst dieses Land nicht unbeschadet verlassen.“ Sie schnippte mit den Fingern, und zwei Eagleshields zerrten eine wütende und blutüberströmte Bianka vor die Linie. „Ich glaube, du solltest eine Wahl treffen, Kaia die Enttäuschung. Deine Schwester oder dein Mann.“

Lysanders wuterfülltes Brüllen hallte vom Himmel. Juliette hatte Glück, dass Zacharel hier war, um ihn daran zu hindern, Amok zu laufen.

Nachdem Bianka ihrem Mann das Daumen-hoch-Zeichen gegeben hatte, sah sie Kaia in die Augen und grinste boshaft. Beinahe wäre Kaia vor Erleichterung zusammengebrochen. Auf dem Video zu hören, dass es ihrer Schwester – den Umständen entsprechend – gut ging, war nicht dasselbe, wie es mit eigenen Augen zu sehen.

„Ich hab’s dir doch gesagt“, flüsterte eine raue Männerstimme. Sie spürte zitternde Finger über ihre Wirbelsäule streicheln. Strider. Trotz seiner Schmerzen unterstützte er sie.

Und auf einmal erkannte Kaia den Witz der Situation. Bianka würde diese Erfahrung bis in alle Ewigkeit benutzen, um Kaia ihrem Willen zu beugen.

Erinnerst du dich an das eine Mal, als deine Erzfeindin mich entführt hat? würde ihre Zwillingsschwester sagen. Ich mich auch. Deshalb musst du mir diesen kleinen Gefallen tun.

„Also eigentlich“, sagte sie und warf Juliette ein boshaftes Lächeln zu, „hast du die Wahl. Aufgeben oder sterben.“ Und dann rief sie: „Lysander, du bist dran.“

Die Engel schossen vom Himmel herab. In weniger als einer Sekunde saßen die Eagleshields mit nach unten geneigten Köpfen auf den Knien, und die geflügelten Krieger hielten ihnen Feuerschwerter an die Hälse.

„Wow, das war leicht“, sagte sie. Hoffentlich würden die Harpyien nicht merken, dass es den Engeln – die nach einem Verhaltenskodex lebten, den Kaia nicht verstand – nicht erlaubt war, sie ohne „triftigen Grund“ zu verletzen. Wie auch immer so ein Grund aussah.

Lysander nahm Bianka in den Arm, sprach beruhigend auf sie ein und wollte wissen, was man ihr angetan hatte.

Bianka küsste ihren Mann und warf der verblüfften Juliette einen finsteren Blick zu. Obwohl auch sie am Boden kniete, sah die Anführerin der Eagleshields nicht sonderlich eingeschüchtert aus. „Ich habe dir doch gesagt, dass es dumm von dir war, dich mit einem Gemahl anzulegen, der ein Engel ist.“

„Aber … aber …“

„Ja“, bekräftigte Kaia, als sie merkte, dass Juliette endlich begriff. „Wir haben dich wirklich so schnell besiegt.“ Nun schnippte sie mit den Fingern und zog damit die Geste ins Lächerliche, die Juliette zuvor benutzt hatte. „Und nun wollen wir mal das eine oder andere klären. Lysander, würdest du deinen Lakaien bitten, das Feuerschwert von der Brünetten abzuziehen? Aber nur von der Brünetten.“

Ein Moment verstrich in schwerer Stille. Dann nickte Lysander steif, und der dunkelhaarige Engel, der Juliette in seiner Gewalt hatte, wich zurück. Im Nu verschwand auch das flackernde Schwert.

Juliette sprang auf, versuchte jedoch nicht, wegzulaufen. Klug von ihr. Natürlich wäre Kaia ihr gefolgt, und das Resultat wäre alles andere als hübsch gewesen.

„Es sind nur noch drei Clans übrig, die sich den ersten Preis holen können“, sagte Kaia. „Meiner, deiner und die Skyhawks.“

„Stimmt nicht“, meldete sich eine Frau mit brüchiger Stimme. Kaias Mutter humpelte aus dem Schatten und blieb neben den Engeln stehen.

Kaia erwiderte Tabithas gefühllosen Blick und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Tabitha war noch dabei zu heilen. Unter ihren Augen waren tiefe Ringe der Erschöpfung zu sehen, ihre Schultern hingen schlaff nach vorn und ihre Beine zitterten, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.

