5. KAPITEL

Kaia sah sich liebend gerne Filme an, aber im Augenblick fühlte sie sich, als hätte sie die Hauptrolle in einem Horrorstreifen mit dem Titel „Das Pyjamaparty-Massaker“. Nur dass sie statt Schlafsack und Teddy ein Beil – na und, dann war sie eben ein wenig sentimental – und eine gezackte Klinge bei sich trug.

Sie und ihre Schwestern, die ebenfalls ihre Waffen umklammerten, gingen scheinbar alleine einen langen, dunklen Flur entlang. Auch an der Taille und auf dem Rücken trugen sie Waffen. Hätte der „Böse Mann“ sie tatsächlich aus dem Schutz der Schatten beobachtet und auf einen günstigen Moment zum Angriff gewartet, so hätte er ihre Bewegungen und die im Wind wehenden Haare vermutlich wie in Zeitlupe wahrgenommen. Und im Hintergrund hätte man gruselige Musik gehört.

Zu schade, dass das hier nicht Hollywood war.

Taliyah ging in der Mitte. Sie war von allen die mit Abstand Älteste, Stärkste und Tödlichste. Groß, schlank, blass von Kopf bis Fuß – sie sah aus wie eine elegante Eiskönigin und hatte auch die passende Persönlichkeit. Gefühle gehörten nicht zu den Dingen, die Taliyah sich erlaubte. Während Kaia immer danach gestrebt hatte, so wie ihre Mutter zu sein, hatte Taliyah sich für das Gegenteil entschieden. Stets nüchtern, zielstrebig und mit einem Plan im Kopf.

Bianka und Kaia gingen links und rechts neben ihr, und Gwen ging links neben Kaia. An einem Ende der Östrogen-Brigade ging Sabin, am anderen Lysander. Normalerweise mussten die Gemahle bei Ereignissen wie diesem ein Stückchen hinter den Harpyien bleiben, aber diese Männer waren alles andere als „normal“. Sie waren Ebenbürtige. Geliebte. Und entschlossen, ihr Liebstes zu beschützen.

Jede der Frauen strahlte eine weißglühende Spannung aus, die sich perfekt mit Kaias vermischte. Alles dank dem wirklich sehr dummen Strider. Er würde sie nicht unterstützen. Etwas früher an diesem Tag hatte Gwen sie dazu gebracht, daran zu glauben … nachzudenken … zu hoffen … sich danach zu sehnen … aber nun ja. Strider war nicht aufgetaucht, obwohl sie und ihre Schwestern eine halbe Stunde gewartet hatten und jetzt drohten, zu spät zur Versammlung zu kommen.

Dummer, dummer Strider.

Verdammte, verdammte Kaia.

Aber wenigstens hatte sie ihn endgültig abgeschrieben und sich eingestanden, dass sie ohne ihn besser dran war. Er war Zurückweisung, Erniedrigung und Herzzerbrechen, eingeschnürt in ein hübsches Paket. Sie würde ein anderes hübsches Paket finden, ohne all die überflüssigen Extras.

Zumindest wären Bianka und Gwen gut beschützt, und das beruhigte ihre Nerven ein bisschen. Aber wenn es irgendjemand wagen sollte, sie wegen dem, was Kaia einst getan hatte, zu bedrohen, würde sie das „Pyjamaparty-Massaker“ in „Blutbad und andere Grausamkeiten“ verwandeln, eine Dokumentation von Kaia Skyhawk.

Und falls irgendwer Bianka damit aufziehen sollte, dass sie mit einem Engel liiert war, dann bekäme auch diejenige eine Hauptrolle in diesem Dokumentarfilm. Leider hatte sie das Gefühl, dass sie eine Menge Hauptrollen würde vergeben müssen.

Auf den ersten Blick sah Lysander von Kopf bis Fuß wie ein Gutmensch aus. Seine Haare glänzten, als wären sie aus goldener Seide. Seine blasse Haut hatte einen leichten rosafarbenen Schimmer. Er trug eine lange weiße Robe, aus der seine Flügel wie zwei goldene Bögen über seine Schultern ragten. Er trug keine sichtbaren Waffen. Allerdings brauchte er die auch gar nicht. Schließlich konnte er aus der bloßen Luft ein Feuerschwert erschaffen. Die Harpyien würden erst auf den zweiten Blick begreifen, dass er durch und durch Krieger war – muskulös und stark und wild entschlossen, das zu beschützen, was ihm gehörte.

Doch dann wäre es zu spät.

Bei Sabin hingegen wüsste jede gleich beim ersten Blick, wer da vor ihr stand: ein knallharter Kerl, dem jegliche Moral fehlte. Er hatte braune Haare und ockerfarbene Augen. Seine Gesichtszüge waren eine Mischung aus harschen Flächen und scharfen Winkeln. Von seinem zwei Meter großen Körper hingen mehr Waffen herab, als eine ganze Armee tragen konnte, und jeder seiner Schritte erinnerte an einen ersterbenden Herzschlag. Rumms. Pause, Pause. Rumms. Aber, äh, wieso hielt er ein Megafon in der Hand?

Zwar würde Gwen seinetwegen nicht aufgezogen werden, aber sie müsste ihm wahrscheinlich mit aller Kraft die anderen Frauen vom Leib halten. Sabin verkörperte alles, was die Harpyien bewunderten. Er war böse, mehr als gefährlich und er ließ sich nicht von gesellschaftlichen Regeln einschränken.

Er strahlte eine unverhohlene Gefahr aus – und das, obwohl er ein T-Shirt trug, auf dem stand: „Ich bin zwar kein Gynäkologe, aber ich sehe es mir trotzdem mal an“.

So eins musste Kaia unbedingt für Strider kaufen.

Endlich standen sie vor den Türen, die zur Aula der Grundschule führten. Ja, es war tatsächlich eine Grundschule. In Brew City, Wisconsin.

