6. KAPITEL
Wie zum Teufel hatte das passieren können?
Strider tigerte in dem schmuddeligen Motelzimmer auf und ab. Das Eis in seinen Adern machte seine Bewegungen schleppend. Seine Stiefel hämmerten auf dem struppigen braunen Teppich, sodass ein kleiner Trampelpfad entstand.
Kaia saß mit besorgtem Gesicht auf dem Fernseher und beobachtete ihn. Die langen, glatten Beine hatte sie an den Knöcheln gekreuzt und schwang sie vor und zurück. In regelmäßigen Abständen schlugen ihre Füße gegen die Mattscheibe. Etwas schneller, und der Takt hätte zum Takt seines Herzschlags gepasst.
Sabin und Gwen saßen auf der Kante eines der Doppelbetten, Bianka und Lysander auf dem anderen. Taliyah hatte sich mit einer hübschen rothaarigen Frau mit Sommersprossen aus dem Staub gemacht, und keine von beiden hatte ein Wort darüber verloren, wohin sie gingen oder wie lange sie weg wären.
„Die Unaussprechlichen haben behauptet, sie hätten die Zweiadrige Rute“, fluchte er. Irgendwer musste die Unterhaltung/den heftigen Streit ja beginnen.
„Offensichtlich haben sie gelogen.“ Sabin stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ seinen Kopf in die Handflächen sinken.
Ja. Offensichtlich. Mist. Mist, Mist, Mist. „Das ist schlecht. Richtig schlecht.“
Er hätte es wissen müssen oder es zumindest ahnen. Stattdessen hatte Strider vor ein paar Wochen ihren Tempel aufgesucht. Es war ihm egal gewesen, diesen Ungeheuern den Umhang zu überlassen, weil er gedacht hatte, sie besäßen bereits ein anderes Artefakt. Warum nicht noch eins? Er hatte gedacht, sie würden beide Relikte bewachen, bis er zurückkäme, mit ihnen verhandelte und am Ende beide bekäme.
Er hatte falsch gedacht.
So ein Durcheinander! Wären die Unaussprechlichen im Besitz der Zweiadrigen Rute gewesen, hätten sie sie Juliette niemals gegeben. Nicht ohne Bezahlung, und als Bezahlung hätten sie nicht etwa Juwelen akzeptiert. Das Einzige, was sie wollten, war Cronus’ Kopf.
Da der Götterkönig noch am Leben war, hatte keinerlei Austausch stattgefunden. Was bedeutete, dass die Unaussprechlichen kein bisschen vertrauenswürdig waren und niemand sagen konnte, was sie mit dem Umhang machen würden, wenn Strider ihnen den gewünschten Kopf nicht lieferte.
Gewinnen, grummelte Niederlage. Keine Frage, sondern die unverblümte Annahme der auf der Hand liegenden Herausforderung.
Von seiner Seite sprach nichts dagegen. Auch wenn sie dann zwei offene Projekte hätten. Den Umhang und Kaia. Ich weiß. Geht klar.
Zuerst musste er die Zweiadrige Rute stehlen. Sabin hatte nicht gelogen. Wenn sie in die falschen Hände gelangte – und mit „falsch“ meinte er alle Hände, die nicht seine waren –, könnte die Büchse der Pandora gefunden werden, was für ihn und seine Freunde womöglich das Ende bedeutete. Ihre Dämonen würden aus ihren Körpern gerissen und zurück in die Büchse gesaugt werden.
In der Theorie ganz großartig, aber die Männer und ihre Bestien waren inzwischen fest miteinander verbunden. Der eine konnte ohne den anderen nicht leben. Würden sie getrennt, würden die Männer augenblicklich ins Gras beißen, und die Dämonen würden verrückt werden.
