3. KAPITEL

Verschwinde, klar?“, zischte Kaia ihm ins Ohr, als sie mit Paris die Stufen hinunterging, die sie in die Freiheit führten … und zu Strider. „Du bist wie ein lästiger Ausschlag, der immer wiederkommt.“

Er lachte donnernd, und dieses Lachen war von einem gewissen Schmerz durchsetzt.

„Im Ernst. Noch nie hat Strider mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt, und du ruinierst alles. Hau ab, bevor ich dich haue.“

Paris blieb stehen und packte sie beim Arm, womit er sie ebenfalls zum Stehenbleiben zwang. Seine Belustigung war einem Ausdruck des Mitgefühls gewichen. Die goldenen Strahlen der Sonne, die ihn zärtlich streichelten, ließen sein Gesicht förmlich leuchten. Was für ein schöner Mann! Selbst die Naturgewalten hatten Schwierigkeiten, ihm zu widerstehen.

„Hör gut zu, Süße. Ich gebe dir jetzt nämlich einen Tipp, der dir das Leben retten könnte. Sei ein braves Mädchen, und ärgere den Bären heute nicht. Er ist ohnehin schon gereizt.“

Sie kniff die Augen so fest zusammen, dass die Wimpern miteinander verschmolzen, und fixierte Paris. „Ich dachte, du wärest ein schlaues Kerlchen, so schnell, wie du mir auf die Schliche gekommen bist. Aber … hallo?! Manchmal muss der Bär ein bisschen geärgert werden, weil er sonst nie aus seinem Winterschlaf erwacht.“

Einer seiner Mundwinkel zuckte. „Ach ja? Dann frag dich doch mal, was ein Bär nach dem Winterschlaf als Erstes macht.“

Oh Mann. „Er frisst. Und ehrlich gesagt freue ich mich schon riesig darauf.“

„Ja, ja, ich weiß. Das kann lustig sein.“ Paris’ Mund zuckte noch immer, als er sich zu ihr hinüberbeugte und flüsterte: „Aber soll ich dir noch was sagen? Bären quälen ihre Beute gern. Bären lieben es, ihre Beute zu quälen, Kye. Sie sind gemein. Wenn ein Mensch einem Bären in die Quere kommt, vor allem nach einem ausgedehnten Schlaf, endet das immer unschön. Gib diesem hier Zeit, sich an deine listige Art zu gewöhnen.“

„Erstens bin ich nicht gerade ein Mensch“, erwiderte sie und hob dabei das Kinn. „Und zweitens habe ich eine Wahnsinnsneuigkeit für dich, meine kleine Zuckerschnecke. Ich bin stärker als du. Stärker als er. Stärker als ihr alle zusammen. Ich komme mit allem zurecht, was er mir vorsetzt.“

„Jetzt reicht’s mir aber“, knurrte Strider unvermittelt. „Wir müssen los, Paris. Du kannst also aufhören, dich an unsere Flüchtige ranzumachen.“

Unsere hatte er gesagt. Nicht deine. Ein wirklich guter Fortschritt. Kaia bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken, als sie sich von Paris abwandte und sich langsam zu Strider umdrehte. Ihre Wut auf ihn war schon um ein paar Grad abgekühlt. Ihr stockte der Atem. Paris war schön, ja, aber Strider … Strider war umwerfend.

Nach Wochen hatte sie ihn vorhin im Eingangsbereich des Polizeireviers zum ersten Mal wiedergesehen. Kahle weiße Wände hatten ihn umgeben, und ihre Knie waren weich geworden. Seine nur mit den Fingern gekämmten Haare waren total zerzaust gewesen und hatten in sämtliche Richtungen abgestanden. Er hatte sie mit seinen marineblauen Augen von oben bis unten gemustert, war dabei an den richtigen Stellen mit dem Blick hängen geblieben und ihr Magen hatte gezittert.

Nun, als sie ihn zum zweiten Mal ansah … Er war groß und überragte sie, obwohl sie einige Stufen über ihm stand und High Heels trug. Seine prächtigen Muskeln ließen sich von der langen Lederjacke, dem engen schwarzen Shirt und der Jeans nicht verbergen. Und, Götter, sein Gesicht. Dieses ach so unschuldige und zugleich so verruchte Gesicht eines gefallenen Engels.

Zuerst hatte sie den wunderbaren Gegensatz in seinem Gesicht gar nicht erkannt. Sie hatte nur die Unschuld gesehen und war damit fortgefahren, nach jemandem mit den Qualitäten zu suchen, die sie besonders attraktiv fand: grüblerisch, gefährlich und vorübergehend interessiert.

Deshalb hatte Paris ihr Interesse geweckt.