Erst an diesem Morgen waren die Benachrichtigungen rausgegangen, wo die Einführungsveranstaltung abgehalten würde, und die Location hatte sie erstaunt. Vor einer Million Jahre hatte die Einführung auf einem offenen Feld mehrere Meilen jenseits der Zivilisation stattgefunden. Sicher, die Zeiten hatten sich geändert. Aber eine Grundschule? Wirklich?

Nachdem Lucien, der Hüter von Tod, seine Verblüffung zum Ausdruck gebracht hatte, hatte er sie und Gwen hierher gebeamt und vor dem Haupteingang der Schule abgesetzt. Lysander hatte Bianka eingeflogen, und Taliyah hatte sich einfach aus einem dicken, dunklen Nebel materialisiert. Offensichtlich hatte das Mädchen eine neue Fähigkeit entwickelt, sich bei näherem Nachfragen jedoch geweigert, Einzelheiten preiszugeben. Was zum Teufel konnte sie eigentlich noch alles? In ihrem jahrhundertelangen Leben hatte Kaia noch nie jemanden gesehen, der einfach aus einer Nebelwolke hervortrat.

Im Übrigen war es auch unfair, denn Taliyah besaß bereits eine spitzenmäßige Fähigkeit: Sie konnte die Gestalt wechseln – auch wenn sie es nie getan hatte. Und jetzt beherrschte sie zusätzlich diesen Nebeltrick, während Kaia gar nichts Cooles konnte.

Beleidigte Leberwurst! Kaia hörte auf, darüber nachzudenken, als sie die Türen zur Aula erreichte. Sie waren geschlossen, und durch den winzigen Spalt zwischen den metallenen Türflügeln drang Stimmengemurmel. Ein Schauer raste über ihre Wirbelsäule und ließ ihre Gliedmaßen erzittern.

Taliyah blieb ebenfalls stehen. Sie verstaute ihre Waffen und legte Kaia fest die Hand auf die Schulter. Ihr eisiger Blick war messerscharf. „Du weißt doch, dass ich bei dir bin – ganz gleich, was passiert, nicht wahr?“

Ihr Herz schmerzte vor Liebe, als sie Beil und Messer in die Scheiden steckte. „Ja, das weiß ich.“ Ihre Mutter mochte sie abgeschrieben haben, nicht aber ihre Schwestern. Sie unterstützten sie. Immer und überall.

„Gut. Dann lasst es uns tun.“

Taliyah drückte die Doppeltür auf, die protestierend in den Angeln quietschte. Ohne diese Barriere wurde das Gemurmel zu einem lautstarken Stimmengewirr. Ein Stimmengewirr, das komplett erstarb, als sich alle Blicke auf die jüngsten Ankömmlinge richteten.

Kaia suchte das Meer von Gesichtern ab, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte, konnte ihre Mutter jedoch nicht entdecken. Oder irgendeine andere Skyhawk. Dafür blickten sie knapp hundert Frauen mit zusammengekniffenen Augen an. Sie hob das Kinn. Mehrere Ladys griffen nach Schwertern oder Dolchen, aber keine machte einen Schritt auf sie zu.

Vermutlich sollte die hasserfüllte Aufmerksamkeit sie einschüchtern. Doch Kaia stellte fest, dass sie sich daran erfreute.

Sie war stark, stärker als je zuvor, und sie würde sich beweisen. Endlich.

Endlich würden alle wissen, dass sie ihrer würdig war.

Tabitha könnte sich ihr „fast verbessert“ in den Hintern …

„Seht, seht, wer sich entschlossen hat, sich zu uns zu gesellen. Kaia die Enttäuschung. Samt Anhang natürlich.“ Die vertraute Stimme hallte von den Wänden wider. Juliette die Ausmerzerin. „Was für eine Überraschung. Wir dachten, du würdest nicht kommen – was eine sehr kluge Entscheidung gewesen wäre. Aber andererseits hast du ja ohnehin nur ein halbes Gehirn, nicht wahr?“

Uuuuund da waren sie wieder: die „Zwillinge haben von allem nur die Hälfte“-Witze.

Juliette fuhr fort: „Ich fühle mich verpflichtet, dich zu warnen, dass du verlieren und dabei keinen Spaß haben wirst. Solltest du es überhaupt überleben. Nicht, dass ich aus Erfahrung sprechen könnte. Ich habe bei den letzten acht Spielen die Goldmedaille mit nach Hause genommen. Aber ich dachte mir, dass du das nicht weißt – immerhin warst du ja nicht eingeladen.“

Bianka knurrte leise, Taliyah spannte die Muskeln an und Kaia biss die Zähne aufeinander, während sie ihre Erzfeindin ansah.

Juliette stand in der Mitte der Bühne. Sie war groß, durchtrainiert und atemberaubend schön. Die schwarzen Haare reichten ihr bis zu den Schultern, und ihre Augen hatten die Farbe von reinem Lavendel. Sie trug ein Trägertop und einen kurzen Rock, der die Tätowierungen auf ihren Beinen zur Schau stellte. Es waren alte Symbole der Götter, die von Rache sprachen. Frei übersetzt bedeutete jedes: „Die rothaarige Schlampe muss sterben.“ Hübsch.

„Nicht mehr lange, und du wirst deiner Goldmedaille Auf Wiedersehen sagen müssen“, erwiderte Kaia. „Die gehört dieses Mal nämlich mir.“

Ein selbstgefälliges Grinsen breitete sich langsam auf Juliettes Gesicht aus. „Ach, weißt du – ich denke, da liegst du falsch. Denn falls du es noch nicht weißt: Ich nehme dieses Jahr gar nicht am Wettbewerb teil. Nein, ich leite das Ganze. Anders gesagt: Ich bin die Chefin hier. Die Älteren haben sich getroffen und die Sache beschlossen. Und jetzt bin ich das A und O.“

Das verhieß nichts Gutes für Kaias Sieg. Da Juliette das Sagen hatte, würde sie entscheiden, wer gegen die Regeln verstieß und wer nicht, und am Ende würde sie den Schlussstand bekannt geben. Kein Wunder, dass man Kaia zu dem Wettbewerb eingeladen hatte. Sämtliche Vorzeichen standen ungünstig für sie.

