11. KAPITEL
Der nächste Morgen dämmerte hell und früh. Zu hell, zu früh. Kaia war die ganze Nacht wach geblieben. Ihre Gedanken waren viel zu aufgewühlt gewesen, als dass sie ein Auge hatte zumachen können. Als sie nun das orangefarbene Glühen der Sonne sah, zeigte sie ihr wütend den Stinkefinger.
„Hau ab, du Mistding!“
Strider lag auf ihrem Bett und beobachtete sie amüsiert. Er hatte sich auf der Matratze breitgemacht und tief und fest geschlafen, während sie die ganze Nacht unruhig auf und ab gegangen war.
„Mit wem sprichst du?“, fragte er mit verschlafener Stimme.
Mit einer verschlafenen Stimme, die sie antörnte. Dieser Mistkerl, alles an ihm törnte sie an. Ergreif die Initiative. Erstick die Sache im Keim. „Vielleicht mit dir“, erwiderte sie zickig, stürmte zum Bett, schnappte sich ein Kissen und schlug ihm damit auf die Brust.
Er machte sich nicht mal die Mühe, schützend den Arm zu heben. „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, wie entzückend du morgens bist?“
Wumms. „Nein.“ Wumms.
„Würdest du dich mal kurz setzen?“ Er riss ihr das Kissen aus den Händen und warf es auf den Boden. „Meine Güte. Ich brauche … Ich meine, du brauchst mal eine Auszeit von deinen Sorgen.“
„Ich habe keine Sorgen“, entgegnete sie und ließ sich neben ihn fallen. Lysander hatte sie alle in den Himmel gebracht und jedem ein Zimmer in seiner Wolke gegeben, wo keine andere Harpyie sie erreichen konnte. Sie und Strider hatten sich einen Raum geteilt, und niemand, nicht mal Lysander, konnte ohne ihre Erlaubnis hereinkommen.
So ein spitzenmäßiges Sicherheitssystem war ihr noch nie untergekommen. Und was noch besser war: Die babyblauen Wände fungierten als Fernsehbildschirme und zeigten alles, was sie zu sehen wünschte. Ihre Mutter? Erledigt. Juliette? Würg.
Und das absolut Beste? Kaia brauchte nur zu sagen: „Ich will einen Dolch“, und im nächsten Moment nahm einer auf magische Weise in ihrer Hand Gestalt an.
Kein Wunder, dass Bianka sich entschieden hatte, sich mit einem tugendhaften Engel einzulassen. Ja, Bianka müsste nur noch ein bisschen mehr mit ihrem Engel herummachen, um Lysander davon zu überzeugen, Kaia auch so einen zu beschaffen, damit sie beide mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Immerhin waren sie Zwillinge, und Bianka brauchte sie.
„Kaum war die Nachricht da, hast du angefangen herumzustressen“, sagte Strider. „Das war keine fünf Minuten, nachdem wir hier angekommen sind!“
Die Nachricht. Uff. Vor lauter Sorge verkrampfte sich ihr Magen. Auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. Die ersten Harpyienspiele sollten in zwei Stunden beginnen.
Da die Mannschaftskapitäne zu wertvoll waren, um in dem Turnier schon so früh anzutreten und womöglich zu verlieren, nahmen sie an dem ersten Wettkampf niemals teil. Stattdessen wurden die vier stärksten und brutalsten Mitglieder eines jeden Teams ausgewählt, und die Kapitäne beteten nur, dass sie überlebten.
Doch Kaia musste kämpfen – obwohl sie Kapitän ihres Teams war.
In der vergangenen Nacht hatte sie dank der Wolkenwände ihr Motelzimmer beobachtet. Eine nach der anderen waren Harpyien aller anderen Teams hineingeschlichen, in der Hoffnung, ihr Gewalt antun zu können. Als ob sie in einem Zimmer bliebe, das sie unter ihrem Namen gemietet hatte. Also bitte. Aber für so dumm hielten die anderen sie. Und sie würden ihr solange nach dem Leben trachten, bis sie gelernt hätten, sie zu fürchten.
Das hatte sie von ihrer Mutter gelernt.
Und deshalb würde sie sie heute das Fürchten lehren.