Er trauerte um den Verlust seiner Menschenfrau. Grüblerisch – Kriterium erfüllt. Er war abhängig von Ambrosia und in der Lage, ohne zu zögern zu töten. Gefährlich – Kriterium erfüllt. Er war mit Sicherheit eine einmalige Sache und würde nicht klammern. Vorübergehend interessiert – Kriterium erfüllt. Doch als sie sich nach ihrem Schäferstündchen heimlich aus seinem Bett gestohlen hatte – eine Harpyie ging immer nach dem Hauptereignis –, hatte sie sich hohl und leer gefühlt.

Was vermutlich der Grund dafür war, dass sie wenige Wochen später für ein paar Sekunden zu ihm zurückgekehrt war. Sie hatte sich so fühlen wollen, wie sie sich gefühlt hatte, als sie zusammen gewesen waren. Satt. Befriedigt. Doch er hatte sie abgewiesen und aus seinem Zimmer geschoben, da er körperlich nicht in der Lage gewesen war, die Sache zu wiederholen. Sicher, er hätte sie befriedigen können, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen, aber das wäre aus purem Mitgefühl geschehen und für sie nicht zu tolerieren gewesen.

Und da sie bei diesem zweiten Verführungsversuch nichts als einen Morgenmantel getragen hatte, hatte sie das Zimmer auch in nichts als einem Morgenmantel wieder verlassen – und ganz in Gedanken vertieft war sie auf dem Flur direkt mit Strider zusammengestoßen.

Da hatte sie zum ersten Mal das Böse in seinen Augen gesehen.

In diesem Moment hatte sie das Gefühl gehabt, in ihr würde ein Schalter umgelegt. Mit Paris ins Bett zu gehen war ein Fehler gewesen. Der Mann, der vor ihr stand, war alles, was sie sich je gewünscht hatte, und noch viel mehr.

Seine Haare waren feucht gewesen und hatten an seinen Schläfen geklebt, wodurch sie dunkler gewirkt hatten. Um seinen Hals hatte er ein weißes Handtuch geschlungen, und er hatte kein Hemd getragen, das seinen faszinierend definierten Bauch versteckt hätte. Wie hypnotisiert hatte sie beobachtet, wie kleine Schweißtropfen an den goldenen Härchen entlangwanderten, die vom Bauchnabel abwärts wuchsen, ehe sie im Paradies verschwanden. In einem Paradies, das sie besuchen wollte. Mit ihrer Zunge.

Seine Shorts saßen so tief auf der Hüfte, dass sie die zerklüfteten Ränder des saphirblauen Schmetterlingstattoos sehen konnte, das er auf der rechten Hüfte trug. Ihr Mund wurde trocken. Offensichtlich hatte er gerade ein Work-out hinter sich. Ein sehr intensives Work-out. Noch immer ging sein Atem schwer zwischen den geöffneten Lippen. Lippen, die unsägliche Lust versprachen, während sie sich in sündhafter Belustigung verzogen.

„Hübsches Outfit“, sagte er, wobei er sie langsam von ihren zerrauften Haaren bis zu den pinkfarbenen Fußnägeln musterte – und mit seinem Blick an ihren kleinen Knospen und zwischen ihren zitternden Oberschenkeln hängen blieb.

„Das war alles, was ich gefunden habe“, erwiderte sie mit unsicherer Stimme und in der Befürchtung, dass sich die Situation womöglich zur unsterblichen Version des Walk of Shame entwickelte. Wie kann ich das nur wieder in Ordnung bringen?

„Da hat der Morgenmantel aber Glück gehabt. Allerdings würde er ohne den Gürtel noch besser aussehen.“

Okay, vielleicht brauche ich gar nichts in Ordnung zu bringen. Zum ersten Mal seit ihrer Bekanntschaft hatte Verlangen in seiner Stimme gelegen. Und dieses Verlangen berührte sie bei Weitem mehr als ihr Abenteuer mit Paris. „Ach ja?“

„Allerdings. Und suchst du jemand Bestimmtes?“

„Kommt drauf an.“ Die Erregung rauschte durch ihren Körper. Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Was schlägt dieser Jemand denn so vor?“

Hinter ihr ging quietschend eine Tür auf. „Kaia?“, sagte Paris auf einmal, und sie drehte sich mit einem flauen Gefühl im Magen herum. Er warf ihr ein Paar pinkfarbene Fellpantoffeln zu. „Die hast du vergessen. Ich würde sie ja gern behalten, aber sie sind mir etwas zu klein.“

„Oh.“ Die Schuhe landeten direkt vor ihr auf dem Boden. „Danke.“

„Keine Ursache. Hey, Strider“, rief Paris.