„Du bist also die Chefin. Schöne Ausrede, um nicht kämpfen zu müssen“, schaffte sie es trotz der dunklen Vorahnung zu sagen. Wie oft in den letzten Jahrhunderten hatte sie sich bei Juliette entschuldigt? Unzählige Male. Wie viele Obstkörbe hatte sie ihr geschickt? Hunderte. Was konnte sie noch tun? Nichts. Und sie war es auch leid, es zu versuchen, wenn das hier dabei herauskam.

In den lavendelfarbenen Augen flackerte Wut auf, doch Juliette erwiderte nichts. „Eure Männer müssen bei den anderen sitzen.“ Mit einer ruckartigen Bewegung zeigte sie zum hinteren Teil der Aula, wo sich eine große Gruppe Männer – als bloße Zuschauer – auf der Balustrade aneinanderdrückten.

„Unsere Männer bleiben bei uns. Und darüber werden wir auch nicht diskutieren.“ Taliyah machte ein paar Schritte nach vorn und wirkte dabei wie ein Raubtier. „Und nun dürft ihr mit der Versammlung fortfahren.“ Obwohl so höflich vorgetragen, zeigte der Kommentar Wirkung.

„Das werden wir auch“, erwiderte Juliette verärgert. „Macht euch darüber keine Gedanken.“ Und schon begann sie einen Vortrag über angemessenes Verhalten vor, während und nach den Spielen.

Ohne sie weiter zu beachten, folgte Kaia ihrer ältesten Schwester „samt Anhang“. Rechts neben der Bühne blieben sie neben einem anderen Clan stehen. Den Eagleshields. Juliettes Familie. Kaia hob das Kinn noch eine Nuance. Alle Familienmitglieder traten ein Stück zurück, als hätte sie eine ansteckende Krankheit, und eine warme Röte stieg ihr in die Wangen.

Nein, nicht alle Familienmitglieder, bemerkte sie im nächsten Moment. Neeka die Ungewollte hatte allein am Rand der Gruppe gestanden und machte nun sogar ein paar Schritte auf die Skyhawks zu. Sie lächelte.

„Taliyah.“ Neeka neigte respektvoll das Haupt. Nachdem man ihr bei einem Angriff in die Ohren gestochen hatte, war sie nun taub. Damals war sie noch ein Kind gewesen, doch sie hatte sich nie von der Verletzung erholt. Ihre eigene Mutter hatte später versucht, sie umzubringen, weil sie es wagte, mit so einer Schwäche weiterzuleben.

Die Frau hatte bestimmt ein paar Unterrichtseinheiten an der „Tabitha Skyhawk-Schule für Mütter“ genommen.

Die beiden Frauen umarmten sich und klopften einander ein-, zweimal auf den Rücken. Als sie sich wieder trennten, sah Neeka zu Kaia. Schockierenderweise erstarb ihr Lächeln nicht. Ihre Haare waren von einem weichen Dunkelbraun, genau wie ihre Augen. Auf der Nase hatte sie Sommersprossen, die dunkler waren als ihre mokkafarbene Haut. Sie waren der einzige „Makel“ in einem ansonsten zu perfekten Gesicht.

„Alle erwachsen geworden“, sagte sie mit einer etwas monotonen Stimme.

„Ja.“ Sie wartete darauf, die ersten Beleidigungen an den Kopf geworfen zu bekommen.

Vergebens. „Ich hoffe, du bist genauso tödlich, wie es der Klatsch verheißt.“

Moment. Was? „Vermutlich noch tödlicher“, entgegnete sie bescheiden. Also, für ihre Verhältnisse bescheiden.

Das Lächeln wurde breiter. Offensichtlich hatte Neeka gelernt, von den Lippen zu lesen. „Gut. Das wird die nächsten Wochen erträglich machen. Sag mal, vor ungefähr einem Jahr erwähnte jemand, dass du einen Menschen aus einem sechzigstöckigen Gebäude gehalten hast. An den Haaren. Stimmt das?“

„Schon, ja.“ Und es tat ihr nicht leid. „Gwennie war verschwunden, und er war der Letzte, der sie gesehen hatte.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich wollte nur Antworten.“

„Cool. Und was ist mit …“

„Genug jetzt“, keifte Juliette. „Du verschwendest unsere Zeit mit deinen Übertreibungen, während du mir lieber zuhören solltest.“

Übertreibungen? Oh, bitte. Statt sich zu verteidigen, wiederholte Kaia, was gesagt worden war. Da Juliette hinter Neeka stand, hatte das arme Mädchen keine Ahnung, dass das Publikum sie und Kaia anstarrte und nicht gebannt an Juliettes Lippen hing.

Nach Juliettes Ermahnung stellte Neeka sich nicht wieder zu ihrem Clan, sondern sie blieb neben Taliyah stehen. Merkwürdig. Was war …

Auf der anderen Seite des großen Raums ging eine weitere Doppeltür auf. Und dann starrte Kaia über die gesamte Länge des Raumes hinweg in das Gesicht ihrer Mutter. Tabitha die Teuflische. Juliette verstummte, während allseits ehrfürchtig nach Luft geschnappt wurde.

Soeben war eine Legende eingetroffen.

Kaias Magen wurde steinhart, und sie schluckte. Sie hatte gewusst, dass dieser Moment käme, hatte gedacht, sie wäre darauf vorbereitet. Aber … oh Götter. Ihre Knie zitterten heftig, und sie musste die Fersen in den Boden drücken, um nicht den Halt zu verlieren.

Verdammt, ihr plötzliches Nervenflattern brauchte irgendein Ventil. Ihre Haut kribbelte, als ob Hunderte kleine Käfer mit glühend heißen Beinen über ihren Körper krabbelten.

Mehr als ein Jahr war vergangen, seitdem sie zuletzt mit ihrer Mutter gesprochen hatte, und diese letzte Unterhaltung war nicht gerade erfreulich gewesen.