„Was machst du hier? Willst du gegen meinen Platz im Finale protestieren?“ Kaia hob das Kinn. Sie war stolz auf sich. Ihre Stimme hatte nicht offenbart, was sie gerade fühlte. Kein verräterisches Zittern. „Tja, du kannst …“

„Nein“, unterbrach Tabitha sie und schockierte sie noch mehr. „Taliyah hat mir erzählt, was geschehen ist. Deshalb bin ich hier. Ich entscheide mich dafür, mein Team von dem Turnier zurückzuziehen.“

„Was?“, fragten Kaia und Juliette gleichzeitig.

Tabitha nickte und wäre dabei fast umgefallen. „Ich wollte dir einfach die Chance geben, dich den Clans ohne meine Hilfe zu beweisen. Und diese Chance hast du genutzt. Ich werde nicht länger gebraucht. Und wie du sehen kannst, stelle ich momentan keine Bedrohung dar.“

Kaia war sprachlos.

„Wenn das stimmt, warum hast du mich dann verhöhnt?“, meldete Strider sich zum ersten Mal zu Wort. Seine Wut verlieh seinen Worten Kraft.

„Sie hat dich verhöhnt?“, fragte Kaia zornig. „Wann?“

Angefangen hat es bei der Einführungsveranstaltung, sprach er in ihren Gedanken. Vor dem ersten Wettbewerb. Er konnte in ihrem Kopf sprechen? Sie hatte davon gehört, dass einige Paare dazu in der Lage waren, aber nie hätte sie erwartet, zu diesen Glücklichen zu gehören. Spitze!

Tabitha hob das Kinn genauso, wie Kaia es immer tat. Daher habe ich das also. Ha.

„Ich habe dich nicht verhöhnt, du dummer Mann.“ Ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten wütend. „Ich habe dich vor den Absichten ihrer Feindin gewarnt. Übrigens: gern geschehen. Immerhin hast du mir im Gegenzug nichts als Kummer bereitet.“

„Nenn ihn nicht dumm“, fauchte Kaia. Das durfte allein sie. Aber, äh, ihre Mutter hatte versucht, ihr zu helfen? „Und warum sollte er dir überhaupt glauben? Du hasst mich schließlich.“ Schon gut, Baby Doll. Mach dir um mich keine Sorgen.

Tabithas Miene wurde einen Hauch weicher, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kaia richtete. „Du bist meine Tochter … Kaia die Flügelvernichterin. Deshalb sollte er mir glauben.“

Kaia die Flügelvernichterin. Der Name hallte durch ihren Kopf. Ein Traum wurde wahr. Dieser Name war um Längen besser als der, den sie sich selbst gegeben hatte. „Ich …“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Nicht in einer Million Jahren – oder in eintausendfünfhundert – hätte sie erwartet, diese Worte aus dem Mund dieser Frau zu hören.

„Nur damit du es weißt: Ich hasse dich nicht. Ja, ich war wirklich wütend, weil du vor all den Jahren ungehorsam warst. Ja, dein Handeln war enttäuschend. Eigentlich hättest du dich selbst rehabilitieren sollen, doch das hast du nie getan, und ich war des Wartens überdrüssig. Als ich begriff, dass du deinen Gemahl gefunden hast, wusste ich, dass du dich entweder vollständig verlieren oder endlich die Kriegerin in dir entdecken würdest, die du eigentlich schon immer warst. Und, ja, das bedeutet, dass ich dich nie aus den Augen gelassen habe. Das bedeutet auch, dass ich geholfen habe, dich in einen Hinterhalt zu locken – zu deinem eigenen Besten. Ich war ziemlich stolz, dass du die Jäger besiegt und unseren Plan durchschaut hast.“

Nicht gerade eine Liebeserklärung, bemerkte Kaia. Andererseits war das eben Tabitha – abrupt, harsch und unverbesserlich. Aber war sie eine Lügnerin? Nein. Niemals. Tabitha sagte, was sie dachte. Immer. Das wusste Kaia. Ihre Brust füllte sich mit Gefühlen, die sie nicht länger unterdrücken konnte. Ihre Mutter hasste sie nicht!

