2. KAPITEL
Strider wartete im Eingangsbereich des Anchorage Police Department. Sein Freund Paris war bei ihm. Die Kaution für Kaia hatten sie bereits hinterlegt, nun warteten sie darauf, dass man sie in ihre Obhut entließ. Komm schon, Rotschopf. Beeil dich. Ein Polizist nach dem anderen musterte Strider argwöhnisch von Kopf bis Fuß – die Leibesvisitationen, die er schon über sich hatte ergehen lassen müssen, waren weitaus weniger invasiv gewesen –, während ihre Kolleginnen ihn mit den Blicken auszogen. Ihn und Paris.
Sie waren bewaffnet, ja. Strider hätte nicht einmal eine Kirche im Himmel besucht, ohne irgendwo ein paar Messer zu verstecken – insbesondere seitdem er wusste, dass der Himmel von einem verfluchten Riesenarschloch von Engel bewacht wurde –, geschweige denn ein Gebäude betreten, das bis unters Dach mit Waffen und Menschen gefüllt war, die eben diese Waffen zu benutzen wussten. Bisher hatte niemand eine Bemerkung fallen lassen, aber sie konnten die hübsche Sammlung, die er unter Jacke, T-Shirt und Jeans verbarg, ja auch nicht sehen.
„Warum müssen wir beide uns schon wieder darum kümmern?“, fragte Paris. Mit seiner Größe von zwei Metern und den gestählten Muskeln war der Hüter von Promiskuität – vorsichtig ausgedrückt – ein Koloss. Und fünf Zentimeter größer als Strider, der Mistkerl, aber – und das war ein großes Aber – nicht annähernd so stark.
Nach den zahllosen Kämpfen, die sie schon ausgetragen hatten, war das nicht nur Striders subjektive Wahrnehmung, sondern eine unumstößliche Tatsache.
„Ich war ihr noch einen Gefallen schuldig“, erwiderte er, darum bemüht, keine Emotionen zu zeigen. Denn in Wahrheit wäre er lieber im Kerker des Feindes eingeschlossen und ließe sich foltern, statt hier zu sein. In Wahrheit wollte er Kaia nicht wiedersehen. Niemals. In Wahrheit wollte er nicht, dass Paris Kaia je wiedersah. Nie, nie, niemals. „Und sie hat ihn eingefordert.“
„Was für einen Gefallen?“
„Das geht dich nichts an, klar?“ Er wollte nicht darüber nachdenken und schon gar nicht darüber reden. Das wäre viel zu peinlich. Fast, wie in der Öffentlichkeit mit heruntergelassener Hose erwischt zu werden.
Moment. Schlechtes Beispiel. Mit „heruntergelassenen Hosen“ sah er nämlich gut aus. Sehr gut sogar.
Stopp. Ego-Alarm. Er hatte sich vorgenommen, sich nicht immerzu für all seine wundervollen Qualitäten auf die Schulter zu klopfen. Das war den anderen Erdenbürgern gegenüber nicht fair. Sie konnten nichts dafür, dass sie ihm in jeder Hinsicht unterlegen waren.
„Also ich schulde ihr nichts.“ Paris sah ihn mit funkelnden Augen an. Er wirkte angespannt. Tragischerweise, äh, zum Glück schmälerte das seine Attraktivität nicht im Geringsten. Er hatte Haare, die jede Frau vor Neid erblassen ließen. Voll und in unterschiedlichsten Farben schimmernd, von dunkel wie die Nacht bis golden wie Honig. Und für einen Blick in sein schönes Gesicht hätten die meisten Frauen wohl getötet.
Kaia hatte sich wahrscheinlich in diesen Haaren festgekrallt und dieses Gesicht mit Küssen bedeckt.
Strider biss die Zähne aufeinander. „Du hast mit ihr geschlafen. Muss ich dich wirklich daran erinnern?“
„Nein danke. Aber so gesehen ist sie mir einen Gefallen schuldig. Und jetzt bist du mir ebenfalls was schuldig, so wie du mich herbeizitiert und meine Suche unterbrochen hast, nur damit ich dir helfe.“ Sein Ton war so beißend wie Säure. Nicht wegen Strider, sondern wegen der „Suche“.