Ich habe keine Ahnung, warum ich mich so lange mit dir aufgehalten habe, hatte Tabitha gesagt. Ich dränge und dränge dich, aber du unternimmst nichts, um dich zu rehabilitieren. Stattdessen bleibst du in Alaska, kämpfst gegen Menschen, bestiehlst Menschen und spielst mit Menschen.

Kaia hatte nach Luft geschnappt. Mir war nicht klar, dass ich mich vor dir beweisen muss. Ich bin doch deine Tochter. Eigentlich solltest du mich doch bedingungslos lieben, oder?

Offensichtlich verwechselst du mich mit deinen Schwestern. Und sieh dir nur an, wohin ihre Nachsicht dich gebracht hat. Nirgendwo. Die anderen Clans hassen dich nach wie vor. Ich habe dich die ganze Zeit über beschützt und ihnen niemals gestattet, gegen dich vorzugehen. Aber das hat hier und heute ein Ende. Meine Nachsicht hat dich nämlich auch nicht weitergebracht.

Ihre Definition von „Nachsicht“ wich stark voneinander ab. Und ehrlich gesagt hatte diese Abweichung sie so tief verletzt, dass sie sich unmöglich jemals davon würde erholen können. Mutter …

Nein. Schweig jetzt. Es gibt nicht mehr zu sagen.

Mit hallenden Schritten war ihre Mutter davongegangen. Für immer. Es hatte weder Anrufe gegeben, noch Briefe, E-Mails oder Kurznachrichten. Kaia hatte einfach aufgehört zu existieren. Juliette hatte sie noch immer nicht angegriffen, weshalb sie davon ausgegangen war, dass ihre Mutter sie trotz allem weiter „beschützt“ hatte.

Vielleicht hatte sie sich geirrt.

Vielleicht war das gar nicht der Grund, weshalb sie nun hier war.

Und obwohl sie wusste, dass Tabitha sie womöglich verletzt und gebrochen sehen wollte, saugte sie den Anblick ihrer Mutter mit den Augen auf. Diesen ersten Anblick seit Monaten, so ungebeten er auch war – und, Götter, Tabitha war wunderschön. Obgleich sie seit Jahrtausenden lebte und vier (schöne) Töchter geboren hatte, die mittlerweile – schon laaaange – nicht mehr unter das Jugendschutzgesetz fielen, wirkte sie nicht älter als fünfundzwanzig. Wunderschön gebräunte Haut, seidig schwarze, volle Haare, bernsteinfarbene Augen und die zarten Gesichtszüge einer chinesischen Puppe.

In all den Jahren hatte sie ihre Haare ein paarmal rot gefärbt, und Kaia hatte gehofft, es bedeutete, dass … Aber nein.

„Tabitha Skyhawk“, sagte Juliette ehrfürchtig. Sie neigte den Kopf zum Gruß. „Willkommen.“

Das ist deine Mutter?“, wollte Sabin plötzlich von Gwen wissen. „Ich meine, du hast mir zwar erzählt, dass sie dich hasst und sich deshalb von dir fernhält, aber diese Frau sieht aus, als würde sie nur abgebrochene Fingernägel und Laufmaschen hassen.“

„Sie ist nur meine biologische Mutter, also mach mir keine Vorwürfe“, erwiderte Gwen. „Und ich versichere dir, sie würde dir das Gesicht zerschmettern, ohne auch nur einen Moment an ihre Fingernägel zu denken.“

Gwen war immer die Sensible und Schutzbedürftige gewesen. Dennoch hatte sie an dem Tag, als Tabitha sie unwürdig genannt hatte, nicht geweint. Sie hatte einfach mit den Achseln gezuckt und war weitergezogen. Nicht ein Mal hatte sie zurückgeblickt.

„Sie kann nicht ganz so schlecht sein“, meinte Sabin. „Nicht bei den Beinen.“

Männer. „Wusstest du, dass sie ein Kinderherz besitzt? Wirklich, es liegt in einer Schachtel neben ihrem Bett.“ Und weißt du noch was? Es gehört mir!

Nach dem unglückseligen Zwischenfall war Kaia ihrer Mutter jahrhundertelang wie ein demütiger Hund hinterhergelaufen. Sie hätte alles getan, hätte gegen jeden gekämpft, um sich den Respekt und die Liebe ihrer Mutter neu zu verdienen. Doch wieder und wieder hatte sie versagt. Schließlich hatte sie begriffen, wie fruchtlos ihre Bemühungen waren, und ihre Aufmerksamkeit auf die Menschen verlagert. Aber damit hatte sie bei Tabitha nur noch mehr Missachtung geerntet.

Stattdessen bleibst du in Alaska, kämpfst gegen Menschen, bestiehlst Menschen und spielst mit Menschen. Die Worte wehten abermals durch Kaias Kopf. Bei den Menschen galt sie als Hauptgewinn, als liebenswert, mutig und lustig. Natürlich hatte sie mit ihnen gespielt.

Du bist über ihre Zurückweisung hinweg, weißt du noch? Es macht dir nichts mehr aus.

Ihre Mutter betrat den Saal, dicht gefolgt von neun Harpyien. Als sich die Tür mit einem leisen Klicken schloss, blieb die Gruppe stehen und inspizierte den Raum – die Anwesenden. Alle zehn ließen den Blick mit rasender Geschwindigkeit über sie gleiten, als wäre sie unsichtbar.

Sieh mich an, dachte sie verzweifelt. Bitte, Mutter. Diese bedeutungsvollen Sekunden über fühlte sie sich wieder wie ein armes kleines Mädchen. Natürlich kehrte der goldene Blick nicht noch einmal zu ihr zurück. Stattdessen landete er auf Juliette und füllte sich mit Stolz. Stolz. Warum?