Wer sonst noch kämpfen musste? Taliyah, Neeka – die Kaia niemals hatte kämpfen sehen, die Taliyah ihr aber ans Herz gelegt hatte; und Kaia vertraute ihrer älteren Schwester – und Gwen. Bianka schmollte noch immer, aber unterm Strich war Bianka einfach zu nett.
Einmal hatte sie eine andere Harpyie gegrillt, die ihr Aussehen demoliert hatte. Cool, oder? Nur … als das Mädchen geschrien und sich gewunden hatte, war Bianka schlechten Gewissens losgeflitzt, um ihr ein Glas Wasser zu holen. So etwas taten nur Weicheier.
„Wenn du schon nicht still sitzen willst, verrate Papa Stridey wenigstens, was dich bedrückt.“
Wieder diese grollende Stimme, die sie streichelte, durch ihre Haut sickerte, mit ihren Zellen verschmolz und ein Teil von ihr wurde. Offensichtlich ließ sich der Keim nicht einfach ersticken. „Ich muss daran denken, dass allein Gefängnisregeln gelten werden.“
Er musste lachen. „Was soll das denn heißen? Dass man die Seife nicht fallen lassen sollte? Kommen in Runde eins etwa verschiedene Duschköpfe zum Einsatz?“
„Etwas mehr Ernst wäre durchaus angebracht.“
Er schnaubte. „Dass ausgerechnet du von Ernst sprichst. Seltsam. Aber …“ Er setzte sich auf, und sein Blick zeugte von Interesse. Die Decke rutschte bis zu seiner Hüfte hinunter, sodass ein Muskelstrang nach dem anderen zum Vorschein kam. „Bitte sag mir, dass in Runde eins verschiedene Duschköpfe zum Einsatz kommen.“
Ihre Lippen zuckten, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief – so gerne hätte sie von ihm genascht. „Nein, du Perversling. Keine Duschköpfe. An meinem ersten Tag muss ich sofort die Größten und Schlimmsten töten. Nur dann werden die anderen mich in Ruhe lassen.“
„Clever. Wie kann ich dir helfen?“
„Indem du in den Rängen sitzt und gut aussiehst.“
„Geschenkt. Aber was kann ich tun, um dir beim Gewinnen zu helfen? Deshalb bin ich doch schließlich hier, oder?“
Als ob sie das vergessen könnte. Er war nicht hier, weil er sie liebte, brauchte und etwas mit ihr anfangen wollte. Er war hier, um ihr dabei zu helfen, die verfluchte Zweiadrige Rute zu gewinnen.
Als er ankam, wusste er von der Rute noch gar nichts. Er mag dich. Das weißt du genau. Ja, er mochte sie. Nur leider nicht genug. Sie seufzte.
„Du … keine Ahnung, feuer mich einfach an.“ Seine Stimme zu hören gäbe ihr vielleicht Kraft. Vielleicht würde es sie auch ablenken, aber das würden sie gemeinsam herausfinden.
„Kein Problem. Es macht Spaß, dir zuzusehen.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Ja?“
„Allerdings.“
Seine Stimme klang tiefer und heiserer als zuvor, und diverse Anspielungen schwangen mit. Ihre Brustwarzen wurden hart wie Perlen, sodass sie aufspringen und sich umdrehen musste, damit er ihre Erregung nicht sah.
Er hatte sie letzte Nacht beobachtet, als ihre Harpyie auf die Bedrohung rings um ihn herum reagiert hatte – fest entschlossen, ihn um jeden Preis zu beschützen. Er hatte sie auch beobachtet, als sie … Bei der Erinnerung erschauerte sie.
Beim Kampf gegen die Soldatinnen ihrer Mutter war etwas mit ihr geschehen. Etwas, das noch nie zuvor geschehen war. Sie hatte gebrannt. Bildlich gesprochen vor Wut, ja, aber sie hatte auch richtige Flammen gespürt. Sie hatten in ihrem Innern gewütet, ihre Zellen und Organe verbrannt und nichts als Asche zurückgelassen. Oder jedenfalls hatte es sich so angefühlt. Dennoch hatte sie nicht einen Rußpartikel auf ihrer Haut entdeckt, nachdem sie sich beruhigt hatte.
Vorahnungen tanzten durch ihren Kopf und wirbelten ihr ohnehin schon aufgewühltes Gedankenmeer noch mehr auf.