Ein unerträglicher Druck breitete sich in ihm aus. Er blieb mitten im Zimmer stehen und sah zu Kaia. „Wir müssen sie stehlen.“
Sie öffnete den Mund, diesen roten, sinnlichen, ach so verführerischen Mund. „Äh, wie war das?“
„Vergiss die Spiele, und hilf mir, die Rute zu stehlen.“ Wie ein braver kleiner Soldat knirschte er mit den Zähnen und fügte hinzu: „Bitte.“ Manchmal brauchte ein Kerl eben eine helfende Hand, und das hier war so eine Situation. Denn er wusste weder, wie der Verstand einer Harpyie funktionierte, noch wo Juliette ihren Schatz verstecken mochte.
Kaia war seine Insiderquelle. Sein einziger Zugang.
Ihre Pupillen weiteten sich – vor Wut. Großartig. Das war genau das, was er jetzt nicht gebrauchen konnte. Die kleine Lady war wütend, und sie hatte keine Angst, es zu zeigen. Als sie sich mit der Zunge über die Zähne fuhr, durchzuckte die Lust seinen Körper. Das Eis schmolz, und es blieb nur ein glühendes Inferno zurück, das in ihm die Sehnsucht weckte, ihre Wut noch weiter anzustacheln.
Zu diesem Zeitpunkt? Wirklich?
Es gibt keinen falschen Zeitpunkt, meldete sich seine Libido. Vielleicht greift sie dich an, aber wenigstens spürst du dann ihre Hände auf deinem Körper.
Er hätte sich selbst in den notgeilen Hintern treten können.
„Nicht nur nein, sondern verflucht noch mal nein!“, erwiderte sie und hob stur das Kinn.
Seine Lust wurde von Furcht verdrängt. Er kannte diese Haltung. Genauso hatte sie in einem Raum voller Harpyien gestanden. Sie hatten Kaia mit ihren Blicken bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, doch aus irgendeinem Grund hatte sie nicht klein beigegeben.
„Und du wirst sie auch nicht stehlen“, fügte sie hinzu.
Von wegen. „Versuchst du, mich zu bestrafen, Rotschopf?“ Er hatte den fatalen Fehler begangen, ehrlich zu ihr zu sein und ihr zu sagen, dass er hier war, um ihr zu helfen und nicht, um sie zu erobern. Dabei hatte er es besser gewusst. Man durfte eine Frau niemals in die Karten schauen lassen. „Wenn es nämlich so ist …“
„Oh, meine Götter. Bist du wirklich so egoistisch?“ Ihr silbergoldener Blick wurde scharf wie ein Dolch und schnitt sein Innerstes in Stücke. Er mochte es weder, wenn sie wütend war (jedenfalls zum Großteil nicht), noch wenn sie verletzt war. Und in diesem Augenblick schien sie beides zu sein. „Es geht nicht immer um dich, Strider.“
„Das weiß ich. Glaub mir, ich rufe einen Ego-Alarm nach dem anderen aus. Dann sag mir doch einfach, wo das Problem liegt. Ich erinnere mich da nämlich an eine gewisse rothaarige Harpyie, die einmal sagte, sie täte alles, solange es unsterblich sei und der Preis stimme. Also los. Nenn deinen Preis, und tu es.“
„Es gibt keinen Preis“, gab sie kurz angebunden zurück. „Nicht dafür.“
„Hast du Angst?“ Ein Schlag unter die Gürtellinie, ja, aber er war verzweifelt.
Sie hüpfte vom Fernseher und bleckte die Zähne. Ihre Eckzähne verwandelten sich in etwas, das noch viel gefährlicher war als dieser Dolch in ihrem Blick, und ihre Augen wurden schwarz.
„Jetzt wird sie es dir zeigen“, sang Bianka, und Lysander drückte ihr die Hand auf den Mund, damit sie nicht noch mehr sagte.