Sienna, die Frau, nach der Paris sich mehr sehnte als nach irgendetwas sonst, wurde im Himmel als Sklavin des Götterkönigs gefangen gehalten. Und noch schlimmer: Sie war vom Dämon Zorn besessen. Paris hoffte inständig, sie zu finden, zu retten und alle zu bestrafen, die ihr wehgetan hatten.
Strider presste die Zunge an den Gaumen und zwang sich zu schweigen. Paris hatte sein „Ein und Alles“ gefunden, wie der Vollidiot sich seit einiger Zeit ausdrückte, und dennoch mit Kaia geschlafen. Nach Striders Meinung sollte ein Mann, der ein „Ein und Alles“ hatte, nicht so herumhuren. Ja, ja, Paris konnte nicht anders. Wegen seines Dämons musste er jeden Tag mit einer anderen Frau schlafen, sonst wurde er immer schwächer oder … starb.
Ein winziger Teil von Strider wünschte beinahe, sein Freund hätte sich fürs Schwächerwerden entschieden, anstatt die Harpyie anzufassen.
Natürlich bekam er bei dem Gedanken sofort ein schlechtes Gewissen. Kaia war nicht Striders Ein und Alles, falls es so etwas für ihn überhaupt gab. Sie musste sich ständig beweisen, war zu stark und zu sehr darauf aus, ihm das Leben schwer zu machen. Die Ironie des Ganzen war ihm sehr wohl bewusst. Er verhielt sich allen anderen gegenüber genauso. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, und besitzergreifend, wie er schon immer gewesen war, gefiel ihm die Vorstellung überhaupt nicht, dass sie mit einem anderen Mann schlief.
Vor allem, weil er in allem, was er tat, der Beste sein musste. Wegen seines Dämons musste er gewinnen – auch im Bett. Und da er niemanden kannte, der mehr Erfahrung hatte als Paris, gab es keine Chance für Strider, auf diesem Gebiet zu siegen.
Vielleicht hätte er die anderen Gründe ignorieren können, aus denen er Kaias in letzter Zeit immer stärker werdende Avancen abwies. Aber diesen einen konnte er nicht vergessen. Nicht mal für eine einzige Nacht. Denn ein Mann, der einmal von der verbotenen Frucht probiert hatte, würde zurückkehren und mehr haben wollen. Da sein Verstand schon arg angeschlagen war, könnte er nicht anders. Strider würde also immer wieder zu ihr zurückkehren, und jedes Mal, wenn er sie berührte, sie schmeckte und ihr mit den Zähnen das Höschen auszöge, würde er Schmerz in seiner reinsten Form erfahren.
Ja, Strider war verdammt gut im Bett. Und das sollte kein Eigenlob sein. Das mache ich ja nicht mehr, erinnerte er sich. Na gut, weil er so außergewöhnlich talentiert war, würde er noch einmal eine Ausnahme machen. Er war besser als „gut“. Er war eine Granate. Aber er ließ sich niemals auf einen Kampf ein, den zu gewinnen er sich nicht sicher war. Nichts war die körperlichen und seelischen Qualen wert, die eine Niederlage mit sich brachte, und Paris war vermutlich noch besser als eine „Granate“.
Nein. Nicht „vermutlich“, wenn Strider dem Gestöhne glauben konnte, das aus den zahlreichen Hotelzimmern erklungen war, die Paris in den vergangenen Jahrhunderten schon angemietet hatte.
Aber das Glücksgefühl, das ein Sieg mit sich brachte … süße Götter im Himmel. Das war sogar besser als Sex. Strider war genauso süchtig nach diesem Rausch wie Paris nach Ambrosia, der Droge der Unsterblichen. Lieber würde er einem geliebten Freund die Kehle durchschneiden, als von ihm – oder ihr – besiegt zu werden. Und sei es auch in so etwas Unwichtigem wie einem Buchstabierwettbewerb.
Die beste Art, Sieg zu buchstabieren? T-Ö-T-E-N.
„Wie auch immer“, holte Paris ihn zurück in die Gegenwart. „Was hat Kaia für dich getan, dass du bereitwillig Schulden bei mir machst?“
„Wie gesagt: Das geht dich nichts an. Hast du was an den Ohren?“
„Nein, aber ich dachte, wenn ich weiter nachbohre, knickst du vielleicht ein.“
„Falsch gedacht. Nur zur Erinnerung: Ich bin etwas sturer als die meisten. Und außerdem habe ich bei dir keine Schulden gemacht. Im Gegenzug für deine Hilfe habe ich mich bereit erklärt, mit dir nach Titania zu gehen und nach Sienna zu suchen.“ Titania. Bescheuerter Name. Aber Cronus, dieser egomanische Götterkönig, hatte den Olymp neu benannt, um die eingekerkerten Griechen, die hier einst regiert hatten, zu ärgern.