Spielte es eine Rolle? Ein verbittertes Lachen stieg in Kaias Kehle auf. Dann bemerkte sie die zueinanderpassenden Medaillons, die an ihren Hälsen baumelten, und das Lachen kam wie erstickt heraus. Kleine Holzscheiben, in deren Mitte verschlungene Flügel geschnitzt waren – das Symbol der Skyhawkschen Stärke. Kaia war immer damit klargekommen, dass ihre Mutter Juliette und die Mitglieder anderer verfeindeter Clans trainiert hatte. Aber einer anderen als einer Skyhawk diese Medaille zu geben? Oh, das tat weh!

Noch eine Erinnerung kam an die Oberfläche. Auf einmal spürte sie, wie Leder an ihrem Nacken rieb, als man ihr ihre Kette abriss.

„Unser Flug hatte Verspätung“, erklärte Tabitha, und ihre harte Stimme hallte von der gewölbten Decke wider. „Dafür entschuldigen wir uns.“

Wenn auch noch so steif geäußert … eine Entschuldigung? Von Tabitha der Teuflischen? Das war ein Novum. Träumte Kaia etwa? Hatte sie, ohne es zu bemerken, irgendein Paralleluniversum betreten? Nein, unmöglich. Dann hätte Tabitha sie nämlich angelächelt.

Dann hatte sie die Entschuldigung also tatsächlich ausgesprochen. Und das konnte nur eins bedeuten: dass Tabitha Respekt vor Juliette hatte.

Ihre Knie begannen erneut zu zittern und ließen sich einfach nicht bändigen.

„Entschuldige die Verspätung“, hörte sie eine heisere Männerstimme hinter sich.

Und zurück zur Traumtheorie. Es war unmöglich, dass Strider hier war und sich entschuldigte. Kaia wirbelte herum. Mit Sicherheit hatte sich ihre Umgebung kein bisschen verändert. Doch zu ihrem großen Schrecken bestätigte ihr Sehsinn ihren Hörsinn.

Strider stand in seiner ganzen Kriegerpracht vor ihr.

Ein Lächeln von der geliebten Mutter hin oder her – sie hatte ein Paralleluniversum betreten. Eine andere Erklärung gab es einfach nicht. Oder doch? „Was machst du hier?“ Er zog eine Zimtfahne hinter sich her, und als Kaia sie – gierig – einatmete, verfiel ihr Herz in einen unkontrollierten Rhythmus.

„Den Göttern sei Dank“, murmelte Sabin. „Gwen hätte meine Eier fast zum Frühstück verspeist, als sie gehört hat, dass ich dich heute Morgen nicht daran gehindert habe, die Burg zu verlassen.“

Gwen wurde rot. „Sabin! Jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um unsere Bettgeheimnisse auszuplaudern.“

Bianka kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Ich glaube nicht, dass er das gemeint hat, Gwennie-po-Pennie.“

Während sie sprach, stellte sich Lysander zwischen sie und die beiden dämonenbesessenen Krieger. Er hatte zwar einem Waffenstillstand mit den Herren der Unterwelt zugestimmt, doch das hieß noch lange nicht, dass er sie mochte. Und nachdem er ihrem Kumpel Aeron den Kopf abgeschnitten hatte, zählten die Herren auch nicht gerade zu seinen größten Fans. Ganz offensichtlich wollte er verhindern, dass sie ihre Missgunst an Bianka ausließen. Als ob sie das getan hätten. Dämonenbesessen oder nicht – die Krieger behandelten die Skyhawk-Mädchen, als gehörten sie zur Familie. Wie nervige Cousinen, die ihre Gastfreundschaft überbeanspruchten, aber dennoch Familie waren.

Plötzlich ging ein neuerliches Keuchen durch die Menge. Die Männer waren bemerkt worden. Richtig bemerkt worden und nicht nur als Blutspender und Jahrmarktesel wahrgenommen. Hier und da wurden „Engel“ und „Herren“ geraunt. Ersteres klang belustigt, wie Kaia befürchtet hatte, Letzteres neidisch.

Neid. Ihretwegen. Sie versuchte, sich nicht wie ein Pfau aufzuplustern.

Vergebens.

„Was machst du hier?“, wiederholte sie leise an Strider gewandt. Er war tatsächlich hier. Bei ihr.

„Frag mich morgen noch mal. Bis dahin habe ich mir vielleicht eine Antwort überlegt“, erwiderte er trocken.

Abermals schwoll ihr Herz an. Aber diesmal nicht vor Liebe, sondern vor Lust, Freude und Erleichterung. Er war aufregender denn je, wie er in einem blutverschmierten weißen T-Shirt und zerrissener Jeans vor ihr stand. Schmutzige Streifen verliefen quer über sein Gesicht, und seine blonden Haare klebten schweißnass an seinem Kopf.

„Eigentlich wollte ich viel früher hier sein“, fügte er hinzu, „aber mein letzter Kontrollgang durch die Burg war erfolgreich.“

„Jäger?“

„Ja. Diese Dreckskerle. Versuchen immer irgendwas Hinterhältiges.“

„Hast du sie alle getötet?“

Seine blauen Augen funkelten und gaben einen kurzen Blick auf den siegreichen Dämon in seinem Innern preis. „Jeden einzelnen.“

Das ist mein Mann. „Braves Mädchen.“ Ja, sie hatte ihn soeben ein Mädchen genannt. Und er war hier. Er war wirklich hier. Über diese verblüffende Tatsache kam sie gar nicht hinweg. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er begriffen, dass sie zusammengehörten? Hatte er ihr den One-Night-Stand mit Paris vergeben? Sie kämpfte den Drang nieder, ihm die Arme um den Hals zu schlingen, ihn festzuhalten und nie wieder gehen zu lassen.