„Hey“, erwiderte er knapp. „Interessante Nacht gehabt?“

„Geht dich nichts an.“

Als Paris in seinem Zimmer verschwunden war, wandte Kaia sich wieder Strider zu, dessen Gesichtsausdruck nun verschlossen war.

„Interessante Nacht gehabt?“, richtete er die Frage diesmal an sie.

Sie schluckte. „Eigentlich nicht. Es ist nichts passiert. Diesmal“, zwang sie sich hinzuzufügen. Wenn er heute Abend irgendetwas Verbotenes mit ihr anstellte und erst danach die Wahrheit über sie und Paris herausfände, würde er sie hassen. Also lieber alle Karten auf den Tisch legen. Außer …

„Man sieht sich, Kaia.“ Strider war an ihr vorbeigegangen und hatte sich davongemacht, statt sie mit dem aufzuziehen, was sie getan hatte. Oder sie zu fragen, was wirklich geschehen war. Oder sich in irgendeiner anderen Form dafür zu interessieren.

Offensichtlich war die plötzliche Anziehung, die sie verspürt hatte, doch nur einseitig gewesen.

„… mir verdammt noch mal zuhören!“, knurrte Strider in diesem Augenblick und holte sie in die Gegenwart zurück. „Nicht, dass ich darauf bestehe, aber du machst meinen Dämon wütend.“

Sie machte seinen Dämon wütend? Sie wollte seinen Dämon verführen. Nicht wahr? Oder hatte sie die zwei bereits abgeschrieben, so wie sie es Bianka gesagt hatte?

Kaia blinzelte, konzentrierte sich und musterte ihn abermals. Vor Wut hatte sein Gesicht messerscharfe Züge angenommen, und diesmal knickten ihre Knie tatsächlich ein wenig ein. Er ist so verdammt umwerfend. Ein Wilder, ein Wüstling. Paris fing sie auf, bevor sie auf den Gehweg stürzte, und hielt sie fest.

Oh Götter. Schwäche? Hier? Jetzt? Ihre Wangen glühten vor Scham.

Strider machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu, erstarrte dann aber. „Paris, Alter, lass sie los“, knurrte er, und Paris gehorchte augenblicklich. Strider fixierte sie mit einem animalischen Blick aus seinen blauen Augen. „Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen, Kaia?“

Den Göttern war Dank. Er brachte ihre Schwäche mit Nahrungsmangel in Zusammenhang und nicht mit seinem unwiderstehlichen Anblick. Sie zuckte die Achseln und war froh, sich aus eigenen Kräften auf den Beinen halten zu können. „Keine Ahnung.“

Da sie sich entschieden hatte, keinem ihrer Mitgefangenen die Essensschale zu stehlen, und zwei Tage lang im Knast gesessen hatte … nun ja, sie war am Verhungern.

Okay. Sie hätte essen können. Wie immer war Bianka gekommen, um sie zu retten. Sie hatte sie rausholen und ihr etwas zu essen geben wollen. Kaia aber hatte ihre Schwester mit der strengen Warnung, nicht wiederzukommen, – gefolgt von einer angedeuteten Ohrfeige – weggescheucht. Sie hatte ihr damit gedroht, dafür zu sorgen, dass sich der Spitzname Hure der Himmlischen Hügel verbreitete und in den Köpfen aller hängen bliebe. Für immer.

„Verdammt, Kaia. Du zitterst und kannst dich kein bisschen konzentrieren.“ Sein Blick flog zu Paris. „Ruf Lucien an, damit er uns abholt. Wir treffen uns dann in Buda. Ich werde ihr etwas zu essen besorgen, und dann können wir …“

Paris schüttelte den Kopf. „Ich werde Lucien anrufen, damit er uns abholt. Aber ich werde nicht in Buda auf dich warten. Wenn du dein Ding hier geregelt hast, wie die Kids von heute sich ausdrücken, sorg dafür, dass Lucien oder Lysander dich in den Himmel bringen. Einer von beiden wird wissen, wo ich bin.“

Strider nickte steif.

Paris wuschelte kurz durch Kaias Haare, ehe er um die Ecke verschwand und sie mit dem Krieger ihrer Träume allein ließ. Genau das hatte sie insgeheim gehofft, als sie Bianka aus der Zelle geschoben und sich wieder eingeschlossen hatte.

Sie starrten einander eine ganze Weile an, ohne dass einer von ihnen sich bewegte oder ein Wort sprach. Die Spannung wuchs. Noch nie war seine Kriegernatur offensichtlicher gewesen. Seine Arme baumelten links und rechts an den Seiten hinunter, seine Hände waren nur Zentimeter von den nun sichtbaren Schäften seiner Waffen entfernt und er hatte den typischen breitbeinigen Stand des zum Angriff bereiten Kämpfers eingenommen. Zum Angriff auf sie? Oder auf jeden, der vorhatte, ihr wehzutun?

