24. KAPITEL

Kane wachte langsam auf, aber er ließ sich nicht anmerken, dass die Synapsen in seinem Gehirn wieder zündeten. Er war unter Schmerzen und Drogen eingeschlafen, und traurigerweise war das öfter passiert in den vergangenen … Tagen? Wochen? Er hatte sich angewöhnt, zunächst Bestandsaufnahme zu machen, wenn er aus einer Benommenheit erwachte, und sich erst dann zu bewegen oder zu sprechen.

Er hatte Schmerzen wie ein Boxer, der soeben nach achtzehn Runden einen großen Kampf verloren hatte. Obschon viele Verletzungen bereits angefangen hatten zu heilen, war die tiefste von allen noch immer dabei, seinen Namen in das Buch mit dem Titel „Genesung ungewiss“ zu ätzen. Und wer hätte es gedacht? Seinem Dämon gefiel es. Er kicherte in seinem Kopf, während er die Auswirkungen der Katastrophe aufsaugte – jedenfalls hin und wieder.

Links und recht von Kane gingen zwei fleischige Wachmänner, die ihn stützten und eine lange, sich windende Höhle entlangzerrten, in der es nach Schwefel, Verwesung, menschlichen Fäkalien und beißender Angst stank. Er gab sich Mühe, nicht zu würgen. Er kannte diese Gerüche nur zu gut – immerhin hatte sein Dämon jahrhundertelang mit ihnen zusammengelebt.

Vor ihm lief ebenfalls ein Wächter, hinter ihm gingen sogar fünf. Keiner von ihnen schien bemerkt zu haben, dass er aufgewacht war.

Während er eine Flucht plante – indem er sich ausmalte, wie Engel hereingerauscht kämen (was nicht geschähe), seine Freunde durch die Höhlenwände brachen (auch das ein No-Go) und er sich in einen grünen Hulk verwandelte (nur in seinen Träumen) –, packte ihn die Wut. Er bräuchte überhaupt nichts zu tun. Am Ende würde sein Dämon diese Menschen zerstören. Katastrophe lebte für Momente wie diesen. Und wenn Kane dabei ums Leben käme – was machte das schon?

Er erinnerte sich an die Explosion und an William, den man von ihm isoliert und in ein anderes Fahrzeug geworfen hatte. William. Ob der Unsterbliche noch lebte? Ob er gefoltert wurde? Vermutlich. Seine Wut wurde stärker. Dafür würden diese Menschen bezahlen. Auf jeden Fall.

Hörst du mich, Katastrophe? Sie müssen dafür bezahlen.

Das Kichern wuchs zu einem schadenfrohen Lachen, das einmal durch seinen ganzen Kopf raste.

Warte auf mein Zeichen. Keiner der Wächter ahnte, welche Verwüstung ihnen unmittelbar bevorstand. Und das würde auch so bleiben. Bis es zu spät wäre.

Als sein Anführer Sabin aufgebrochen war, um gegen die Jäger zu kämpfen, war Kane oft zurückgelassen worden. Zu viele kleine Katastrophen hatten ihre Bemühungen ruiniert, ja zum Teil sogar sabotiert. Aber manchmal … manchmal wurde Kane alleine losgeschickt. Und wenn das geschah, ging niemand mehr lebendig davon.

„… zu schwer“, sagte einer der Wächter keuchend. „Los, wir legen ihn einfach hier ab.“

„Geht nicht. Anweisung des Doktors. Wir bringen ihn zum Tor, sonst kommen wir nicht zurück.“

„Ich schwitze wie ein Schwein.“

„Du bist ein Schwein. Zu viel gegrillt, du fetter Mistkerl? Der Spaziergang tut deinem Walrosskörper mal ganz gut.“

„Friss Scheiße und stirb, Arschloch. Ich habe Probleme mit meinen Drüsen.“

„Ich sehe das genauso wie Duane“, sagte ein anderer. „Wenn er noch mehr schwitzt, explodiert er wahrscheinlich wie ein Reaktor oder so. Er wird es eh nicht zurück schaffen, Tor hin oder her.“

Die Temperatur war in der Tat etwas unangenehm und die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass man die Luft mit einem Messer hätte schneiden können. Ganz offensichtlich schleiften sie ihn tiefer in die Erde, in Richtung … Höllentor? Aber woher sollten Jäger wissen, wie man das anstellte? Und warum sollten sie das tun? Das entsprach nicht ihrer üblichen Vorgehensweise.

Einfangen, foltern und – seit Neuestem – töten, um den Herren die Dämonen zu rauben, das war es, wofür sie lebten. Ihr jetziges Verhalten machte gar keinen Sinn. Es gab ihm nur ein ungutes Gefühl, weil er es womöglich mit anderen Leuten zu tun hatte, als er gedacht hatte.