Man brauchte schon Eier aus Titan, um einen Ort nach sich selbst zu benennen. Ihn würde interessieren, was Cronus damit zu kompensieren versuchte.
Nicht dass Strider und sein bestes Stück, das er bescheidenerweise Stridey-Monster nannte, dazu etwas hätten sagen können. Sie waren in jeder Hinsicht perfekt.
Ego-Alarm. Verdammt noch mal. Wie oft würde er den heute noch ausrufen müssen?
„Du hast mir einen riesigen Schuldschein ausgestellt, Alter. Du hast dich nämlich auch bereit erklärt, diesen Vollidioten William zu kidnappen und mitzunehmen“, meinte Paris.
„Ich habe mich auch bereit erklärt, diesen Vollidioten William zu kidnappen und mitzunehmen, ja.“ Und das ärgerte ihn noch immer maßlos. William, ein sexsüchtiger Unsterblicher, der mit Kaia schlafen wollte. Leider war Willy momentan auch die einzige Person, die Sienna sehen konnte. Sienna war nämlich tot, und er hatte die Fähigkeit, Tote zu sehen.
Außerdem war es hilfreich, dass der Kerl sich hin- und herbeamen konnte. Aus irgendeinem Grund kehrten die Fähigkeiten, derer die Götter ihn einst beraubt hatten, nun zurück.
Egal. Strider und seine Gefährten hatten in der jüngsten Vergangenheit gelernt, dass „tot“ nicht notwendigerweise „für immer fort“ bedeutet. Nicht für Menschen und ganz gewiss nicht für Unsterbliche. Ganz im Gegenteil. Seelen konnte gefangen, manipuliert und … missbraucht werden. Sienna gehörte zur Sorte „missbraucht“, und Paris war fest entschlossen, sie zu retten.
Der besessene Krieger verlagerte das Gewicht von einem gestiefelten Fuß auf den anderen. Hinter dem Schalter stöhnte eine Frau, als sei die Bewegung für sie die reinste Folter. „Du hast mir deine Hilfe angeboten, obwohl du wusstest, dass du Sienna auf jeden Fall finden musst – ganz egal, wie lange es dauert. Sonst leidest du Qualen. Furchtbare Qualen.“
Was Strider anging, konnte es gar nicht lange genug dauern. Je größer die Distanz zwischen ihm und Kaia war, desto besser. Er musste sich beweisen, dass er fortgehen und sie vergessen konnte.
Das hatte er schon einmal getan. Das Problem war nur, dass er sie nun besser kannte und sich stärker zu ihr hingezogen fühlte.
„Du bist wochenlang im Himmel gewesen, ohne Fortschritte zu machen“, meinte Strider. „Du brauchtest mich.“
„Ja, aber du brauchst mich nicht. Nicht für so etwas Einfaches.“
Doch. Das tat er. Er musste Paris und Kaia zusammen sehen. Er musste sich in Erinnerung rufen, warum er sie nicht haben konnte. Warum er aufhören musste, die ganze verdammte Zeit an sie zu denken. Warum sie schlecht für ihn war. Am besten, bevor sein Dämon beschloss, dass sie sich Kaia nehmen müssten – oder Schlimmeres.
Außerdem musste Strider aus Budapest fliehen, um Abstand zu Amun und dessen neuer Freundin Haidee zu bekommen. Strider hatte zweitklassige Annäherungsversuche bei ihr gestartet, doch sie hatte ihn abgewiesen. Sicher, er hatte sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit beleidigt und gedroht, ihr den Kopf abzuschlagen, aber meine Güte – dafür hatte er auch exzellente Gründe gehabt.
Haidee war früher eine Jägerin gewesen, hatte seinen besten Freund Baden getötet, den Hüter von Misstrauen, und hatte versucht, sein Zuhause zu zerstören.