„Idiot“, murmelte Sabin. „Ich werde dir nicht helfen. Du hast nämlich verdient, was gleich passieren wird.“
„Ich habe vor gar nichts Angst.“ Kaia sprach mit zwei Stimmen gleichzeitig, und beide waren heiser, bedrohlich und … messerscharf. Sie atmete ein und aus, jedes Einatmen war mühsam, jedes Ausatmen abgehackt. „Du hast ein Riesenglück, dass meine Harpyie sich standhaft weigert, dir etwas anzutun. Sonst hätte ich dich schon längst zerfleischt. Und falls du versuchen solltest, die Rute zu stehlen, nachdem ich es dir verboten habe, werde ich dich zu Wettbewerben herausfordern, die du nicht mal in deinen kühnsten Träumen gewinnen kannst. Und zwar bis in alle Ewigkeit.“
Am liebsten hätte er sie geschüttelt. Und geküsst – aber natürlich nur, damit sie endlich den Mund hielte. Verflucht noch mal, selbst in diesem Moment schrammte sie nur haarscharf an einer Herausforderung vorbei. Niederlage pirschte in seinem Schädel von einer Seite zur anderen. Sein Mund schäumte förmlich vor Lust, es mit ihr aufzunehmen. Allein die Angst vor dem Verlieren hielt den Dämon davon ab, die Herausforderung anzunehmen.
Du bist derjenige, der unbedingt herkommen wollte. Du bist derjenige, der beschlossen hat, jeden umzubringen, der sie angreift. Ja, Strider hatte sich selbst in diese Situation gebracht. Irgendwie wollte er ihre Gegnerinnen ausnehmen und enthaupten, bevor sie auch nur einen einzigen Schlag gegen Kaia führen konnten. Seine Motive waren ihm klar: Er fühlte sich zu ihr hingezogen und war über alle Maßen gierig, sie zu besitzen. Aber was waren die Motive von Niederlage? Er wusste es nicht. Warum machst du bei der Sache mit?
Gewinnen, war alles, was die Bestie erwiderte. Wie immer.
„Kapiert?“, drängte Kaia ihn, als er nicht antwortete.
In ihm machte sich Enttäuschung breit. Sie versuchte tatsächlich, ihn zu bestrafen, und irgendwie hatte er etwas Besseres von ihr erwartet. Sie mochten einander mit Worten beharken und mochten hoffnungslos voneinander fasziniert sein, aber sie waren auch Freunde. Oder jedenfalls hatte er das gedacht. Denn Freunde halfen Freunden.
Ein typisches Beispiel: Er war in Wisconsin, obwohl er eigentlich an tausend anderen Orten sein sollte.
Er wirbelte herum und starrte Bianka an. Er hatte kein Problem damit, in den eigenen Reihen zu wüten. Normalerweise. Aber mit den Harpyien war das so eine Sache. Sie waren anders als jeder oder alles, womit er bisher zu tun gehabt hatte. Sie konnten sich schneller bewegen, als das Auge es wahrnehmen konnte. Sie konnten einem anderen mit den Zähnen die Luftröhre herausreißen. Verdammt, sie konnten binnen Sekunden eine ganze Armee zerfleischen.
Es gab keine Linie, die sie nicht überschritten, keine Tat, die zu grausam war. Wenn er die Rute stehlen würde und sie ihn dabei erwischten, würden sie ihn umbringen. Aber ohne die Rute war er sowieso tot. Also, kein Wettbewerb. Er würde sie stehlen.
„Was ist mir dir?“, knurrte er Bianka an.
„Mir gefällt dein Ton nicht, Krieger“, warnte Lysander ihn mit so sanfter Stimme, dass Strider beinahe die Macht nicht gespürt hätte, die sich dahinter verbarg. Beinahe.
Das ist keine Herausforderung, ermahnte er seinen Dämon. Er weigerte sich, die Frage noch einmal an Kaias Zwillingsschwester zu richten. Zum Glück – oder auch nicht – war Niederlage noch viel zu sehr mit Kaia, dem Umhang und der Rute beschäftigt. Wenn Strider es nicht schaffen sollte, die beiden Artefakte in seinen Besitz zu bringen, und zwar schnell, würde er die Schlacht verlieren. Und verletzt werden. Dennoch konnte er auch Kaia nicht allein lassen, ohne verletzt zu werden.