Durch ihre Adern floss Phönixblut – immerhin machte der Phönix die Hälfte ihres genetischen Codes aus. Sie war ihrem Vater nur ein einziges Mal begegnet, als er sie und Bianka entführt und ins Land der Asche verschleppt hatte. Er – und im Grunde alle seiner Art – war vollkommen herzlos, bar jeder Emotion. Als würde jeder weichere Zug von dem ewigen Feuer verbrannt, das in ihm tobte. Da konnte nicht mal ihre Mutter mithalten, und das wollte schon was heißen.
Doch die vom Stamme des Phönix waren nicht nur gefühllos, sondern flößten anderen mit ihrer Erscheinung auch gehörig Respekt ein. Aus den Fangzähnen und Krallen der Phönixe tropfte Gift. Ihre Flügel, die so weich und zart aussahen wie die Wolken um sie herum, waren in Wahrheit bläulich züngelnde Flammen. Die kleinste Berührung mit diesen Flammen konnte ein komplettes Gebäude niederbrennen.
Doch es gab auch eine positive Seite. Wenn ein Phönix etwas – oder jemanden – verbrannte, entstand daraus eine Asche, die so mächtig war, dass sie die Toten zu neuem Leben erwecken konnte.
Ihr Vater hatte gehofft, dass seine kleinen Mädchen mehr Phönix als Harpyien waren, doch als sich das Gegenteil herausgestellte, hatte er sie freigelassen. Natürlich erst, nachdem er sie mit seinem Gift gequält hatte. Er hatte ihnen einen kleinen Kratzer am Bizeps verpasst, und sie hatten das Gefühl gehabt, ihnen wäre eine Mischung aus Säure, Glassplittern und Napalm injiziert worden. Tagelang hatten sie sich vor Schmerzen gekrümmt und geschrien.
Ein echter Phönix hätte nicht solche Qualen gelitten. Er wäre gegen das Gift immun gewesen. Deshalb hatte Kaia auch gedacht, niemals phönixähnliche Tendenzen zu entwickeln. Doch das gestrige Brennen … Hatte sie womöglich eine Immunität und im Gegenzug weitere Fähigkeiten entwickelt?
„Hey, Kye. Wir müssen uns beeilen“, rief Bianka plötzlich von der anderen Seite der Tür.
Kaia blinzelte. Sie stand noch immer neben dem Bett, doch jetzt war Strider an ihrer Seite. Sie hatte nicht gehört, dass er sich bewegt hatte, und dennoch stand er da. Seine Wärme hüllte sie ein, sein starker, süßer Duft stieg ihr in die Nase.
Er packte ihre Unterarme und neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Wo warst du dieses Mal?“
„Nirgendwo“, kam ihre automatische Antwort, die sie immer gab, wenn jemand anderes als ihre Schwestern ihr solche Fragen stellten.
Verlor sie sich wirklich so oft in Gedanken? Wenn ich nicht ständig abschweifen würde, würde ich vielleicht nicht …
„Kaia!“ Strider verdrehte die Augen, und ihr fiel auf, dass seine Pupillen seine wunderschöne Iris verdrängt hatten. Außerdem hatte er seinen Griff gelockert und streichelte ihre Arme mit den Fingerspitzen. „Wir müssen dringend deine Fähigkeit zum Lügen verbessern, Baby Doll.“
Fand er sie … War es möglich, dass er sie begehrte? „Ich habe eine Idee: Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, musst du sie dir erkaufen.“ Mit Küssen. Oder Orgasmen. Egal. Okay, er hatte ihr bereits angeboten, ihre Artefakt-Stehldienste mit Sex zu bezahlen und, okay, das hatte sie stinkwütend gemacht. Aber zu dem Zeitpunkt hatte er sie auch nicht wirklich gewollt. Jetzt wollte er sie womöglich, und das änderte alles. Natürlich nicht im Hinblick auf die Zweiadrige Rute, aber im Hinblick auf sie beide.