Schließlich konnte sie die Stille nicht länger ertragen. „Du willst in den Himmel?“

Er nickte. Seine Haut sah im Sonnenlicht aus wie poliertes Gold. Die animalische Wildheit fiel von ihm ab. Er schien sich sichtbar zu entspannen. Diese Seite von ihm gefiel ihr auch.

„Warum?“ Was sie eigentlich wissen wollte: Wie lange wirst du weg sein? Triffst du dich dort mit einer Frau? Mit einem Engel? Sein Freund Aeron hatte sich in so einen geflügelten Tugendbold verliebt. Warum also nicht auch Strider?

Ich werde die Schlampe umbringen.

„Bist du sicher, dass du das wissen willst?“, entgegnete er. „Es hat mit Paris und einer anderen Frau zu tun. Mit einer Frau, die er will.“

Erleichterung machte sich in ihr breit. „Super! Klatsch und Tratsch.“ Grinsend rieb sie sich die Hände. „Leg los.“

Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Ich tratsche nicht gern, Kaia.“

„Ach so“, murmelte sie und ließ enttäuscht die Schultern hängen.

„Du hast mich nicht ausreden lassen. Ich tratsche nicht gern, also hör mir jetzt gut zu.“ Sie bemerkte, dass er sich ein Lächeln verkneifen musste, und freute sich darüber. „Die Frau, die Paris liebt … hasst, was auch immer. Wie gesagt: Er will sie, und sie wird dort oben gefangen gehalten.“

Ach soooo. Strider würde seinen Kumpel in einem Kampf unterstützen und nicht für einen Quickie mit einer großäugigen, erntereifen Flügelstürmerin in die Wolken reisen. Ihre Erleichterung verdreifachte sich. „Ich könnte, keine Ahnung, dir helfen, ihm zu helfen. Ich habe da oben ein paar Verbindungen“, was nicht unbedingt eine Lüge war, „und ich …“

„Nein!“, schrie er, bevor er etwas ruhiger wiederholte: „Nein. Aber trotzdem danke. Allerdings … Macht es dir wirklich nichts aus, dass der Mann, den du begehrst, scharf auf eine andere ist?“

„Moment. Wer sagt denn, dass ich ihn begehre?“

„Tust du das denn nicht?“

„Nein.“

Zwar blieb seine Miene unverändert, aber er räusperte sich. „Na ja, geht mich ja auch nichts an. Zurück zum eigentlichen Thema: Paris hat Lysander um etwas Engelsbeistand gebeten und einen Korb kassiert.“

„Natürlich wird Lysander ihm nicht helfen. Aber Bianka würde er helfen, und Bianka würde mir helfen.“

„Nein. Tut mir leid.“

Sturer Esel. Er wollte sie so dringend loswerden, dass er nicht mal erwog, sie auszunutzen. Noch eine Zurückweisung – wie seltsam.

Mit steifen Bewegungen winkte er sie zu sich herüber. „Komm. Wir kümmern uns erst einmal um deinen Hunger.“

Alles, was ich will, ist ein paarmal an dir knabbern. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme schon alleine klar.“

„Ich weiß, aber ich bleibe, bis du satt bist. Ich will sichergehen, dass du nicht wieder verhaftet wirst.“

Ihre Harpyie kreischte in ihrem Kopf. Sie wollte Strider beweisen, wie fähig und stark sie war. Ach ja? Bist du das? „Na schön. Ach, hier kommt übrigens ein Wahrheitsgeschoss für den Dämon, der immer gewinnen will. Ich bezweifle, dass du das kannst“, spöttelte sie aus purer Gewohnheit.

Er atmete heftig aus. Vermutlich war damit die zweite Runde des Wütendseins eingeläutet.

„Du gehst vor“, befahl er knapp, bevor sie sich entschuldigen konnte.

Okay, vielleicht hätte sie nicht so provokant sein sollen. Mein Fehler. „Mach ich.“ Aber sie würde nicht mit ihm auf Essensjagd gehen. Noch nicht. Stattdessen führte sie ihn zu der Hütte, die sie sich mit Bianka in sicherem Abstand von der Zivilisation teilte. Zum Glück war ihre Schwester nicht da. „Sieh dich ruhig um. Ich muss duschen und mich umziehen.“

„Kaia“, begann er und ging hinter ihr den Flur entlang. „Ich bin ein wenig unter Zeitdruck und muss wegen dem, was du gesagt hast, bei dir bleiben und …“

Sie schloss die Schlafzimmertür vor seinem verblüfften Gesicht, hörte ihn knurren und grinste. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke, und das Grinsen verschwand. In der Küche lag eine Menge gestohlenes Essen herum. Wenn er das bemerkte, gäbe es keinen logischen Grund mehr für sie, mit ihm auf Jagd zu gehen.