Dennoch hatte er sie begehrt. Und jetzt wurde er bei ihrem Anblick jedes Mal an seine Niederlage erinnert. An seinen Verlust. An den folgenden Schmerz. Aber – und das war der Knackpunkt – er hatte niemals Schwierigkeiten gehabt, ihr zu widerstehen. Er hatte ohne Probleme seine Zunge, seine Hände und sein Lieblingsanhängsel bei sich behalten.
Kaia hingegen würde dieses Wohlwollen nicht erfahren, wenn sie Zeit zu zweit verbrächten. Schon jetzt lief ihm bei der Vorstellung, wie sie wohl schmecken mochte, das Wasser im Mund zusammen; schon jetzt juckten seine Hände vor lauter Lust, sie zu berühren, und sein bester Freund ragte in peinlicher Vorfreude steil empor.
Oh ja. Er musste sich so weit wie möglich von der gesamten Situation entfernen.
„Stridey-Man. Bist du bei mir oder was?“
Er blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück. Paris. Polizeirevier. Bewaffnete Menschen. Ständig mit den Gedanken abzuschweifen, war dämlich. Kaia warf er immer vor, dass sie sich nicht konzentrierte – noch ein Grund, ihre Nähe zu meiden. „Ich will nicht darüber reden“, war alles, was er erwiderte.
Paris wollte ihm gerade eine passende Antwort geben, da vernahmen sie das willkommene Klappern von Absätzen auf dem benachbarten Korridor. Kurz darauf bog Kaia um die Ecke. Die seidigen roten Haare fielen ihr wirr über den Rücken, die graugoldenen Augen leuchteten und ihr sinnlicher Körper bewegte sich in einem verführerischen Takt, den hoffentlich nur Strider hören konnte. Zumindest betete er dafür.
Nein. Er wollte ihn gar nicht hören, also würde er auch nicht beten, dass nur er ihn hören könnte. Aber falls noch jemand diesen Takt hörte, würde er ihm aus beiden Ohren das Trommelfell herausreißen. Weil Kaia trotz allem seine Freundin war. Sie hatten gemeinsam gegen den Feind gekämpft und füreinander Blut vergossen. Sie hatten sogar miteinander gescherzt und gelacht, verdammt. Also waren sie Freunde, und er konnte es nicht leiden, wenn jemand seine Freunde schikanierte. Und das war der einzige Grund, verflucht. Dasselbe hätte er für Paris getan – der gut daran täte, diesen Takt nicht zu vernehmen!
„Bringen Sie sich nicht noch einmal in Schwierigkeiten, hören Sie?“, sagte der Officer, der sie begleitete, mit unverhohlener Zuneigung. Am liebsten hätte Strider den Kerl dafür umgebracht, dass er sie so unverblümt belästigte – oder überhaupt mit ihr sprach. „Wir alle lieben Sie, aber wir wollen Sie hier nicht noch einmal sehen.“
Beruhig dich. Du bist nicht mit ihr zusammen, und du wirst auch nicht mit ihr zusammen sein. Oder sie küssen. Am ganzen Körper. Ob der Bulle mit ihr flirtet oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle.
„Als ob ich mich ein viertes Mal erwischen lassen würde“, erwiderte sie und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln.
Bei diesem Anblick zog sich Striders Brust zusammen. Niemand sollte so volle rote Lippen haben oder so gerade weiße Zähne. Da war es auch nicht gerade hilfreich, dass sie pinkfarbene, kniehohe Schlangenlederstiefel trug, kombiniert mit einem ultrakurzen Jeansrock und einem weißen Trägertop, durch das man ihren weißen Spitzen-BH sehen konnte.
Ein Wunder, dass sie heute überhaupt einen BH trug.
Als sie ihn erblickte, blieb sie kurz stehen, und ihr Lächeln verblasste. Er wusste nicht genau, welche Reaktion er von ihr erwartet hatte, aber Zurückhaltung ganz sicher nicht.