Er verzog den Mund zu einem frechen Grinsen. „Wer hat denn gesagt, dass ich die Wahrheit hören will?“ Er unterbrach sein Streicheln kurz, um ihr in die Nase zu zwicken. „Du bist süß, wenn du lügst.“
Sie knackte mit dem Kiefer. Welpen und Goldfische waren süß. Ich bin heiß, verdammt. „Ich lüge einwandfrei. Du kannst jeden fragen, den ich kenne! Mich hat noch nie jemand entlarvt.“
„Wie es aussieht, bin ich der Einzige, der weiß, dass du eine Menge Blödsinn erzählst. Muss an meiner unglaublichen Aufmerksamkeit liegen.“
„Und an deiner Armseligkeit. Du musst dringend daran arbeiten, das Luder in dir besser zu kontrollieren.“ Sie rollte die Schultern, wodurch sie unwillkürlich ihre Unterarme anhob, was wiederum seine Hände hob und dazu führte, dass er mit den Fingerknöcheln die Seite ihrer Brüste streifte. Gütige Götter, fühlte sich das gut an! In ihr wurde ein prickelndes Feuer entfacht.
Er bleckte die Zähne, als durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz, und sein kräftiges Ein- und Ausatmen ließ seine Nasenflügel beben. „Und wie genau werden wir an diesem Luder arbeiten, hm? Im Bett?“
Tatsächlich, dachte sie verträumt. Er begehrt mich. Warum sonst hätte er vom Bett sprechen sollen, wenn sie andeutete, dass er zu verludert war? „Deine Art zu denken gefällt mir. Wir sollten …“
„Kye?“, schnitt Bianka ihr das Wort ab. „Bist du da drin? Ich weiß, dass du da drin bist. Komm schon.“
„Ja, Bee. Ich bin hier, aber ich brauche noch einen Moment“, rief sie, ohne den Blick von Strider zu nehmen. „Wir machen später weiter. Okay?“ Bitte. Sie brauchte seine Berührung, seine Nähe. Brauchte alles von ihm.
„Äh, nein, machen wir nicht.“ Er trat einen Schritt von ihr weg, dann noch einen, dann ließ er seine Arme sinken, sodass der Körperkontakt gänzlich abriss. „Wir werden es beim Platonischen belassen.“
Sie kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen, bis sie durch ihre Wimpern nur noch sein schönes Gesicht sah. „Platonisch? Obwohl du mir die Zunge in den Hals gesteckt hast?“
Auch er kniff die Augen zusammen. „Na schön. Wir machen später weiter.“
„Wirklich?“ In ihr machte sich Freude breit – dicht gefolgt von Angst. „Ich soll dir also glauben, dass du deine Meinung geändert hast?“ Sie schnippte mit den Fingern. „Einfach so? Was für ein Spiel spielst du?“
„Kein Spiel. Dein Argument war überzeugend.“
Die Freude kehrte zurück. Und, Götter, wie wunderschön die Sonne auf einmal war – so groß und strahlend über ihrer Wolke. „Alles klar. Dann also später.“ Sie versuchte nicht zu lächeln, als sie zur Tür hinausging und ihre Schwester begrüßte.
Strider hatte nicht recht gewusst, was er von dem ersten Wettkampf erwarten sollte, und war nach der Sache in der Grundschule für alles gewappnet. Jedenfalls hatte er das gedacht. Denn im Augenblick war er dabei, im Schock und dem endlosen, aufgeregten Summen seines Dämons zu ertrinken. Der kleine Scheißer war noch nie einer so derart feurig aufgeladenen Atmosphäre voller Kampfgeist und Siegeswillen ausgesetzt gewesen und flippte momentan herum wie ein Kind, das zu viele koffeinhaltige Getränke zu sich genommen hatte.
Strider saß auf der Tribüne eines Highschool-Basketballfeldes, umgeben von rund hundert anderen Männern. Sie alle waren Fremde – abgesehen von Sabin, der links neben ihm saß, und Lysander auf dem Platz rechts von ihm. Die meisten waren Menschen und nur einige wenige eindeutig Unsterbliche. Er erspähte die verräterisch blasse Haut eines Vampirs, die dunkle Aura eines Zauberers und die Reptiliengrazie eines Schlangengestaltwandlers. Leider entdeckte er nicht den „Ihn“, mit dem Kaia angeblich geschlafen hatte.