Er würde sich nicht die Zeit nehmen, sie auszufragen. Mit ihrer „Guck mal, was für eine hübsche Bombe ich habe“-Routine hatten sie ihre Absichten klar gezeigt. Er musste einfach nur einen Ort finden, an dem sein Dämon gut arbeiten konnte. Und das wäre höchstwahrscheinlich die Endstation – in vielerlei Hinsicht. Das „Tor“. Je tiefer sie vorgedrungen wären, umso unwahrscheinlich war es, dass Unschuldige zu Schaden kämen.

Aus der Ferne hörte er das Klicken einer Waffe, die entsichert wurde. Um ihn herum schien niemand Notiz davon zu nehmen. Die Wächter plauderten weiter. Ob jemand Kane erschießen würde? Oder die Wächter? Sein Dämon pirschte unruhig durch seinen Kopf, bereit, etwas oder jemanden zu zerstören.

Noch nicht. Noch nicht.

Das Gelächter wurde lauter. Schon bald würde Katastrophe zuschlagen, egal was Kane täte oder sagte.

Wenn der Schuss tatsächlich für ihn bestimmt war, würde er überleben. Aber für den Fall, dass seine Freunde hier waren, um ihn zu retten, wollte er noch nichts unternehmen. Er schöpfte Hoffnung.

Als das erste Peng ertönte, grunzte der Wächter zu seiner Linken und sackte zu Boden. Der Wächter rechts fluchte. Das Geplapper verstummte.

„Was zum …“

„Wer war …“

Noch ein Peng.

Kanes rechte Seite wurde ebenfalls losgelassen, und er fiel auf den dreckigen Boden. Er lag still. Auch dann noch, als etwas Schweres in ihn hineinkrachte und ihm mit einem Hieb die Luft aus der Lunge presste. Einer meiner Wächter, dachte er. Jetzt ist er bewusstlos oder wahrscheinlich sogar tot.

Richtig. Er spürte, wie ihm warme Flüssigkeit am Rücken entlanglief und von seinen Seiten tropfte.

Peng, peng, peng. Den Männern um ihn herum blieb keine Zeit, sich vorzubereiten oder zu verstecken. Sie stürzten. Aus den Löchern in ihren Brustkörben trat ihr Lebenssaft aus, bis sie tot waren. Der gesamte Anschlag dauerte nicht mal eine Minute. Ohne jegliche Gegenwehr vorbei und beendet.

Eine Befreiung, ja, und dennoch bewegte oder sprach er noch immer nicht. Sondern wartete einfach. Wachsam …

Er hörte Schritte. Er erkannte das Donnern schwerer Stiefel.

„Siehst du ihn?“, rief jemand. Ein Mann, unbekannt.

Mist! Die Hoffnung verkümmerte, starb. Nicht seine Freunde. Wer zur Hölle blieb dann noch?

„Ich hab ihn! Er ist hier.“

Jemand schob den Wächter von ihm herunter.

„Lebt er?“

Das Rascheln von Kleidung, dann zwei harte Finger, die ihm in den Hals gebohrt wurden. „Auf jeden Fall. Aber vielleicht nicht mehr lange. Sein Puls ist schwach, wir müssen uns also beeilen.“

„Diese Ärztin hat echt ein saumäßiges Glück. Wenn er vor unserem Eintreffen gestorben wäre …“ In der Stimme des Mannes lagen Wut und Hass. „Aber ich würde sie trotzdem am liebsten verprügeln, weil sie die Anweisungen nicht befolgt hat.“

„Das wirst du schön bleiben lassen. Ihr Alter würde dir mit Vergnügen den Kopf abschlagen. Lass uns den Kerl einfach zu Stefano bringen. Soll er entscheiden, was mit ihm passiert.“

Stefano. Die rechte Hand von Galen, ein hohes Tier unter den Jägern und eine allgegenwärtige Nervensäge. Zu schade, dass der Bastard nicht hier war. Allerdings begriff Kane nun so einiges. Die Jäger hatten das Haus in die Luft gejagt. Die Jäger hatten ihn zu dieser Ärztin gebracht, die zwar keine Jägerin, aber mit einem Jäger verheiratet war, damit er überlebte. Die Jäger hatten ihn nicht hier runtergebracht. Das war die Frau gewesen – die sich damit den Anweisungen ihres Mannes widersetzt hatte.

Der Ehemann musste davon erfahren und dafür gesorgt haben, dass ihre Komplizen getötet wurden.

„Scheiß Dämonentier“, murmelte der Typ, der seinen Puls genommen hatte, während er aufstand. Ein gestiefelter Fuß landete in Kanes Bauch und drückte einige seiner Organe gegen seine Wirbelsäule.

Mit aller Willenskraft hielt Kane die Augen geschlossen und die Muskeln entspannt. Katastrophe wütete mittlerweile in seinem Kopf. Er glich jetzt einem brodelnden Hexenkessel. Noch nicht, wiederholte er. Wenn sie vorhatten, ihn zu Stefano zu bringen, könnte er den Bastard endlich vernichten und gleichzeitig so viele seiner Feinde wie möglich ausschalten – auch wenn das bedeutete, sich selbst ebenfalls auszuschalten. Das hatte er hier unten ohnehin tun wollen. Ein Ortswechsel spielte da kaum eine Rolle.