Das muss ich riskieren. Ich stinke. Kaia nahm eine schnelle Dusche und war dankbar, als der Schmutz und das mittlerweile pappige Ganzkörper-Make-up von dem warmen Wasser weggespült wurden. Beinahe wäre sie aus ihrem Zimmer gestürzt, nachdem sie sich in ein pinkfarbenes Glitzer-T-Shirt mit dem Aufdruck „Fremde haben die besten Bonbons“ und eine kurze Jeansshorts geworfen hatte, sah sich jedoch gerade noch rechtzeitig im Spiegel. Ihr Outfit war okay, aber ihre Haare nicht. Die rote Matte war triefend nass und klebte förmlich an ihrem Kopf und an den Armen, sodass sie wie ein durchnässter Clown aussah.

Wieder im Badezimmer föhnte sie sich schnell. Sie erwog, eine neue Schicht Make-up aufzutragen, da Strider sie um ihretwillen begehren sollte und aus keinem anderen Grund, verwarf die Idee jedoch wieder. Sollte Strider es doch sehen. Sollte Strider sich doch nach ihr verzehren. Im Augenblick würde sie ihn nehmen, wie immer sie ihn kriegen konnte. An den Gründen dafür könnten sie später noch arbeiten.

Falls sie sich entschied, ihm noch eine Chance zu geben.

Endlich eilte sie aus dem Zimmer. Sie war in Rekordzeit fertig geworden. Knapp unter zwanzig (vierzig) Minuten.

Eine duftende Wolke folgte ihr den Flur hinunter. Kein Strider im Wohnzimmer, wo ihre lebensgroße Hulatänzer-Lampe und die Burg aus leeren Bierdosen standen. Anscheinend schaute er sich um. Sie fragte sich, was er von ihrem Zuhause und ihren persönlichen Sachen denken mochte, und versuchte, das Zimmer mit seinen Augen zu sehen.

Abgesehen von dem Couchtisch, dessen geschnitzter Holzfuß einen Sumoringer darstellte, der sich vornüberbeugte und eine dünne Glasplatte trug, und dem Stuhl, dessen Armlehnen wie Menschenbeine aussahen, die sich bis zum Boden erstreckten, war ihr Mobiliar hübsch. Bianka und sie hatten sich die Stücke über die Jahrhunderte zusammengeklaut.

Der Duft der Geschichte klebte an fast jedem der polierten Möbelstücke. Na ja, außer vielleicht an dem weißen Läufer, an dessen Ende zwei gelbe Kissen genäht waren, sodass das Ganze wie Spiegeleier in einer Bratpfanne aussah. Oder an dem Hamburger-Sitzsack – komplett ausgestattet mit Blattsalat, Tomate und Senf –, aber das war’s dann auch.

Und – na ja gut – vielleicht hatten sie sich das Sofa und den Doppelsitzer, die nicht älter als zehn Jahre waren, vor allem unter dem Aspekt der Gemütlichkeit ausgesucht. Vor ein paar Jahren hatte sie eine Verbindungsparty gesprengt und das Gefühl genossen, wie sich die üppigen Kissen ihrem Körper angepasst hatten. Außerdem war die Garnitur gelbbraun, beinahe so wie Biankas Augen, weshalb sie darauf bestanden hatte, sie mitzunehmen. Es hatte ja auch niemand versucht, sie davon abzuhalten. Was möglicherweise daran lag, dass sie die Teile über ihrem Kopf getragen hatte. Alleine.

Bunte Vasen zierten die Tische. Hier und da saßen individualisierte Wackelkopffiguren und ein ausgestopftes Eichhörnchen in verrückten Klamotten. Waffen und Kunstwerke hingen an den Wänden rechts neben den selbst gemachten Tafeln, auf denen ihr zu besonders gut erfüllten Missionen gratuliert wurde. Ihr Lieblingsstück: die Tafel, auf der Bianka ihr für das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten dankte – für die Zunge des Mannes, der sie eine „hässliche, gemeine Hexe“ genannt hatte.

Außerdem hingen hier Fotos von ihr und ihrer Familie. Von Bianka genauso wie von ihrer jüngeren Schwester Gwen und ihrer älteren Halbschwester Taliyah. Kaia, die in Clubs feierte, Bianka, die Schönheitswettbewerbe gewann, Gwen, die versuchte, sich vor der Kamera zu verstecken, und Taliyah, die stolz über ihren toten Opfern stand. Und gewinnsüchtig, wie sie war, hatte sie viele Todesopfer zu verzeichnen.