Auf der anderen Seite saßen die Harpyien. Während die Männer still und zurückhaltend waren, benahmen sich die Frauen wie Hooligans. Sie hüpften auf den Stufen auf und ab, warfen Popcorn und sogar volle Becher mit Erfrischungsgetränken aufs Feld. Sie trugen winzige, enge T-Shirts, die knapp unter dem BH endeten – sofern sie überhaupt BHs trugen – sowie Shorts, die so kurz waren, dass Strider seine persönliche Lieblingsstelle bei einer Frau – die sinnliche Kurve zwischen Po und Bein – mehr als nur einmal sah. Und ja: Das Zentrum des Paradieses erspähte er ebenfalls.
„Die Falconways verlieren!“, rief jemand.
„Denkste, Eagleshield. Aber du hast ja schon immer darauf gestanden, Frauen auf den Knien zu sehen.“
„Oh bitte! Du könntest nicht mal eine Nymphe befriedigen, wenn du mit Viagra vollgepumpt wärst.“
„Viagra wirkt nur bei Männern, du Hirni.“
„Hallo? Du und die anderen Frauen aus deinem Clan, ihr habt Schnurrbärte. Warum nicht auch dicke Dinger?“
Gekicher, Buh-Rufe und Gezischel vermischten sich.
„Und ich dachte, meine Bianka wäre … enthusiastisch“, kommentierte Lysander. „Ich hätte nie gedacht, dass sie unter ihresgleichen eher zu den Ruhigen gehört.“
Sabin schnaubte. „Komm schon. Wenn dich die Lesbenwitze nicht antörnen, bist du schwul.“
Lysander sah Strider aus seinen dunklen Augen an. „Törnt dich das denn an?“
Typisch Engel. „Ich köchle schon, seit wir hier hereingekommen sind. Ich brauche die Witze nicht, um auf Touren zu kommen.“ Was er nicht erwähnte: Das lag ganz allein an Kaia.
Sein „Gespräch“ mit ihr – eines, das er ewig hinauszuzögern versucht hatte, bevor ihm klar geworden war, wie vergeblich sein Bemühen war, solange sie ihn mit ihren langen Wimpern anklimperte – würde früher fortgesetzt werden, als selbst sie es geplant hatte.
Er hatte vor ihr gestanden, sie eingeatmet, die Wärme ihres Körpers absorbiert, in ihr sinnliches, hübsches Gesicht geschaut, und er hätte ihre Haut am liebsten mit Küssen bedeckt. Überall. Noch ein Mal probieren. Nur ein einziges Mal, dann würde er sich zwingen, zu der platonischen Freundschaft zurückzukehren.
„Lysander!“, rief eine eifrige Frauenstimme quer über den Platz. „Lysander! Hier drüben!“
Strider suchte die rasende Menge nach Bianka ab. Er entdeckte sie oben auf der Tribüne, wo sie mit einem Schokoriegel winkte und wie ein frecher Bengel grinste. Die seidigen schwarzen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr gegen die Arme schlugen. Süß – bis man die heiße Uniform katholischer Schulmädchen wahrnahm, die sie trug. Im Nu verwandelte sich „süß“ in „dem Herzinfarkt nahe“. Sie hatte eine weiße, zugeknöpfte Bluse unter den Brüsten zusammengeknotet, und um ihren Hals baumelte lässig eine Krawatte. Der kurze Schottenrock ließ viel Platz zwischen ihren Oberschenkeln und den Kniestrümpfen.
In ihm wuchs der Wunsch, Kaia würde ihr Team anfeuern, anstatt zu kämpfen. In diesem Aufzug würde sie besser aussehen als „dem Herzinfarkt nahe“. Sie würde ihn auf der Stelle umbringen.
Nein, er war froh, dass sie sich für den Kampf entschieden hatte. Er hatte nämlich vor, die benötigte Trennung von ihr zu nutzen, um die Eagleshields auszuspionieren, vielleicht sogar ihre Habseligkeiten zu durchsuchen. Sobald die Spiele anfingen, würde er von hier verschwinden. Ohne schlechtes Gewissen. Jeder war sich selbst der Nächste.
Was ist, wenn Kaia verletzt wird? Wie sie selbst gesagt hatte, würde man nach „Gefängnisregeln“ kämpfen.
In seinen Augen blitzte es rot auf, und er krallte seine Finger in seine Oberschenkel. Kaia ist eine verdammt gute Kämpferin, sagte er sich. Wenn es irgendjemand aus ihrem Team schafft, zu gewinnen, dann sie.