Bianka schob Lysanders Hand von ihrem Mund. „Tut mir leid, Großer, aber ich kann dir nicht helfen.“
„Warum nicht?“
Sie zuckte unschuldig mit den Schultern. „Wenn du unbedingt willst, zähle ich dir ein paar Gründe auf. Aber ich kann dir nicht garantieren, dass sie stimmen.“
Er wandte sich an Gwen. „Und du?“
„W…wie bitte?“, fragte sie und klang verwirrt. Sie sah zu Kaia, die den Kopf schüttelte. Das wusste er, weil er ihr Spiegelbild in dem Bild sehen konnte, das über dem Nachttisch zwischen den Betten hing. „Ich kann nicht“, sprach sie mit festerer Stimme weiter.
Okay, irgendetwas ging hier vor. Kaia hatte keine Angst. Das wusste er genau, ganz gleich, was sie sagte. Diese Frau war viel mutiger, als gut für sie war. Sie hatte in einem Raum voller Harpyien gestanden, und obwohl sie sie angesehen hatten, als wäre sie ein leckeres Rippchen und sie selbst überzeugte Vegetarierin, hatte sie den Kopf hochgehalten und sie herausgefordert, ein Stückchen zu probieren.
Nur ein einziges Mal hatte sie ihre Coolness verloren, und ein Gefühl, das er nicht näher benennen konnte, hatte ihren gesamten Körper zum Zittern gebracht. In dem Moment nämlich, als sie ihre Mutter angesehen hatte. Ihre ziemlich heiße, offensichtlich mörderische Mutter, die womöglich in seinem Kopf gesprochen hatte – dessen war er sich allerdings immer noch nicht sicher.
Als die sonderbar jung aussehende Brünette mit den toten Augen ihn von oben bis unten gemustert hatte, hatte er eine kalte, gefühllose und dennoch sehr feminine Stimme flüstern gehört: „Kaia wird sterben, ehe der letzte Wettbewerb beginnt.“
Mehr war nicht gesagt worden. Und außer ihm hatte auch niemand sonst diese Warnung – oder war es eine Drohung? – vernommen. Vielleicht hatte er nur eine blühende Fantasie. So oder so – es war ihm egal. Er war hier und würde tun, was er versprochen hatte, aber Kaia, verflixt noch mal, müsste ihm schon ein Stückchen entgegenkommen.
„Verschwindet“, befahl Strider den beiden Pärchen auf den Betten.
Da Sabin seinen Freund gut kannte, packte er ohne Protest seine Gwen und schob sie zur Tür hinaus. Bis zuletzt tauschten die Männer einen verschwörerischen Blick. Sie würden Berge versetzen, um diese Rute zu kriegen, mit oder ohne Zustimmung der Skyhawks. Doch zuerst würden sie alles Erdenkliche tun, um Antworten zu bekommen. Auch wenn das bedeutete, sich aufzuteilen und keine Rückendeckung zu haben.
Dank eines leisen „Ist schon in Ordnung“ von Kaia folgten Bianka und Lysander dem Beispiel von Sabin und Gwen. Mit einem leisen Klick schlossen sie die Tür hinter sich. Der Engel kannte ihn weder, noch wusste er, wozu Strider fähig war, aber offensichtlich hatte er die Gefahr erkannt, die er darstellte.
„Warum?“ Er drehte sich zu Kaia um.