Bedeutete das, dass sie unterm Weihnachtsbaum zusammenkämen? Wohl kaum, aber Hölle, das hier war mehr, als sie seit Jahren gehabt hatte. Sie würde es annehmen. Denn wirklich – ihre Mom hasste sie nicht. Das konnte sie gar nicht oft genug wiederholen.

„Ich kann nicht gerade sagen, dass ich dir für dein Verhalten dankbar bin“, erwiderte Kaia, „aber ich bin glücklich mit meinem Leben.“

Striders Zufriedenheit legte sich wie ein Umhang um sie.

„Du bist jetzt stark genug, um zu verteidigen, was dir gehört. Natürlich bist du glücklich.“ Tabitha humpelte auf sie zu und streckte den Arm aus. „Hier.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm Kaia … ein Skyhawk-Medaillon entgegen. Ein neues. Ein hübscheres als das, was Juliette besaß. Die Augen weit aufgerissen legte sie sich das Lederband um den Hals. Die Holzscheibe war leicht und fühlte sich kühl an, und dennoch brannte sie sich tief in Kaia ein.

„Komm mich bald besuchen, dann … reden wir.“ Damit drehte Tabitha sich zu Juliette um. „Ich habe deine Gesellschaft lange genossen. Genauso wie du meine. Ich wusste, dass du und Kaia euch eines Tages im Kampf gegenüberstehen würdet. Und das ist nur fair. Schließlich hat sie dir deinen Gemahl weggenommen. Meine einzige Hoffnung war nur, dass sie wenigstens ein bisschen auf deinen Angriff vorbereitet wäre. Jetzt ist sie es.

Aber du hättest ihren Gemahl angreifen sollen und nicht Bianka. Nach all den Jahren, in denen ich dich trainiert habe, hatte ich gehofft, du hättest gelernt, dass die Strafe zu dem Verbrechen passen sollte. Deshalb, wegen deiner heutigen Taten, überlasse ich dich dem Schicksal, das du selbst über dich gebracht hast: einer Abreibung von meiner Tochter.“ Nachdem sie alles gesagt hatte, drehte sie sich um und stolperte davon.

Sie hasst mich tatsächlich nicht. Kaia schniefte und versuchte, nicht vor Freude in Tränen auszubrechen. Ihre Mutter hatte sie nicht gerade verteidigt und sie nur als „ein bisschen vorbereitet“ bezeichnet, aber trotzdem. Kein Hass!

Und jetzt verteidige ich, was mir gehört … „Sieht so aus, als wären nur noch du und ich übrig“, sagte sie zu Juliette. „Wir beide werden die Sache alleine ausfechten.“

Auf dem Gesicht ihrer Feindin machte sich Zufriedenheit breit. „Wirklich? Du wirst nicht deine Sklaven in die Bresche springen und dich von ihnen retten lassen?“

„Die Engel und die Herren sind meine Freunde, nicht meine Sklaven. Aber ich weiß natürlich, dass dir dieses Konzept fremd ist. Und warum sollte ich ihnen erlauben, zu übernehmen? Ich werde den Boden mit deinem Blut tränken. Fair und anständig.“

Juliette blickte zu Strider und kniff die Augen zusammen. Kaia rechnete schon fast damit, dass sie statt ihrer den Krieger herausfordern würde. „Die Gewinnerin bekommt deinen Gemahl.“

Hexe. „Vergiss es. Nicht in …“

„Tu es, Baby Doll“, unterbrach Strider sie und küsste sie auf die Wange. „Ich habe keinerlei Zweifel, wer diese Sache gewinnen wird.“

Sie hatte ihn schon einmal enttäuscht, und dennoch vertraute er ihr. Die Entschlossenheit stieg wie eine unaufhaltsame Flutwelle in ihr auf. Juliette würde für diesen Vorschlag leiden.

Ohne jegliche Unterbrechung“, knurrte Juliette, der es gar nicht gefiel, dass man ihre Fähigkeiten nicht anerkannte.