„Lysander!“, rief Bianka erneut. „Schau mal nach oben, Baby. Hier drüben bin ich!“
„Es sind zu viele. Ich kann sie nicht … Bianka?“ Lysander fiel die Kinnlade herunter.
Vermutlich hatte er sie seit Verlassen des Himmels nicht mehr gesehen. Und zu dem Zeitpunkt hatte sie eine dunkelrote Robe getragen.
„Lysander, hast du das gesehen?“ Bianka drehte sich um, hob ihren Rock hoch und zeigte ihm – und allen anderen – ihr Höschen. Quer über den Hintern stand in neongrünen Buchstaben: „Eigentum von Lysander“.
Lysander stand auf, als wollte er zu ihr hinüberfliegen, fing sich jedoch schnell wieder und fiel zurück auf seinen Stuhl. „Süße Gottheit.“
„Deine Frau führt ihre Unterwäsche der Öffentlichkeit vor“, meinte Sabin. „Muss nett sein. Wie hast du dieses kleine Wunder zuwege gebracht?“
„Das weiß nur die Eine Wahre Gottheit.“
Großartig. Jetzt konnte Strider nicht mehr aufhören, über Kaia nachzudenken. Was für ein Höschen sie wohl trug – oder auch nicht?
Offenbar hatte sich die Frau neben Bianka über ihre schrille Stimme beschwert, denn das Lächeln in Biankas Gesicht erstarb, und sie bedachte die Frau mit einem wütenden Blick. Ein Streit entflammte. Dann gingen die beiden – natürlich – aufeinander los, dass die Gliedmaßen nur so flogen.
„Ist sie nicht bezaubernd?“, fragte Lysander in die offene Runde.
„Sicher“, erwiderte Sabin abgelenkt. Er streichelte das Megafon, das zwischen seinen Füßen stand. „Wo sind eigentlich unsere Frauen?“
Unsere Frauen. Es gefiel Strider, wie sich das anhörte. Dabei hätte es ihm nicht gefallen dürfen. „Keine Ahnung.“
Denkst du wirklich, dass Kaia den Sieg nach Hause holen kann?
Die heimtückische Stimme erfüllte Striders Kopf. Sie war männlich. Und vertraut.
Vielleicht wird sie ja getötet …
Zum Teufel, nein. „Sabin“, knurrte er. Diesmal wusste er, woher die Stimme kam. Als Hüter von Zweifel zehrte Sabin von der Unsicherheit derer, die in seiner Nähe waren.
„’Tschuldigung“, erwiderte sein Freund.
„Bring gefälligst deinen Dämon unter Kontrolle.“
„Glaub mir, das versuche ich die ganze Zeit. Ich will nicht, dass er sich über jemanden aus dem Team Kaia hermacht.“
Gewinnen. Sie muss gewinnen.
Und da war auch schon Striders Dämon, der … Moment mal. Sie muss gewinnen? Noch nie hatte sich Niederlage für einen anderen Sieg interessiert als für Striders. Warum für Kaias? Und warum jetzt? Weil ihr Triumph (möglicherweise) mit der Zweiadrigen Rute verbunden war? Weil der Dämon wusste, welche Konsequenzen ihr Versagen hätte – und er sich davor fürchtete? Weil sie … ihm gehörte? Ihr gemeinsamer Privatspielplatz war? Das hatte er sich vorher schon gefragt …
Ich darf nicht so denken. Denn dann würde er nicht tun, was getan werden musste.
Zu Niederlage sagte er: Erstens habe ich vor, die Zweiadrige Rute noch vor dem Ende der Spiele zu finden. Und zweitens wird sie gewinnen. Wenn nicht … Er dachte darüber nach, wie wahrscheinlich es war, dass Niederlage ihm wehtat, selbst wenn nicht er derjenige wäre, der verlöre. Dann hätte Strider sie nicht so beschützt wie die Herausforderung, die er angenommen hatte, es verlangte. Deshalb …
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, entschied er. Er hätte ihr die Sache ausreden sollen. Von nun an war alles, was geschah, seine Schuld.
Ausnahmsweise blieb die Aussicht auf mögliche Qualen wirkungslos. Ihm gefiel einfach die Vorstellung nicht, dass Kaia etwas zustieß.