In der Küche … Kaia blieb abrupt stehen, und ihr Herz fing an, heftig gegen ihre Rippen zu schlagen. Strider. Der umwerfende, sexy Strider. Er saß an dem Billardtisch, den sie bei ihrem allerersten Besuch in Buda aus seiner Burg gestohlen und zum Frühstückstisch umfunktioniert hatte. Über den gesamten Tisch lag Essen verteilt – von Chipstüten über Käsescheiben bis zu Schokoriegeln.

Er sah nicht in ihre Richtung, und dennoch erstarrte er, als sie den Raum betrat. „Da all diese Sachen hier liegen, bin ich davon ausgegangen, dass du sie essen kannst. Was bedeutet, dass ich die Herausforderung gewonnen habe. Ich habe dich überlistet und übertroffen.“

„Danke“, erwiderte sie trocken. Was für eine Enttäuschung. Ausnahmsweise wünschte sie, der Mann ihrer Träume vergäße, dass er ein Gehirn und ein Gedächtnis hatte.

Sie lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Magen zog sich zusammen und drohte zu knurren, doch sie verharrte wartend an Ort und Stelle. Erst wenn er sie intensiv gemustert hätte, würde sie sich bewegen.

„Kaia. Iss.“

„Gleich. Ich genieße den Anblick. Solltest du auch mal versuchen.“

Er verkrampfte noch mehr. „Am Kühlschrank hängt eine Nachricht von deiner Schwester. Sie ist bei Lysander im Himmel und trifft dich in vier Tagen bei den Spielen.“

„Okay.“

„Was für Spiele sind das? Ach, egal“, beeilte er sich zu sagen, ehe sie antworten konnte. „Ich will es gar nicht wissen. Was für ein Parfum trägst du? Ich mag es nicht.“

Arschgesicht. „Ich trage überhaupt kein Parfum.“ Und sie wusste, dass er ihren Duft liebte. Er hatte eine Schwäche für Zimt. Das war ihr aufgefallen, während sie ihn verfolgt … äh … während sie Zeit mit ihm verbracht hatte.

Binnen Stunden, nachdem sie von diesem Faible erfahren hatte, hatte sie ihren Vorrat an Seife, Shampoo und Conditioner mit Zimtduft aufgestockt.

„Hör auf, den Anblick zu genießen, und iss endlich“, erwiderte er durch zusammengebissene Zähne.

Er hatte die Vorhänge an dem einzigen Fenster zugezogen und das Licht eingeschaltet. Zwar brachte natürliches Sonnenlicht ihre Haut am besten zur Geltung, aber … Oh Mann, wen wollte sie mit ihrem zurückhaltenden Getue eigentlich veräppeln? Jedes Licht brachte ihre Haut zur Geltung.

„Kaia. Komm her. Iss was. Sofort.“

Götter, wie sie diesen autoritären Ton liebte! Auch wenn das ein Fehler war. Eigentlich sollte sie ihn hassen – schließlich war es eine Sünde, dass Barbaren für moderne Frauen attraktiv waren –, aber dennoch erzitterte sie. „Du musst mich schon dazu zwingen.“ Bitte.

Endlich wanderte sein Blick zu ihr herüber, und in der nächsten Sekunde war er auch schon aufgesprungen, und sein Stuhl rutschte hinter ihm über den Boden. Er öffnete und schloss den Mund. Seine Pupillen weiteten sich. Er leckte sich die Lippen. Er streckte die Hände aus, um sich an der Tischkante festzuhalten, während sich seine Nasenflügel aufblähten, als er um Luft rang. „Du … Deine … Verdammt!“

Mit hämmerndem Puls drehte sie sich langsam. Sie wusste, was er sah: Splitter des Regenbogens, die hypnotisch über jeden Zentimeter sichtbarer Haut tanzten, eine gesunde und vitale Röte … die versprochene Verführung. „Gefällt es dir?“

Wie in Trance ging er um den Tisch herum und auf sie zu. Kam näher … blieb kurz vor ihr stehen und fluchte. Er wirbelte herum, drehte ihr den Rücken zu und fuhr sich durch die Haare.

„Ich muss los“, sagte er heiser. Die Worte klangen, als müssten sie sich durch einen Fluss aus zerbrochenem Glas kämpfen.

Was? Nein! „Du bist doch gerade erst gekommen.“ Und er war so kurz davor gewesen, sie zu berühren. Allein beim Gedanken daran richteten sich ihre Brustwarzen auf, und zwischen ihren Beinen wurde es feucht.