Kaia tat nicht mal so, als wüsste sie nicht, was er meinte. „Weil sie sonst sagen werden, dass ich kein Vertrauen in meine Fähigkeiten habe. Sie werden mich einen Feigling nennen.“
„Na und?“ Sie war bereit, sein Leben wegen ihres Egos aufs Spiel zu setzen? „Ein bisschen Gespött hat noch niemanden umgebracht.“
Sie warf sich eine lange Strähne ihrer roten, gelockten Haare über die Schulter – eine typische Geste für eine verärgerte Frau. Wenigstens war das Schwarz aus ihren Augen gewichen, was ein Zeichen dafür war, dass sie ihre Harpyie wieder im Griff hatte. „Also gut. Es fällt mir zwar schwer, es zuzugeben, aber du wirst es ja ohnehin herausfinden. Also kann ich es dir auch genauso gut sagen.“
Eine Pause. „Sprich weiter.“
Sie schluckte. „Vor langer Zeit habe ich während der Harpyienspiele versucht … einem anderen Clan … etwas zu … stehlen.“
Ach ja? „Warum so zögerlich?“
„Egal“, fuhr sie fort, ohne seinen Einwand zu beachten, und ihre Wangen erröteten. „Mein Verhalten führte zu einem Massaker. Die Hälfte der Harpyienpopulation wurde vernichtet, und mir hat man nie vergeben.“
Er wusste, was das bedeutete. Man hatte sie geächtet. Und wenn jemand verstand, wie spitz der Stachel der Zurückweisung war, dann Strider.
Als die Götter Pandora zur Beschützerin von dimOuniak auserkoren hatten – der Büchse, in der die bösen Geister gefangen waren, die es geschafft hatten, aus der Hölle zu fliehen –, hatte er sich von seinem Stolz überwältigen lassen. Wie konnten sie es wagen, eine Frau auszuwählen, wo er doch noch nie einen Kampf verloren hatte? Strider hatte jeden ausgelöscht, den Zeus hatte tot sehen wollen.
Er hatte beweisen wollen, dass er der Sache würdig war, und deshalb dabei geholfen, die Büchse zu stehlen und zu öffnen. Natürlich hatte er vorgehabt, die Dämonen wieder einzufangen, nachdem sie eine kleine Verwüstung angerichtet hätten. Nach dem Motto: „Seht ihr, was ich kann und eure tolle Pandora nicht?“ Doch die Büchse war verschwunden, und die Verwüstungen waren alles andere als klein gewesen. Weder zuvor noch seitdem hatte er etwas Ähnliches erlebt.
Nicht mal, als Niederlage mit seinem Körper gepaart worden war und der Drang, zu verletzen, zu töten und zu zerstören, ihn verschlungen hatte. Dennoch war dies für die Griechen nicht Bestrafung genug gewesen. Sie hatten ihn aus dem einzigen Zuhause geworfen, das er je kennengelernt hatte, und ihn nie wieder anerkannt.
Also, Zurückweisung, Unversöhnlichkeit – das kannte er beides nur zu gut. Dennoch durfte er sich durch nichts, nicht mal durch Kaias möglichen Niedergang, davon abhalten lassen, diese Rute zu bekommen. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel.
„Wenn ich noch etwas stehle … werden sie mich umbringen, Strider. Nachdem sie dafür gesorgt haben, dass ich denselben Schmerz verspüre, den sie verspürt haben.“
Sie war überzeugt von dem, was sie sagte. Die Wahrheit glitzerte genauso in ihren Augen wie die Tränen. „Ich werde dich beschützen.“
„Zwing mich nicht dazu, dir ins Gesicht zu sagen, wozu du in der Lage bist und wozu nicht“, erwiderte sie mit einem verbitterten Lachen. „Natürlich könnte ich davonlaufen, aber was für ein Leben wäre das? Oder was wäre, wenn sie auf meine Schwestern losgehen, wenn sie mich nicht finden können?“
Guter Einwand. Und einer, von dem er sie nicht würde abbringen können. Er versuchte es auf einem anderen Weg. „Niemand bräuchte zu erfahren, dass du sie genommen hast. Wir schnappen sie uns und hauen ab, kein Problem.“
Traurig schüttelte sie den Kopf. „Es ist egal, ob ich Spuren hinterlasse oder nicht. Wenn die Rute verschwindet, werden sie mir in jedem Fall die Schuld dafür geben.“
„Na und?“, wiederholte er. Er musste einen Panzer um sein Herz aufbauen.