„Abgemacht“, erwiderte Kaia. „Waffen? Ich lasse dir die Wahl. So nett bin ich nämlich.“

„Frau gegen Frau. Und keine Flammen, Schlampe.“

„Kommst du nicht mal mit ein bisschen Hitze klar?“ Sie war ohnehin zu kühl und resolut, als dass sie von dem Feuer Gebrauch gemacht hätte. „Also gut. Aber wie mir zu Ohren gekommen ist, bist du in Sachen Nahkampf ein wenig aus der Übung. Ist das nicht der wahre Grund, weshalb du nicht selbst an den Spielen teilnimmst?“

Juliettes Nasenflügel bebten. „Finde es heraus.“

Strider sah aus, als wollte er Einspruch erheben. Doch stattdessen gab er ihr einen weiteren Kuss. Er vertraute ihr immer noch. Die Flutwelle wuchs zu einem Tsunami.

„Wenn ich mit dir fertig bin, wird nichts mehr von dir übrig sein“, fügte Juliette hinzu, als sie zahlreiche Dolche und eine Pistole ablegte.

„Du belügst dich dermaßen selber, dass du mir leidtust.“ Kaia legte ihr Arsenal ebenfalls ab. Sie beobachtete, wie die Engel die Eagleshields zwangen, wegzukriechen, um zu verhindern, dass sie Juliette in irgendeiner Form halfen. Die Herren gingen mit ihnen. Strider strich ihr ein letztes Mal über den Rücken, ehe er weghinkte.

Im nächsten Moment ging es los. Sie und Juliette umkreisten einander. Die Frau sonderte so intensiven Hass ab, dass die Luft vibrierte. Du hast einen entscheidenden Fehler gemacht, Julie-Mädchen, dachte sie. Dass sie Strider ins Spiel gebracht hatte, hatte dazu geführt, dass Kaia garantiert nicht herumalbern würde. Die Sache war ernst, und sie würde ohne jede Gnade handeln.

Warte noch … warte …

„Du denkst, du bist unbesiegbar, weil du deine Mutter bezwungen hast“, keifte Juliette. „Tja, offensichtlich hat sie in dem Kampf nicht alles gegeben.“

„Rede dir das nur ein, wenn es dir hilft.“ Warte …

Ein Kreis … noch einer …

„Ich habe dich bei allen Wettkämpfen beobachtet.“ Die Selbstgefälligkeit war in Juliettes Ton zurückgekehrt. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“

Warte … „Dass du mir in jeder Hinsicht unterlegen bist?“ Warte …

Juliette kniff die Augen zusammen. „Dass es dir an Kontrolle mangelt.“

Das war die pure Ironie. Im Augenblick war jede von Juliettes Bewegungen allein von ihren Gefühlen angetrieben. Sie dachte, Kaia wäre abgelenkt. Doch das war sie nicht. Sie war hoch konzentriert.

Ein Schrei ertönte. Juliettes Körper spannte sich an … flog auf Kaia zu …

Jetzt!

Kurz bevor die andere Harpyie sie erreichte, schoss Kaia in die Luft. Ihre Flügel arbeiteten fieberhaft, als sie rücklings einen Salto über Juliette hinweg machte. Da Juliette den Kampf zwischen Kaia und Tabitha mit angesehen hatte, hatte sie den Zug erwartet und wirbelte schnell herum. Kaia jedoch hatte mit diesem Zug gerechnet und vollführte blitzschnell einen weiteren Überschlag. Wieder stand sie hinter Juliette.

Noch ehe die Harpyie begriff, dass Kaia zum zweiten Mal den Platz gewechselt hatte, packte Kaia ihre Flügel, bohrte ihre Krallen in Haut und Sehnen und riss mit aller Kraft. Genauso wie sie es bei ihrer Mutter getan hatte.

Ein patentierter Kaia die Flügelvernichterin-Zug, der ihr genauso leichtfiel, wie während der Fruchtbarkeitswoche – die auch als Höllenwoche bekannt war – eine Schüssel ihrer Lieblingseiscreme auszuschlecken. Aber was sollte man von einer Frau mit einem Namen wie ihrem auch anderes erwarten?

Strider jubelte. „Das ist mein Mädchen.“

Ächzend fiel Juliette mit dem Gesicht voran in den Sand. Sie versuchte, sich auf die Knie hochzurappeln, hatte jedoch keine Kraft mehr und brach zusammen. Wie Kaia prophezeit hatte, ergoss sich rings um sie ihr Blut. Das dunkle Rot sah auf den reinen, weißen Sandkörnern beinahe obszön aus.

Die Eagleshields waren mehrere Augenblicke mucksmäuschenstill. Ihr Schrecken war geradezu greifbar. Dann keuchten sie entsetzt auf.