„Du weißt doch, dass ich Paris versprochen habe, ihm zu helfen. Ich muss ihm helfen. Ja, genau das muss ich tun.“

Ob sie seine Entschlossenheit, ihr zu widerstehen, jemals bezwingen könnte? Denn sie wollte ihn. Sie wollte ihm noch eine Chance geben. Und noch eine. So viele er bräuchte, bis er endlich das Richtige täte. „Strider, ich …“

„Nein. Nein. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dabei bin, über eine unglückliche Frauengeschichte hinwegzukommen, und dass ich mich nie mit jemandem einlassen würde, der mit einem meiner Freunde zusammen war.“

Ach wirklich? „Diese unglückliche Frauengeschichte heißt nicht zufälligerweise Haidee, oder? Es ist nicht zufällig die Frau, die dich nicht wollte? Die Frau, die – was? Mit einem deiner Freunde zusammen ist?“

Schweigen. Ein schweres, schreckliches Schweigen.

Er würde sich nicht verteidigen. Würde nicht mal versuchen, seine unlogischen Entscheidungen und Beweggründe zu erklären. Er hatte Haidee den Mord an Baden vergeben. Warum konnte er Kaia nicht ihre Nacht mit Paris verzeihen?

„Du bist kein Unschuldslamm, Strider. Du hast schon mehr Frauen flachgelegt, als man zählen kann. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, hast du gerade die Pfirsich-Bodylotion vom Körper einer Stripperin geleckt.“ In jenem Moment hatte Kaia beschlossen, dass Pfirsiche die ekelhaftesten Früchte aller Zeiten waren und die Welt ohne sie besser dran wäre.

Sie hatte bereits an ihren Kongressabgeordneten geschrieben und verlangt, alle Pfirsichplantagen niederbrennen zu lassen.

„Ich habe nie behauptet, ein Unschuldslamm zu sein. Ich habe nur gesagt …“

„Ich weiß schon. Dass du mit niemandem zusammen sein kannst, der was mit deinen Freunden hatte. Dann bist du auch ein Lügner. Aber vielleicht … Ich weiß nicht, vielleicht könntest du mit einer meiner Freundinnen schlafen. Dann wären wir gewissermaßen quitt.“ Oh Götter.

Erstens: Wie verzweifelt musste sie sich anhören? Unerträglich verzweifelt! Sie hatte doch genau gewusst, dass so etwas geschähe, wenn sie noch einen Eroberungsversuch starten würde. Und dennoch hatte sie es getan. Wie ein Pawlowscher Hund fing sie jedes Mal an zu sabbern, wenn sie Strider sah, und verriet ihren Stolz für jeden noch so kleinen Schnipsel Aufmerksamkeit, den er ihr hinwarf.

Zweitens: Beim Gedanken daran, dass dieser Mann mit einer anderen zusammen war, wuchsen ihre Krallen, und die Harpyie in ihr fing zu schreien an. Ihre Flügel flatterten genauso arrhythmisch wie ihr Herz, wodurch sich ihr T-Shirt hob und senkte, hob und senkte.

Wenn sie nicht aufpasste, würde ihre Harpyie die Kontrolle übernehmen. Ihr Sichtfeld würde schwarz, und ein unbändiges Verlangen nach Blut würde sie verschlingen. Sie würde durch die Nacht irren und jedem wehtun, der ihr in die Quere käme.

Einzig Strider wäre in der Lage, sie zu beruhigen, doch das wusste er nicht. Und selbst wenn er es wusste, er wollte diese Verantwortung ganz offensichtlich nicht. Schließlich tat er alles in seiner Macht Stehende, um sie wegzustoßen.

„Ich werde nicht mit einer Freundin von dir schlafen“, erwiderte er tonlos.

Ihr Körper verströmte eine heiße Spannung. „Gut. Das ist gut. Meine Freundinnen sind sowieso allesamt hässliche Hexen.“ In Wahrheit waren sie alle atemberaubend schön, aber wenn er ihr Angebot angenommen hätte, hätte sie ihnen auf der Stelle die Freundschaft gekündigt und sich neue Freundinnen gesucht. Hässliche.

„Kaia. Es gibt nichts, was du sagen könntest, um mich umzustimmen. Ich mag dich, wirklich. Du bist schön und klug und verdammt witzig. Und dazu noch stark und mutig. Aber zwischen uns wird niemals irgendwas laufen. Tut mir ehrlich leid. Ich sage das nicht, weil ich fies sein will, sondern weil ich dir nichts vormachen möchte. Wir tun einander einfach nicht gut. Wir passen nicht zusammen. Tut mir leid“, wiederholte er.