Ihr Blick wanderte zu Paris, und ihr Lächeln kehrte zurück. Genau wie das Engegefühl in Striders Brust. „Hey, Fremder. Was machst du denn hier?“
„Das weiß ich auch nicht so genau.“ Paris warf seinem Freund einen finsteren Blick zu. „Nicht dass ich unglücklich bin, dich zu sehen, versteh mich nicht falsch.“
„Schon klar. Ganz meinerseits. Und danke fürs Abholen. Das weiß ich sehr zu schätzen.“
„Jederzeit. Nur hoffentlich nicht so bald wieder.“
Sie lachte leise, und dieses warme, volle Geräusch barg einen erotischen Unterton, der sanft über Striders Haut streichelte. „Versprechen kann ich’s nicht.“
Obwohl die beiden nicht miteinander flirteten, kratzten ihre Stimmen an seinen Ohren. Vielleicht weil er insgeheim darauf wartete, dass sie einander anhimmelten, damit seine Hormone endlich kapierten, dass sie Sperrzone für ihn war.
Er hatte das Gefühl, dass er sich so oder so geärgert hätte.
Wie zuvor ihr Lächeln verging jetzt ihr Lachen, als sie ihre Aufmerksamkeit auf Strider richtete. „Aha“, sagte sie. „Du also.“ Sie klang, als hätte sie gerade eine fleischfressende Bakterienkultur auf ihrer Schuhsohle entdeckt.
Die Unfreundlichkeit ist keine Herausforderung, informierte er seinen Dämon, als der dämliche Kerl den Kopf reckte.
Keine Antwort. Fakt war: Niederlage war von Kaia eingeschüchtert und wollte so selten wie möglich ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Eigentlich ließ Niederlage sich ohnehin nur dann dazu herab, mit Strider zu sprechen, wenn sein Kampfgeist beteiligt war.
Strider zog es jedoch vor, wenn sich der kleine Bastard in seinem Kopf zurückzog und sich als dunkler, stiller Schatten zeigte, der sich leicht ignorieren ließ.
„Ich habe damit gerechnet, dass du jemanden schickst, und nicht selbst kommst“, fügte Kaia hinzu und lehnte sich auf ihren Absätzen zurück.
„Nach der Nachricht, die du mir hinterlassen hast?“ Er schnaubte. „Wohl kaum.“
„Heulst du etwa? Weil ich da so einen weinerlichen Schuljungen höre.“
Ich finde sie nicht amüsant. „Ich heule nicht.“
Er hatte sich diese Nachricht tausendmal angehört und kannte jedes Wort und jeden Atemzug auswendig. Piep.
Strider? Hey. Hier ist Kaia. Weißt du noch? Die Frau, die dir vor ein paar Wochen das Leben gerettet hat. Dieselbe Frau, die du danach mit Füßen getreten hast. Tja, heute ist Zahltag. Schwing doch bitte deinen trägen Hintern aus dem Bett und hol mich aus dem Gefängnis, bevor ich mich dazu entschließe, auszubrechen und dein Gesicht als Versuchsfeld für meine spitzen Absätze zu benutzen. Piep.
Feindseligkeit war gut, und er hoffte ernsthaft, dass sie so weitermachen würde, obgleich er Himmel und Erde hatte in Bewegung setzen müssen, um hierherzukommen. Himmel – weil er Paris angerufen und überredet hatte, alles stehen und liegen und sich von Lysander nach Hause bringen zu lassen, um Strider zu begleiten. Erde – weil er Lucien angerufen und überredet hatte, alles stehen und liegen zu lassen und sie beide binnen einer Sekunde von Budapest nach Alaska zu beamen. Keins von beidem war einfach gewesen.
Er hätte sich sogar lieber die Zunge mit einem stumpfen, verrosteten Buttermesser herausschneiden lassen. Beide Männer hatten Fragen gestellt. Viele Fragen, auf die er nicht hatte antworten wollen.
Und ja – nun war Strider auch dem Hüter von Tod einen Gefallen schuldig. Langsam stapelten sich seine Schuldscheine, und das alles nur wegen dieser auf trügerische Art zierlich aussehenden, extrem kurvenreichen Mordsbraut, die da vor ihm stand und ganz offensichtlich seinen Kopf auf einer Pike aufgespießt sehen wollte.