Grinsend hockte sich Kaia neben ihre Erzfeindin. Juliettes schmerzerfüllter Blick ging an ihr vorbei. „Wir haben einander beide wehgetan. Dabei sollten wir es belassen. Ich will dir sogar sagen, dass es mir leidtut, wie weit es gekommen ist. Aber, und hör mir gut zu, wenn du irgendjemandem nachstellen solltest, den ich liebe, werde ich dich vernichten. Und du weißt, dass ich das nun zu tun vermag. Ich habe die Zweiadrige Rute, und ich werde deine Seele ohne Reue damit einfangen. Außerdem habe ich diese durch und durch guten Engel an meiner Seite. Du hättest sie einfach nicht verärgern sollen. Mehr habe ich nicht zu sagen.“

Sie wartete nicht auf eine Antwort. Am Ende würde Juliette sie noch damit aufziehen, dass sie gar nicht wusste, wie man die Rute benutzte, oder sie womöglich noch dazu bringen, etwas zu tun, was sie gar nicht tun wollte. Nämlich der Frau den Kopf abschlagen. Deshalb stand sie auf und ging auf Strider zu.

Lächelnd traf er sie auf halber Strecke.

Den Rest des Tages verbrachte Kaia damit, mit ihrem Mann zu schlafen – ausgerechnet in ihrem Schlafzimmer. Dass sie in ihrem Haus in Alaska waren, in dem Haus, wo er ihr einst das Herz gebrochen hatte, war surreal. Aber egal. Nach ihrem Sieg über Juliette hatte er eine wahre Kraftinfusion bekommen. Eine Infusion, die er bestens zu nutzen gewusst hatte.

Jetzt lag sie in seinen Armen und war unvergleichlich gesättigt. Sie hatte diesem Mann so viel zu verdanken. Ihr momentanes Glücksgefühl, ja, aber auch das Vertrauen in sich selbst. Sie war stark, aber er hatte sie stärker gemacht. Weil er ihr vertraute, weil er unter die Oberfläche schaute, weil es ihn nicht interessierte, was andere von ihr dachten, weil ihn ihre Fehler nicht interessierten. Und er hatte keine Angst davor, sie um ihrer selbst willen zu lieben. Nichts lag ihm ferner, als sie zu verändern.

„Ich liebe dich“, sagte sie.

„Weil du klug bist. Dafür gibt es übrigens noch einen Beweis: Sieh nur, bei wem du gelandet bist. Nicht bei Paris, diesem Trottel, sondern bei mir.“

Sie lachte leise. Es tat gut, ihn im Spaß über seinen Freund reden zu hören und nicht wütend oder eifersüchtig. „Wolltest du mir nicht noch etwas sagen?“

„Doch.“ Er seufzte. „Also, wo wir gerade von Paris reden: Ich muss in den Himmel, um ihm dabei zu helfen, seine nicht so tote Freundin zu finden. Ich habe es ihm versprochen. Aber das hatte ich dir schon gesagt, nicht?“

„Ja.“

„Gut. Ich möchte, dass du mich begleitest.“

Als ob sie darüber nachdenken müsste. Und ihre Bereitschaft resultierte nicht nur aus einer Sehnsucht, an Striders Seite zu bleiben. Sie wollte auch, dass Paris glücklich wurde. „Natürlich.“

„Danke. Und ich liebe dich auch. Deshalb habe ich mich selbst herausgefordert, dafür zu sorgen, dass du für den Rest deiner Tage glücklich bist.“

Sie stöhnte. „Du musst damit aufhören.“ Wenn er ihretwegen – wieder – verletzt würde …

„Keine Sorge. Du darfst mich gern von den Vorzügen überzeugen, die es hat, wenn ich mich nicht selbst herausfordere, Baby Doll.“

„Und wie soll ich das anstellen, hm?“

„Sei nicht albern. Mit deinem Körper natürlich.“

Sie bedeckte sein Gesicht mit kleinen Küssen. „Das werde ich auch. Aber wolltest du mir nicht noch etwas sagen?“

„Doch, aber woher weißt du das?“

Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. „Klug, du erinnerst dich?“

Er setzte sich auf, griff nach unten und wühlte in der Tasche seiner Hose, die neben dem Bett lag. Als er sich wieder aufrichtete, streckte er seine Hand aus. Von seinen Fingern baumelte eine Kette herab. „Hier.“

„Was ist das?“, fragte sie, während sie sich neben ihm hinsetzte und die Kette an sich nahm. Eine dünne Holzscheibe hing an den Gliedern. In der Mitte befand sich ein verschlungener, zu einer Seite geneigter blauer Schmetterling, der genauso aussah wie das Tattoo auf seinem Bauch und seiner Hüfte.