Sie taten einander nicht gut? Was er tatsächlich meinte, war, dass sie ihm nicht guttat. Nachdem sie ihn gejagt, zu seinem Schutz einen Kampf verloren und sich wieder und wieder auf ihn geworfen hatte, passte sie nicht zu ihm. Und ihm … tat … es … leid.

Plötzlich verspürte sie das Verlangen, ihm das Gesicht zu zerfetzen. Sein Blut zu trinken.

Denk an das bevorstehende Turnier. Wenn sie ihn verletzte, würde sie auch sich verletzen, und dabei musste sie in Bestform sein.

Sie atmete tief ein, hielt die Luft so lange an, bis ihre Lunge brannte, und atmete dann ganz langsam jedes Molekül wieder aus. Vielleicht hatte sie gedacht, Strider verdiente etwas Besseres, jemand Besseren, aber nein – sie verdiente etwas Besseres als das hier. Oder?

Er schloss mit den lahmen Worten: „Ich hoffe, du verstehst mich.“ Anscheinend war er sich der Verwüstung, die er in ihr angerichtet hatte, überhaupt nicht bewusst. Oder vielleicht war es ihm auch einfach nur egal.

Strider musste unbedingt noch lernen, wie man angemessen mit seiner Harpyie umging.

Kaia würde es ihm beibringen.

Sie sollte zu ihm gehen und mit den Fingerspitzen über seinen Körper fahren, ehe er Zeit zum Weglaufen hatte – und dabei ihre sinnlichen Rundungen an ihn pressen. Sollte alles tun, um ihn zu erregen. Alles, um ihn zu zwingen, mehr in ihr zu sehen als die hübsche, kluge und lustige Frau, die den Hüter von Promiskuität gevögelt hatte. Und wenn er schließlich um Erlösung bettelte, sollte sie einfach weggehen.

Er wäre verletzt, aber er könnte besser nachvollziehen, wie sich scheußliche Brandmarkung anfühlte.

Doch Kaia schaffte es nicht, auch nur einen Schritt zu tun. Womöglich wäre am Ende wieder sie diejenige, die abgewiesen und unterliegen würde. Womöglich würde er sie wegstoßen, ehe sie zum Angriff ansetzen könnte. Und in den nächsten Wochen standen ihr auch so schon genügend Zurückweisungen und Niederlagen bevor.

Soviel zum Thema „ihm unzählige Chancen geben“.

„Ich verstehe dich gut“, flüsterte sie. „Viel Spaß auf deiner Reise.“ Eine Verabschiedung. „Ich habe auch vor, mich zu amüsieren.“ Eine Lüge. Auch wenn sie tatsächlich vorhatte, den Kopf nicht hängen zu lassen und es so vielen Harpyien zu zeigen wie möglich. So vielen Harpyien, dass ihr Clan noch mal über ihren Titel nachdenken müsste.

Nicht mehr Kaia die Enttäuschung. Vielleicht würde sie zu Kaia der Unaufhaltsamen. Oder zu Kaia der Tötomanin.

„Du … fährst weg?“, fragte er und klang erleichtert.

Keine Reaktion zeigen. „Jupp.“

Noch immer sah er sie nicht an. „Wohin denn? Und wann?“

Bloß keine Reaktion zeigen. „In vier Tagen. Ich fahre nach … ach, egal.“ Sie ging um ihn herum und setzte sich an den Tisch. „Das willst du gar nicht wissen, erinnerst du dich?“ In dem Bemühen, nonchalant, ja sogar selbstgefällig zu wirken, obwohl der Mistkerl ihr das Herz herausriss und darauf herumtanzte, riss sie eine Tüte Chips auf.

„Stimmt. Aber … pass auf dich auf. Wir sehen uns dann … pass einfach auf dich auf, okay?“

Er hatte sich gerade noch mal daran gehindert, „später“ zu sagen. Wir sehen uns dann später. Weil er nicht vorhatte, sie wiederzusehen. Jemals.

„Versprochen“, erwiderte sie, während sie zum zweiten Mal in ihrem Leben mit den Tränen kämpfte. Vermutlich hatte sie das verdient. Das war die Bestrafung für den unglückseligen Zwischenfall, für Paris, zur Hölle, für all die Zurückweisungen, die sie in all den Jahrhunderten ausgeteilt hatte. „Du auch.“ Sosehr sie ihn im Augenblick auch verachtete, sie wollte dennoch, dass er gesund und ganz blieb.

„Mach ich.“ Er ging aus ihrer Küche, aus ihrer Wohnung, aus ihrem Leben, und hinter ihm knallte die Haustür Unheil verkündend zu.