Anscheinend hatte er die Fragen und Wünsche in ihren Augen gelesen, denn er sagte: „Komm bloß nicht auf falsche Ideen.“ Peng. Illusionen zerstört. „Du brauchtest einen Erste-Hilfe-Koffer, und hier bin ich. Sobald die Spiele vorbei sind, bin ich aber auch wieder weg. Und das sage ich nicht, weil ich gemein bin, sondern weil ich ehrlich sein will.“ Sensibel, wirklich sensibel. „Okay?“

„Ja, klar. D…danke.“ Da er nicht sehen sollte, wie ihre Freude zerbröckelte, drehte sie sich wieder um. Ich werde nicht weinen. Ihre Mutter hatte sie nicht gebrochen (jedenfalls nicht vollständig), und er würde es auch nicht schaffen (nicht noch einmal).

Wieder stand sie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Genau wie beim ersten Mal hob sie das Kinn, um ihre Bestürzung zu verstecken.

„Und, was habe ich verpasst?“, fragte er.

„Siehst du die heiße Brünette da drüben?“ Sabin zeigte auf Tabitha. „Das ist ihre Mutter.“

Das ist ihre Mutter?“, keuchte Strider.

Kaia ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich ihre länger werdenden Nägel in die Haut bohrten. Warme – zu warme – Blutstropfen liefen zwischen ihren Fingerknöcheln entlang, ehe sie auf den Boden fielen. „Wenn du nicht vorsichtig bist, werde ich …“ Ihr fiel keine Drohung ein, die gemein genug war. „Mach ihr einfach keine Komplimente.“

„Fordere mich nicht heraus, Rotschopf. Das Ergebnis würde dir nicht gefallen.“

Rotschopf. Aus dem Mund eines jeden anderen wäre es ein Kosename gewesen. Aus Striders Mund war es ein Fluch. „Warum? Versohlst du mir sonst den Hintern?“

„Nein, sonst gehe ich.“ Klare Worte.

Sie presste die Lippen zusammen. Dass er ging, war das Einzige, was sie nicht riskieren würde. Ob sie ihn mochte oder nicht – momentan übrigens eher nicht. Er mochte eine Nervensäge sein, er mochte stur sein und manchmal auch gehässig, aber er war die beste Chance, die sie hatte, um diese Sache zu gewinnen, das wusste sie genau. Mit Juliette als Verantwortlicher brauchte sie jemanden, der acht Tage die Woche und fünfundzwanzig Stunden am Tag alles im Blick hatte und ihr Rückendeckung gab.

„Meine Mom gehört nicht gerade zu den liebsten Menschen in meinem Leben, okay?“ Sie drehte sich ein wenig, ohne ihn anzusehen, und flüsterte: „Könntest du jetzt bitte so tun, als ob du auf mich stehst? Nur eine Zeit lang?“

Endlich ließ Tabitha sich dazu herab, ihre Gruppe wahrzunehmen. Sie ließ ihren Blick über die Männer gleiten, wobei sie angewidert den Mund verzog. Die ganze Zeit über streichelte sie den Griff des Messers, das an ihrer Hüfte baumelte.

„Erstens habe ich ihr kein Kompliment gemacht. Zweitens sieht sie aus, als ob sie die Hoffnungen und Träume anderer Leute zum Frühstück verspeisen würde, und zwar nicht nur, weil sie ihr gut schmecken. Das ist nicht attraktiv. Und drittens siehst du aus, als ob du den Hoffnungen und Träumen anderer Leute entsprungen wärest. Ich konnte – kann – einfach nicht glauben, dass ihr verwandt seid.“

Wie … süß. Kaia war hin und weg. Zum Teufel mit ihm! Zuerst kündigte er an, dass er nicht lange bleiben würde, und dann machte er ihr ein Kompliment. Wie sollte sie denn emotionale Distanz zu ihm wahren, wenn er solche Sachen zu ihr sagte?

„Moment mal. Warte. Wer hat das eben gesagt?“, knurrte Strider, bevor sie etwas erwidern konnte.

„Du“, meinte sie, „und ich weiß auch, was du als Nächstes sagen wirst. Du hast dich wie ein Weichei angehört.“ Es machte ihr wirklich keinen Spaß, ihn so anzugehen, aber schließlich stand ihr Verstand auf dem Spiel.

Strider bleckte die Zähne.

„Also, wer hat was gesagt?“, fragte sie mit einem Seufzer.

Er ließ seinen finsteren Blick über ihre kleine Gruppe gleiten, ehe er wieder zu ihrer Mutter sah, wobei in seinem Kiefer ein Muskel zuckte. „Egal. Vergiss es.“

O-kay. Gemahle. Man konnte nicht mit ihnen leben, aber man konnte ihnen auch nicht die Zunge herausschneiden, ohne ein Leben lang hasserfüllte Blick zu ernten.

„Da jetzt alle hier sind, sollten wir zur Tagesordnung zurückkehren“, sagte Juliette. „Die Spiele waren schon immer ein wichtiger Teil in unserem Leben. Sie erlauben uns, jene zu bestrafen, die uns schlecht behandelt haben …“, natürlich schielte sie bei diesen Worten zu Kaia hinüber, „… und jenen, die wir lieben, zu beweisen, wie stark wir geworden sind. Hier können wir das tun, was wir am besten können. Anderen in den Arsch treten!“

Jubelrufe ertönten.

„In euren Nachrichten findet jede von euch die Liste der Teams“, verkündete Juliette. Ihre Stimme troff vor Zufriedenheit, und ihre Aufmerksamkeit blieb einen Moment lang an Strider hängen.

Und in diesem Moment begriff Kaia die kalte, harte Wahrheit. Vor lauter Wut wäre sie beinahe auf die Bühne geflogen. Ruhig, ganz ruhig. Das ist doch genau das, was Juliette erreichen will. Und was wollte sie noch? Strider. Offenbar hatte die Schlampe auf den Tag gewartet, an dem Kaia ihren eigenen Gemahl fand, höchstwahrscheinlich, um ihn ihr auf dieselbe Art wegzunehmen, wie Kaia ihr einst den ihren weggenommen hatte.

Fan-fucking-tastisch. Wie hatte sich die Sache nur schon herumsprechen können, wenn sie und Strider offiziell noch gar kein Paar waren? Und verdammt noch mal, ein ungebundener Strider wäre leichte Beute. Ihre Wut verwandelte sich in Angst. Galle stieg in ihrer Kehle auf und drohte, herauszuschwappen.