„Es wäre nett gewesen, wenn du mir einen Hinweis auf deinen Aufenthaltsort gegeben hättest. Torin musste alle …“ Strider unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, ehe er öffentlich zugab, dass Torin, der Hüter von Krankheit, sich in jede Datenbank der Welt einhacken konnte. Diese Fähigkeit hielten sie besser sorgfältig unter Verschluss. „Er musste dich suchen. Und das hat uns ziemlich viel Zeit gekostet.“
„Und?“
„Und? Das ist alles, was du zu deinem miesen Verhalten zu sagen hast?“ Den Göttern war Dank – wie er gehofft hatte, hielt sie ohne zu zögern an ihrer Feindseligkeit fest. Ja, den Göttern war Dank. „Du hättest Bianka anrufen können. Es heißt, sie ist mit dir hier in Anchorage.“ Nicht, dass sie seinen Anruf entgegengenommen hätte. „Aber stattdessen verschwendest du meine Zeit mit diesem Mist.“
„Und?“
Verdammt noch mal! Ein bisschen Dankbarkeit war doch nicht zu viel verlangt, oder? Er hätte schließlich auch zu Hause bleiben und sie verrotten lassen können. Stattdessen hatte sie – bildlich gesprochen – einmal mit ihren langen Wimpern geklimpert, und er war wie ein treudoofer Hund zu ihr gehechelt. Nervtötende Frau.
Er hatte ihr unrecht getan, ja, und im Gegensatz zu Haidee hatte sie es nicht verdient. Ich dachte, darüber wolltest du nicht nachdenken. Die Erinnerungen kamen trotzdem.
Eine Gruppe Jäger war ihm tagelang gefolgt, aber er war viel zu beschäftigt gewesen, sich im Selbstmitleid zu suhlen, weil er Haidee an Amun verloren hatte, um es zu bemerken. Kaia war gerade rechtzeitig aufgetaucht, um einen verheerenden Hinterhalt zu verhindern. Und – mächtige Götter! – sie war sexy, wenn sie kämpfte.
Diesen speziellen Kampf hatte er zwar nicht gesehen, dafür aber einige davor – und den einen danach, und er hatte sogar Kampfzüge mit ihr trainiert. Er konnte sich den Todestanz, den sie in jener Nacht vollführt hatte, lebhaft vorstellen.
Dann war der Kampf danach gekommen, als sie ihn zu einer Runde „Wer tötet mehr Jäger?“ herausgefordert hatte. Er war total sauer gewesen, weil sie erstens mehr Jäger umbringen konnte – keine Frage – und er zweitens andere Dinge zu tun gehabt hatte. Wie zum Beispiel die ersten Ferien seit Jahrhunderten zu machen. Doch die Herausforderung war ausgesprochen gewesen, sein Dämon hatte sie angenommen und Strider hatte alles stehen und liegen lassen müssen, um keine Niederlage zu erleiden.
Zu seinem Entsetzen hatte sie ihn gewinnen lassen. Als Harpyie konnte sie eine ganze Armee binnen Sekunden in Stücke reißen – und zwar ohne auch nur ein bisschen ins Schwitzen zu geraten –, doch statt ihnen den Todesstoß zu versetzen, hatte sie ihre noch atmenden Eroberungen aufeinandergestapelt und Strider überlassen. Danach war sie verschwunden.
Und bis zu der Nachricht auf seiner Mailbox hatte er nichts mehr von ihr gehört.
„Ich will gar nicht darauf herumreiten, wie langsam du bist“, sagte Kaia, während sie sich die Fingernägel an ihrem Top polierte, „aber ich musste Bianka schon zwölfmal an nur einem Tag aus dem Gefängnis holen und habe mich nicht ein einziges Mal beschwert.“
Nicht amüsant, sagte er sich erneut. „Habe ich dir schon mal gesagt, wie sehr ich es hasse, wenn Leute übertreiben?“
„Ich schwöre es!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Ich habe mich wirklich nicht beschwert.“
Kein bisschen amüsant. Ich werde nicht lachen. „Das meinte ich nicht.“
„Ach so, tja.“ Die Empörung fiel von ihr ab. „Ich übertreibe nicht. Niemals.“
Er musste sich ein Lachen verkneifen – ein frustriertes Lachen, kein amüsiertes, versicherte er sich. „Du übertreibst zum Beispiel in exakt diesem Augenblick.“
„Und du jammerst immer noch, du Heulsuse!“
Götter, sie war wunderbar, wenn sie wütend war. In ihren Augen glänzte das Gold stärker als das Grau, als würden Flammen durch ihre Iris tänzeln, und ihre Wangen erröteten wie eine seltene, exotische Rose. Ihre prächtige rote Mähne stand regelrecht von ihrer Kopfhaut ab, als hätte sie den Finger in eine Steckdose gesteckt. Rings um sie knisterte die Energie.