„Du hast keine Ahnung von der Gerechtigkeit der Harpyien, Strider. Da wird nicht verhandelt. Da gibt es kein ‚im Zweifel für den Angeklagten‘. Wenn ich unter Verdacht stehe, werden sie mich jagen, foltern und – wie gesagt – umbringen.“
„Ich werde dich beschützen“, sagte er noch einmal, und das war die Wahrheit.
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Du zwingst mich doch dazu, es dir ins Gesicht zu sagen: Das kannst du nicht.“
Das ist keine Herausforderung. „Doch, ich kann.“
„Du willst mich vor einer Armee aus Harpyien beschützen, die nicht zögern würde, jeden zu verletzen, den du liebst, nur um mich zu kriegen? Vor einer Armee aus Harpyien, die sogar den Jägern helfen würde, wenn das hieße, mich zu bestrafen?“
Mist. „Was soll ich deiner Meinung nach dann tun, hm?“ Er ging zu ihr hinüber, packte sie bei den Unterarmen – sie fühlte sich so zerbrechlich und verletzlich an – und schüttelte sie endlich, wie er es schon so lange hatte tun wollen. Bei jeder Bewegung stieg ihm ihr Duft in die Nase, Zimt und Zucker, ein Fest für seine Sinne. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Blut erhitzte sich. „Was? Sag es mir.“
Noch immer lag dieser unglückliche Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Tu das, wofür du ursprünglich hergekommen bist. Verhalte dich wie mein Gemahl. Ich werde kämpfen, und ich werde die Rute gewinnen. Auf ehrliche Art.“
„Ich dachte, ‚ehrlich‘ gibt es bei dir nicht.“
Durch zusammengekniffene Augen sah sie zu ihm auf. Endlich wurde die Traurigkeit durch Empörung ersetzt. Als sich ihre Wimpern berührten, war er auf seltsame Art froh, nur noch den Silberschimmer in ihren Augen zu sehen, der wild umherwirbelte. Jegliche Goldnuance war verschwunden. „Bei dieser Sache schon. Es steht zu viel auf dem Spiel.“ Ihre Worte waren wie ein Spiegel seiner Gedanken. „Nicht nur für mich, sondern auch für meine Schwestern.“
Gewinnen.
Die Rute? Alter, ich arbeite daran. Ein bisschen Geduld wäre nett.
Gewinnen!
Ich weiß, verflucht! „Was ist, wenn … Mist.“ Er ließ Kaia los und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Nach all den Kämpfen, die er in seinem langen Leben bereits ausgetragen hatte, konnte er eine Sackgasse riechen, ehe er um die Ecke bog und die Mauer sah. Sie befanden sich in einer Pattsituation, und er wusste es. Sie würde nicht nachgeben – solange er nicht den Einsatz erhöhte.
„Wenn du das für mich tust, schlafe ich mit dir. Okay?“
Einen Moment lang zeigte sie keinerlei Reaktion. Dann stieß sie einen Schrei aus und schubste ihn von sich weg. Und „schubsen“ bedeutete: Sie setzte so viel Kraft ein, dass er regelrecht ein Stück nach hinten flog.
„Wie großmütig von dir.“ Im nächsten Moment stand sie wieder vor ihm. Abermals stieß sie ihn heftig zurück, bis seine Kniekehlen das Bett berührten. „Mir deinen Körper anzubieten, wo du mich doch so offensichtlich nicht begehrst. Deine Ansprüche herunterzuschrauben und dich zu verkaufen. Mich zu benutzen, egal, wie sehr ich am Ende darunter leiden muss.“
Er krümmte sich unter ihren Worten, die ihn wie Pfeile trafen, erwiderte jedoch nichts. Noch nicht. Als seine Knie einknickten und er auf die Matratze plumpste, konzentrierte er sich ganz auf seinen Dämon. Das ist keine Herausforderung, sie zum Sex herumzukriegen, verstanden?
Gewinnen!