Strider und Juliette … Juliette, die nicht mit Paris geschlafen hatte … ineinander verschlungen, nackt, sich windend, stöhnend, bettelnd …

Oh Götter. Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt. Mit allem anderen könnte sie sich später befassen. Vielleicht. Wenn sie weiter darüber nachdachte, würde sie noch jemanden angreifen – und zwar Juliette oder Strider – oder zusammenbrechen. Nichts von beidem war eine akzeptable Option.

Zitternd zog Kaia ihr Handy aus der hinteren Hosentasche, scrollte nach unten und fand eine Nachricht. Nur war sie nicht beim Team Skyhawk gelistet. Genauso wenig wie ihre Schwestern. „Ich verstehe nicht ganz.“

„Mutter behauptet, sie hätte keine Töchter mehr“, erklärte Taliyah. „Was bedeutet, dass wir nicht als Skyhawks teilnehmen können. Ich musste den Rat ersuchen, einen neuen Clan aufzunehmen. Als das erledigt war, waren wir dabei.“

Keine Reaktion. Sie würde keine Reaktion zeigen. Sie war nicht gerade dabei, innerlich zu sterben. Nein, das war sie nicht. „Und wie lautet unser neuer Teamname?“ Die Antwort erschien auf ihrem Display, bevor sie weitersprechen konnte. Team Kaia. Ihre Schwestern sowie Neeka und ein paar andere kämpften im Team Kaia.

Einen Moment lang verblasste ihre Umgebung genauso wie ihr Schmerz, und sie wärmte sich in der unbeirrten Unterstützung ihrer Schwestern. Sie liebten sie. Was auch geschah, sie liebten sie. Sie akzeptierten sie. Sie fanden, sie sei gut so, wie sie war. Dann kam mit rasender Geschwindigkeit die Welt zurück in ihr Bewusstsein, und sie musste brennende Tränen wegblinzeln.

Verdammt noch mal. Wie oft würde sie heute denn noch den Drang zu weinen unterdrücken müssen?

„Der erste Wettkampf beginnt morgen in aller Frühe“, sprach Juliette weiter. „Danach werden alle darüber informiert, wo genau der nächste Wettkampf stattfindet. Wie ihr wisst, halten wir die Spiele nicht mehr an nur einem Ort ab, weil sie in der Vergangenheit von einigen Teilnehmerinnen manipuliert und sabotiert wurden.“ Obwohl Kaia dafür nicht verantwortlich war – hallo-ho, sie war ja nicht mal eingeladen gewesen –, richtete Juliette die Worte explizit an sie.

Egal. Sollte sie doch. Ihre Wirbelsäule richtete sich noch ein Stückchen auf, als würde sie von Stahlseilen gehalten.

Strider legte ihr die Hände auf den unteren Rücken. Sie fühlten sich warm, ruhig und tröstlich an. Und brodelnd. Süßer Himmel, abermals verblasste die Umgebung, bis nur noch sie beide existierten. Sie stellte sich vor, wie er sie statt mit den Händen mit dem Mund berührte, wie er sich mit der Zunge langsam einen Weg nach unten bahnte. Ihr entfuhr ein Keuchen.

Reiß dich zusammen. Wenn sie wegen eines unschuldigen Tätschelns „auf falsche Ideen“ käme, würde er wie angedroht abreisen. Und das könnte sie ihm nicht mal übel nehmen. In der umgekehrten Situation hätte sie das Gleiche getan.

Tief im Innern waren sie sich sehr ähnlich. Sie beide waren Krieger, geschliffen auf dem Schlachtfeld, scharf wie Dolche, zynisch und bereit, alles für ihre Freunde zu tun. Und irgendwie waren sie auch Freunde. Vom ersten Moment an. Vielleicht wollte er nicht hier sein, aber er wollte auch nicht, dass sie verletzt würde. Deshalb war er gekommen; er würde ihr helfen. Aber er ließe sich nicht zu mehr drängen. Solange sie eine emotionale Distanz aufrechterhielt, würde er bleiben und ihr „Erste-Hilfe-Koffer“ sein.

So wütend und verletzt sie war, so dankbar war sie auch.

„Noch etwas ist in diesem Jahr neu“, fuhr Juliette fort und riss Kaia aus ihren Gedanken. „Der Preis. Dieses Mal werden die Siegerinnen nicht nach jeder Disziplin Silber und Gold bekommen.“

„Was?“, rief jemand.

„Deshalb sind wir doch hier!“, rief eine andere.

Juliette hob die Hände und bat um Ruhe. Eine Bitte, der augenblicklich Folge geleistet wurde. „In diesem Jahr haben wir etwas Besseres.“

Inmitten des Gemurmels teilte sich der Vorhang auf der Bühne. Und dann … Kaia fiel die Kinnlade herunter. Nein. Das war unmöglich, verdammt. Der „Sklave“, den sie vor all den Jahrhunderten in ihren Besitz hatte bringen wollen, derjenige, der in den Harpyienclans solch verheerenden Schaden angerichtet hatte, stellte sich neben Juliette. Wie zuvor waren seine Handgelenke gefesselt. Er war jetzt muskulöser, und seine dunklen Haare waren länger, aber seine Gesichtszüge waren noch immer scharf und stur.

„Gütige Götter. Ist er das?“, japste Bianka.

„Ja“, piepste sie. Niemand hatte ihr gesagt, dass Juliette ihn gefunden hatte. Wann hatte sie ihn gefunden? Und wo? „Er ist es.“

„Wer ‚er‘?“, wollte Strider wissen.