Er errötete. „Es ist eine Kette. Also, ein Medaillon. Es ist nicht so schön wie das deiner Mom oder wie das, welches sie dir gegeben hat, aber …“

„Die Schnitte in deiner Hand“, sagte sie atemlos. „Du hast es selbst geschnitzt.“

Er nickte.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie das Medaillon, das Tabitha ihr gegeben hatte, abnahm, auf den Nachttisch legte und das neue anlegte. „Das hier ist schöner als das von meiner Mutter.“ Sie schlang ihm die Arme um den Hals. „Ich liebe dich, Strider. Vorhin habe ich nur einen Scherz gemacht, aber jetzt meine ich es ernst.“

Er lachte warm und heiser. „Eigentlich bevorzuge ich Bonin’. Und ich liebe dich auch, Rotschopf. Mehr, als ich in Worte fassen kann.“

„Sabin hat sich nach der Hochzeit bloß Gwens Namen auf verschiedene Körperteile tätowieren lassen, der Loser“, sagte sie und fuhr mit den Fingern über das Medaillon. „Ich bin ein echter Glückspilz.“

Er erstarrte. „Ach ja, apropos verheiratet …“

„Endlich“, sagte sie lachend. „Aber wenn du mir etwas gestehen musst, gibt es dafür einen besseren Zeitpunkt. Zum Beispiel kurz bevor du in mir bist.“

„Du weißt, dass wir verheiratet sind“, stellte er fest und sah sie dabei intensiv an. Sie nickte. Er entspannte sich. „Woher?“

„Einige Leute können einfach keine Geheimnisse für sich behalten und täten besser daran, alles ihrer verliebten Ehefrau anzuvertrauen.“

„Kaia.“

„Also schön. Ich habe die Verbindung gespürt.“

„Weil ich in deinem Kopf gesprochen habe, wette ich. Ich hätte es wissen müssen.“ Dabei grinste er. „Und es macht dir nichts aus?“

„Ausmachen? Ich will deine Frau sein. Du erinnerst dich sicher noch daran, welche Träume ich als junges Mädchen hatte, oder?“ Sie knabberte auf ihrer Unterlippe. „Aber … vielleicht solltest du dir meinen Namen auch überall eintätowieren lassen. Ich meine, das Medaillon ist wirklich wunderschön, aber die Tinte wäre der Zuckerguss auf dem Kuchen. Sie würde beweisen, dass wir ein besseres Paar sind als Sabin und Gwen.“

„Wird erledigt.“

Als sie sich auf ihn setzte, umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen. „Nicht, dass ich an deinen Worten zweifle, aber du musst mir unbedingt deine Liebe beweisen. Du weißt doch noch, dass du mir das versprochen hast, oder?“

„Allerdings. Sag mir einfach wie“, flüsterte sie atemlos, denn sie wusste genau, wohin das führen würde. „Ich meine, ich liebe dich schließlich auch um deines Intellekts willen. Also könnte ich wahrscheinlich stundenlang hier sitzen und dir beschreiben, wie sehr ich mich an deinen genialen Ideen erfreue. Und dann könnte ich …“

„Lass uns heute mal so tun, als ob du mich nur wegen meines Körpers lieben würdest.“ Er legte sich hin und zog sie mit sich nach unten. „Du kannst oben anfangen und dich langsam nach unten vorarbeiten. Ach so, währenddessen kannst du mir natürlich auch gerne zeigen, wie dankbar du mir für meine genialen Einfälle bist. Ich meine, deine Schwester ist schließlich allein meinetwegen in Sicherheit. Da ist das schon das Mindeste, was du tun kannst.“

Sie verkniff sich ein Lachen. „Hast du gar keine Angst, dass ich dich herausfordere?“

Seine Augen leuchteten. „Baby Doll, ich wäre enttäuscht, wenn du es nicht tun würdest.“