„Lysander!“, rief Bianka von Neuem und zog abermals Striders Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Kampf mit der anderen Harpyie hatte damit geendet, dass die arme Frau bewusstlos im hinteren Teil der Tribüne lag. „Gefällt es dir?“
Lysanders Miene wurde weich. „Und wie, Liebes. Sehr gut sogar. Mir gefällt alles, was du anhast.“
Wie pathetisch, dachte Strider. Nur weil ein Kerl verliebt war, musste er doch nicht zum Waschlappen mutieren.
Oh, da war Kaia! Strider sprang auf und winkte ihr zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Er wollte ihr sagen, dass sie vorsichtig sein sollte, doch sie war viel zu konzentriert auf das Geschehen vor sich, als sie durch die Doppeltür trat, die aufs Spielfeld führte. Ihre Mannschaftskameradinnen flankierten sie. Sie trugen alle die gleichen Uniformen aus blutrotem Leder. Die bauchfreien Tops verliefen im Rücken über Kreuz, um den Flügeln Platz zu geben, und die Shorts waren am Saum – für mehr Bewegungsfreiheit – mit Fransen besetzt.
Kaia hatte die roten Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der hin und her schaukelte. Weder Ellbogennoch Knieschoner schützten sie. Verflucht. Er wünschte, sie hätte welche getragen. Wenn die Frauen auf dem Holzboden kämpften, würden sie sich die Haut abschürfen, und er mochte ihre Haut so, wie sie war.
Gewinnen!
Ich weiß. Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört, Arschloch.
Als die Harpyien auf der Tribüne das einziehende Team bemerkten, fingen sie an zu buhen. Abgesehen von einem leichten Zucken um ihre Mundwinkel verriet Kaia in keiner Weise, dass es ihr etwas ausmachte. Eine wahre Popcorndusche regnete von den Rängen herab. Ein paar Körner trafen Kaias Mitspielerinnen sogar in die Augen.
„He, Millicent“, schrie Bianka eine der Popcornwerferinnen an. „Wie ich sehe, hast du dir extra diesen Moment ausgesucht, um dich vor versammelter Mannschaft zu erniedrigen. Du kannst ja gar nicht zielen!“
Eine hübsche Blondine wirbelte mit in die Hüfte gestemmten Händen herum. „Hallo, Zwillingshälfte Nummer eins. Oder ist es Nummer zwei? Das kann ich mir nie merken. Dafür seid ihr beide einfach zu unwichtig. Wenn ich ein Stöckchen werfe, haust du dann ab, um es zu holen?“
„Ich bin doch kein Hund, du Schlampe.“ Bianka stemmte ebenfalls die Hände in die Hüfte. „Zumindest sieht dein Dad das so. Er hat mir heute Morgen gesagt, dass ich der heißeste Feger bin, den er je hatte. Als ich aus seinem Bett gekrochen bin, meine ich.“
Ein hörbares Keuchen ging durch die Menge, und Strider blinzelte nur verblüfft. Diese Dad-Sache rief ein derartiges Entsetzen hervor?
„Mein Vater ist tot, du herzloser Mischling“, fauchte die Frau mit Namen Millicent.
„Oh“, erwiderte Bianka und ließ die Schultern hängen. Dann hellte sich ihre Miene auf. „Deine Mom findet, dass ich ein heißer Feger bin. Das hat sie mir gesagt, als ich heute Morgen aus ihrem Bett gekrochen bin.“
Das entsetzte Keuchen verwandelte sich in Gekicher. Millicent flog die Stufen hinauf, um Bianka anzugreifen. Ding, ding. Schon ging der nächste Kampf los.
Strider ertappte sich dabei, wie er grinste. „Meinst du, ihr ist klar, was sie da gerade angedeutet hat?“
„Ja“, erwiderte Lysander seufzend.
„Ich drücke dir die Daumen, dass die beiden aufhören zu kämpfen und anfangen zu knutschen“, meinte Sabin. „Aber wenn das passiert, sollte besser irgendwer den Einsatz für ’ne heiße Orgie geben.“
Spürbar interessiert straffte Lysander die Schultern. „Ich verstehe, was du mit ‚angetörnt‘ meinst.“
Plötzlich brachen die Harpyien, die eben noch Buhrufe von sich gegeben hatten, in ohrenbetäubenden Jubel aus, und Strider vergaß alles andere. Er biss die Zähne zusammen. Tabitha und ihre Mannschaft hatten soeben den Platz betreten.