„Wow“, sagte Paris und sah sich um. „Das nenne ich mal lustig.“
„Habe ich dir jemals gesagt, wie sehr ich Sarkasmus verabscheue?“, fragte Strider ihn.
Kaia holte kontrolliert Luft, ohne den Blick von Strider zu nehmen. „Weißt du, lassen wir dein Heulsusen-Gehabe mal beiseite, aber ich werde mich trotzdem nicht bei dir revanchieren und auch nicht zu meiner Anhörung auftauchen.“ Arrogant und bockig hob sie das Kinn. „Nur dass du’s weißt.“
Auf Wiedersehen, Nicht-Amüsiertheit. Scheiß auf eine Entschuldigung. Niederlage summte jetzt. Er war bereit zu kämpfen – ob er von ihr eingeschüchtert war oder nicht. Strider knirschte mit den Zähnen, sagte jedoch kein Wort mehr. Er machte einfach auf dem Absatz kehrt und stapfte aus dem Gebäude, bevor die Situation in irgendeiner Form hässlich würde. Paris und Kaia zwang er, ihm zu folgen. Zusammen. Vielleicht täten sie ihm den Gefallen und hielten Händchen.
Er hörte, wie sie hinter ihm her stapften und ununterbrochen miteinander plauderten, und zerrte seine Sonnenbrille aus der Jackentasche. Er setzte sich das Metallgestell auf die Nase. Obwohl die Sonne hell am Himmel stand, war die Luft kalt. Strider polterte die Stufen hinunter, blieb stehen und wirbelte herum.
Kein Händchenhalten, aber definitiv Wir-haben-einander-nackt-gesehen-Funken. Sie steckten die Köpfe zusammen und sprachen leise und vertraut miteinander. Vermutlich schwelgten sie in Erinnerungen an die tausend gemeinsamen Orgasmen.
Das war genau das, was er wollte und brauchte. Eine Erinnerung.
Eine Erinnerung daran, dass Paris der Harpyie die Kleider vom Leib gerissen hatte. Dass er sie auf sein Bett geworfen und zugesehen hatte, wie ihre vollen Brüste dabei auf- und abgewippt sind. Dass er ihre Knie auseinandergedrückt hatte. Dass er in das heißeste, feuchteste Stückchen Himmel geblickt hatte, das die Erde je beehrt hatte. Dass er seinen Kopf nach unten gebeugt, geleckt, geschmeckt, genossen und die weiblichen Schreie der Leidenschaft und Hingabe gehört hatte, während sich weiche und zugleich muskulöse Beine in seinen Rücken gepresst hatten. Vielleicht sogar Stilettos. Und dann, als sein Hunger zu groß geworden war, hatte Paris sich aufgerichtet und war in einen Kern eingedrungen, der so herrlich eng war, dass es ihn auf immer verändert hatte.
Kaia hatte den Krieger fest umschlungen. Hatte seinen Namen geschrien. Hatte ihn gekratzt, gebissen und um mehr gebettelt.
Plötzlich wurde Paris’ Gesicht zu Striders, und auf einmal war es Strider, der in diesen geschmeidigen kleinen Körper stieß – rein und raus, immer und immer wieder. Hart und schnell, während er stöhnte und noch mehr wollte.
Fantasie … unerträglich …
Er ballte die Hände zu Fäusten. Verdammt noch mal und verdammt waren Paris und Kaia. Denn wenn er ehrlich war, war er genauso wütend auf Paris, wie er von Kaia erregt war. Und er war so verflucht erregt, dass er sich das T-Shirt über den Hosenbund ziehen musste, um den wachsenden Beweis dafür zu verbergen. Paris hätte Kaia widerstehen müssen; er begehrte eine andere, und Kaia hatte etwas Besseres verdient, als zweite Wahl zu sein.
Warum konnte Kaia das nicht sehen?
Jeden Moment würde Strider nicht mehr das Verlangen verspüren, sie auseinanderzureißen, Paris’ Gesicht über den Beton zu schleifen und danach die Luft aus Kaias Lungen zu saugen. Jeden Moment würde er seinem Kumpel wohlwollend auf die Schulter klopfen und damit anfangen, Kaia als eine hübsche Frau zu sehen, die für ihn nicht mehr war als eine gute Freundin – und definitiv keine Geliebte.
Ja. Jeden Moment.