Zuerst dachte Kaia, sie hätte in seiner Stimme eine Spur von Eifersucht ausgemacht, und diese Reaktion war so gemahlmäßg, dass sie ihn am liebsten heftig und dreckig geküsst und splitternackt ausgezogen hätte. Sie wollte ihn bis in alle Ewigkeit hart und schnell reiten. Alles meins. Dann verpasste ihr Verstand ihr einen astreinen rechten Haken. Vielleicht war er eifersüchtig, aber nicht so, wie sie es gewollt hätte. Strider hatte beschlossen, ihr zu helfen, und sein Dämon würde niemandem erlauben, ihm in die Quere zu kommen. Schon gar nicht einem anderen Krieger.

Ein Teil von ihr bedauerte das. Der andere Teil bedauerte es zutiefst. „Jetzt trägst du aber etwas dick auf, Doc. Er ist niemand, der dich zu interessieren hat.“

„Kaia“, mahnte er.

„Leise jetzt.“ Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Er sollte nicht von ihrer Dummheit erfahren, wo er ohnehin schon so wenig von ihr hielt. „Sonst stehe ich vor meinem Team noch schlecht da.“

„Kaia.“

„Na schön. Ich erkläre es dir später“, log sie.

Eine angespannte Pause. Dann: „Besser ist es.“

„Sonst gehst du?“

„Ja.“

Ihr Erzfeind – der Mann, den sie jahrelang vergeblich gesucht hatte, um ihn für das zu bestrafen, was er ihrer Schwester angetan hatte – hielt nun einen langen, dünnen Speer in der Hand.

Seine dickeren, länglichen Enden waren aus Glas, und irgendetwas glänzte und drehte sich darin.

Dieser Speer strahlte eine schier unerträgliche Macht aus.

Juliette nahm ihm die Waffe ohne ein Wort des Dankes ab. Der Mann – sein Name war Lazarus, das hatte Kaia vor langer Zeit erfahren; doch sie und Bianka hatten ihm den Spitznamen Der Tampon verpasst, weil er so ein Vollidiot war – drehte sich auf dem Absatz seiner Stiefel um. Er ließ seinen düsteren Blick suchend über die Menge gleiten … ehe er Kaia erspähte und sie anstarrte.

Der Sauerstoff gefror ihr in der Lunge, sodass es unmöglich war, weiterzuatmen. Jetzt bloß keine Reaktion zeigen, dachte sie. Nicht hier und nicht jetzt. Aber später würde sie ihn aufsuchen. Und sie würde ihm genauso wehtun, wie sie es immer vorgehabt hatte.

Langsam verzog er den Mund zu einem Grinsen. So hübsch …und so kalt und böse. Sie fauchte, und ihre Eckzähne sprangen aus ihrem Kiefer. Du bist ein toter Mann, Cowboy. Er gehörte zu Juliette, ja, und niemand gab ihm die Schuld für das, was mit ihren Lieben geschehen war, sondern Kaia. Und, ja, sie beschuldigten sie aus gutem Grund. Hätte sie die Anweisungen ihrer Mutter befolgt, hätte er nicht die Kraft gehabt, irgendwem etwas anzutun. Aber er war es gewesen, der mit Zähnen und Klauen Fleisch zerrissen hatte. Er hatte all diesen Harpyien den Todesstoß versetzt.

Und er wäre es auch, der dafür bezahlen würde – und zwar durch Kaias Hand.

Jedes Mal, wenn sie einen Obstkorb an Juliette verschickt hatte, hatte sie auf die Vergangenheit hingewiesen – aber in ihrem Kopf hatte sie sich für etwas entschuldigt, was sie für die Zukunft geplant hatte: ihn umzubringen. Niemand verletzte ihre Schwestern. Niemand.

„Vergiss später. Wer ist er, verdammt noch mal?“, wiederholte Strider.

Ehe sie sich eine Antwort überlegen konnte, setzte sich Der Tampon in Bewegung, verließ die Bühne und versteckte sich hinter dem Vorhang. Schlau von ihm. Sie war sich nämlich nicht sicher, wie lange sie sich noch zurückhalten könnte, bevor sie auf ihn losgegangen wäre.

Aber wenn sie ihn angriff, sollte es unter vier Augen geschehen. Niemand sollte da sein, um ihn zu retten.

„Später“, entgegnete sie noch einmal.

„Das hier“, sagte Juliette und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf den Speer in ihrer Hand, „ist etwas sehr, sehr Kostbares. Es ist viel kostbarer als Silber oder Gold.“ Mit ihren lavendelfarbenen Augen fixierte sie Kaia. „Ich bin mir sicher, dass ihr die Macht gespürt habt, die davon ausgeht, aber soll ich euch etwas verraten? Diese Macht kann sich auf euch übertragen. Ihr könnt sie ausüben und kontrollieren. Ihr werdet stärker sein, als ihr es euch vorstellen könnt. Ihr werdet unbesiegbar sein.“

Ein Murmeln wurde laut.

Wenn es stimmte, was Juliette behauptete, warum hatte sie die Macht dann nicht auf sich übertragen? Warum hatte sie Kaia nicht schon längst angegriffen? Warum war sie so eifrig darauf aus, dieses Ding herzugeben?

Juliette lächelte nachsichtig. „In all den Jahrhunderten haben die Götter diese mächtige Waffe die Zweiadrige Rute genannt. Aber ich habe dafür einen besseren Namen: Erster Preis.“

Strider erstarrte.

Sabin fluchte.

Beide Männer wären auf die Bühne gesprungen, wenn Taliyah und Neeka sie nicht zurückgehalten hätten. Aber es hätte ihnen sowieso nichts genützt, da die Waffe von einer Sekunde auf die andere verschwand.

„Was zum Teufel ist das?“, fragten Kaia, Gwen und Bianka im Chor.

Kaia drängte ihre Schwestern von der Seite ihres Mannes, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und zwang ihn, sie anzusehen. „Was geht hier vor?“

„Der Erste Preis“, zischelte Strider. „Das ist das vierte Artefakt, das wir brauchen, um die Büchse der Pandora zu finden und zu zerstören.“

„Was bedeutet“, ergänzte Sabin tonlos, „dass der Erste Preis die Macht hat, uns für immer das Licht auszupusten.“