Sie trugen ebenfalls bauchfreie Tops und mit Fransen besetzte Shorts, nur waren ihre blau. Hinter ihnen stapfte ein drittes Team in lilafarbener Kampfmontur hinein, gefolgt von einem Team in Pink. Und einem in Gelb. Verflucht. Wie viele Teams kämen denn noch? Ein grünes. Eins in Schwarz.
Sein Mund wurde trocken, als er sah, dass einige der Frauen größer waren als er. Muskulöser, größer und … Teufel, er wäre nicht überrascht gewesen, wenn er an ihnen eindeutig männliche Körperteile entdeckt hätte. Obwohl einige Kandidatinnen genauso zerbrechlich wirkten wie Kaia.
Die Frauen stellten sich in einem großen Kreis auf. Die Frau namens Juliette, die Brünette, die schon die Einführungsveranstaltung geleitet hatte, trat in die Mitte des Kreises und hob die Hände. Sofort wurde es still in der Menge.
„Wenn es euch genauso geht wie mir, habt ihr lange auf diesen Moment gewartet“, rief sie und wurde von wieder aufkeimenden Jubelrufen unterbrochen. Als es ruhiger wurde, fügte sie hinzu: „Deshalb wollen wir keine Sekunde verschwenden. Erste Regel: Sprecht nicht übers Abklatschen. Zweite Regel: Sprecht nicht übers Abklatschen.“
Noch mehr Jubel.
Grinsend sagte Juliette: „Ich mache nur Spaß. Jetzt zu den echten Regeln. Von jedem Team darf sich immer nur ein Mitglied im Kreis aufhalten. Wenn die Teilnehmerin raus will“, Buhrufe ertönten und verebbten wieder, „braucht sie nur eine ihrer Teamkolleginnen anzutippen. Falls sie eine erreicht.“
Uuuund … noch mehr Jubelrufe explodierten auf der Tribüne.
„Wenn jemand zu verletzt ist, um weiterzukämpfen, muss sie endgültig aussteigen. Aber überlegt euch gut, ob ihr das macht, Ladys. Denn selbst wenn ihr geheilt seid, dürft ihr nicht wieder hinein.“
„Ich habe nicht gezahlt, um Feiglinge zu sehen“, rief jemand.
Juliette nickte zustimmend. „Diejenigen unter euch, die noch nie zuvor an so einem Wettbewerb teilgenommen haben, lasst euch gesagt sein, dass der Wettkampf erst endet, wenn nur noch ein Team übrig ist. Und noch ein Tipp: Kämpft mit allen Mitteln.“
„Die Eagleshields werden’s allen zeigen“, rief eine andere.
Juliettes Lächeln verfinsterte sich, als sie zu Kaia schaute. „Viel Glück euch allen. Ihr werdet es brauchen.“ Mit diesen Worten trat sie ab und verschwand in der Menge der kampfbereiten Kandidatinnen.
Kaia warf Strider einen kurzen Blick zu. Aha. Sie wusste, wo er saß. Sie war sich seiner Anwesenheit genauso bewusst, wie er sich ihrer. Er nickte ihr ermutigend zu, obwohl sich ihm der Magen umdrehte. Die anderen Frauen beäugten Kaia, als erblickten sie nach wochenlangem Fasten ein saftiges Filet. Er sollte da unten sein und sie beschützen, statt hier oben zu sitzen und nichts zu tun.
„Keine Sorge“, meinte Sabin und tätschelte ihm den Rücken. „Gwen wird nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht.“
„Ich mache mir keine Sorgen“, knurrte er. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass Sabin, der Zweifel in Person, mehr Vertrauen in seine Frau hatte als Strider in Kaia. Auf gar keinen Fall. „Kaia wird Gwen beschützen.“
Sein Freund blinzelte ungläubig. „Willst du dich darüber wirklich streiten?“
Ja, verdammt, das wollte er.
Gewinnen.
Immer. „Halt einfach die Klappe, und sieh dir den Wettkampf an“, erwiderte er. „Ich sage dir Bescheid, bevor ich losziehe und mit dem Ausspionieren anfange.“