Strider drückte die Zunge gegen den Gaumen. Er dachte, sein Dämon hätte noch immer die Rute im Sinn, aber sicher war er sich nicht. Und als Kaia auf ihn sprang und sich mit gespreizten Beinen auf ihn setzte, drehte er sich blitzschnell mit ihr zusammen um und nagelte sie mit seinem Gewicht unter sich fest. Und, Götter – das fühlte sich gut an. Sie passte perfekt zu ihm – ihre weichen Brüste an seiner Brust, ihr Oberschenkel, der sich herrlich an seinen harten Penis drückte.
Ihr Zimtduft hüllte ihn ein und vernebelte ihm die Gedanken. Hitze, eine unbeschreibliche Hitze strahlte von ihrer weichen, köstlichen Haut aus und brandmarkte ihn.
GEWINNEN.
Bastard. „Es geht um Leben oder Tod, Kaia.“
Sie keuchte, als sie die Hände in seinen Haaren vergrub und ihre Fingernägel in seine Kopfhaut bohrte. „Für mich auch.“
„Würdest du es für … Paris tun?“, fragte er und hasste sich dafür.
Kein Zögern auf ihrer Seite. Das linderte das Engegefühl in seiner Brust. Ein Gefühl, dessen Existenz er bis zu diesem Moment gar nicht wahrgenommen hatte. „Kaia.“
„Strider.“
„Ich … ich habe nie gesagt, dass ich dich nicht begehre.“ Er war sich nicht sicher, was er eigentlich hatte sagen wollen. Er wusste nur, dass es das nicht war. Die Worte waren einfach so über seine Lippen gehuscht. „Ich begehre dich. Wie sollte ich auch nicht?“
Sie knabberte auf ihrer Unterlippe. „Willst du damit sagen, dass du mein Gemahl sein willst?“
„Nein.“ Diesbezüglich würde er sie nicht anlügen. Und zwar nicht, weil sie ihn zerfleischen würde, wenn sie die Wahrheit herausfände. „Ich kann dir kein ‚für immer‘ geben.“
Das Knabbern wurde heftiger, bis ein Tropfen Blut sichtbar wurde. „Weil wir nicht gut zusammenpassen?“
Natürlich würde sie sich an jede Beleidigung erinnern, die er ihr je an den Kopf geworfen hatte. „Ja.“
„Was kannst du mir denn dann geben?“
„Das Hier und Jetzt.“ Mit jeder Sekunde, die verstrich, sehnte sein Körper sich mehr nach ihr.
„Als Gegenleistung dafür, dass ich dir helfe, die Zweiadrige Rute zu stehlen.“ Eine Feststellung, keine Frage.
„Ja.“ Vielleicht sogar ohne Gegenleistung. So heftig war sein Verlangen, sich an sie zu schmiegen, sich an ihr zu reiben und ihre Lust anzufachen, bis sie ihn anflehte, es ihr richtig zu besorgen.
Ihre rosa Zungenspitze huschte über ihre Zähne. Zähne, die sich gerade in messerscharfe Dolche verwandelten, aber, Götter – diese Zunge war wunderschön. „Davon wirst du mich schon überzeugen müssen“, meinte sie heiser, während sie seinen Kopf immer tiefer zu sich herunterzog, bis seine Lippen dicht über ihren waren. „Gib mir einen Vorgeschmack davon, was du zu bieten hast.“
Eine Herausforderung. Ob beabsichtigt oder nicht. Und diesmal hatte er keine Schwierigkeiten, zu interpretieren, was sein Dämon erwartete und brauchte. Strider musste sie küssen, und er musste sie überzeugen, sonst würde er furchtbare Qualen erleiden.
Er wartete darauf, dass sich die Wut in ihm breitmachte, doch als er Kaia ansah und ihren Duft einatmete, wollte er nur noch eins: ihr diesen Vorgeschmack geben.
Er löste ihre Hände aus seinen Haaren und führte sie über ihren Kopf, sodass sich ihr Rücken durchbog und ihr Körper sich an seinem rieb. Ihre Brustwarzen waren hart und warteten förmlich auf seinen Mund.
„Kein Wort mehr“, befahl er, und dann holte er endlich, endlich zum entscheidenden Schlag aus.