Sicher, wenn Kane tot wäre, könnte sein Körper das Böse, das in ihm wohnte, nicht länger in sich halten, und sein Dämon würde auf eine nichts ahnende Welt losgelassen. Katastrophe würde fliehen – wahnsinnig, hungrig und besessen von dem Drang, eine Tragödie nach der anderen anzurichten.

Das war Kanes Freund Baden auch passiert. Er war gestorben – von den Jägern geköpft –, und sein Dämon Misstrauen war ungehindert durch die Weltgeschichte gewandert. Vielleicht war das der Grund dafür, dass viele Nationen einander so lange bekriegt hatten. Weil sie den anderen immer Hinterhältigkeit und böse Absichten unterstellten. Vielleicht waren über die Jahre deshalb so viele Ehen in die Brüche gegangen.

Dann war es den Jägern vor nicht allzu langer Zeit gelungen, Misstrauen zu finden und ihn mit einem neuen Wirt zu paaren. Einem Wirt ihrer Wahl. Einer Frau. Bislang hatte sie die Herren noch nicht herausgefordert. Vermutlich war sie noch viel zu sehr in dem Bösen verloren, das ihr nun innewohnte, als dass sie hätte mehr tun können als zu stöhnen und um Erlösung zu flehen.

„Diego?“, murmelte jemand.

„Ja?“, erwiderte ein Mann mit leichtem spanischen Akzent.

„Bist du bereit?“

„Ja, Sir.“ In den Worten lag ein leichtes Zittern.

„Markov, Sanders, nehmt seine Arme. Nur falls er aufwacht, bevor er stirbt. Billy, du musst tief und schnell schneiden. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“

„Ich bin ja nicht blöd. Wir sind diese Situation schon tausendmal durchgegangen“, war die aggressive Antwort des Mannes, der Kane getreten hatte.

„Ja, das sind wir, aber diesmal ist es keine Theorie, sondern Praxis. Es ist eine einmalige Gelegenheit. Wenn wir nicht aufpassen, wird sein Dämon in die Höhle fliehen, bevor Diego ihn in sich aufnehmen kann.“

O-kay. Sie werden weder abwarten, noch zu Stefano gehen, dachte Kane. Sie werden mich umbringen und versuchen, meinen Dämon mit einem Jäger zu paaren. Vermutlich dachten sie, sie könnten Katastrophe unter Kontrolle bringen und den Dämon für ihre Zwecke missbrauchen. Um seine Freunde zu zerstören. Um die Welt zu regieren.

Da kann ich ja nur laut lachen, dachte Kane amüsiert, wurde aber sogleich wieder ernst. Keine Zeit für Späße.

Mach dich bereit, befahl er seinem Dämon.

Das Getose wurde immer schneller, und die gesamte Höhle bebte. Aber nur ein bisschen. Gerade so viel, dass Staubwölkchen aufstiegen und Geröll von der Decke auf den Boden fiel.

„Was ist das?“

„Egal. Beeilt euch einfach. Bringen wir’s hinter uns. Das Messer?“

„Hier.“

Auf einmal wurde Kane von starken Händen gepackt und umgedreht, sodass er auf dem Rücken lag. Dieselben Hände drückten ihn kräftig nach unten und hielten ihn fest. Kane wartete keine Sekunde länger.

Jetzt!

Das Beben wurde mit einem Mal stärker, das herabfallende Geröll verwandelte sich in Felsbrocken. Bumm, bumm. Bumm! Irgendjemand schrie vor Schmerzen auf. Kane wurde losgelassen. Dann noch ein Schrei. Jemand fluchte.

Schließlich öffnete Kane die Augen. Gerade noch rechtzeitig. Ein Felsen raste direkt auf ihn zu. Er rollte sich zur Seite und hustete, als sich sein Mund mit Staub und Schutt füllte. Durch die abrupte Bewegung wurden die Stiche aufgerissen, die eine Wunde entlang einer seiner Rippen zusammengehalten hatten.

Mit einem schnellen Blick erfasste er die Lage. Er befand sich in einer Höhle, wie er vermutete hatte, obgleich sie geräumiger war, als er es für möglich gehalten hätte. Sie verzweigte sich in mehreren Richtungen. Kein Wunder, dass die Jäger seine ursprünglichen Entführer so einfach hatten überwältigen können. Nicht mal eine Armee hätte sich hier vor einem Hinterhalt schützen können. Es gab einfach zu viele Verstecke.

Die Jäger krabbelten in Deckung. Das Beben hielt an, und es regnete immer mehr Felsen. Noch ein Schrei, ein Grunzen. Das Krachen zerbrechender Knochen.

Kane rappelte sich hoch. Genau so, Kumpel. Mach weiter so.

„Er darf nicht entkommen!“, schrie jemand.

„Ich hab ihn im Visier!“

Peng.

Ein scharfer Schmerz schoss durch sein Bein. Er fluchte. Jemand hatte auf ihn geschossen. Er eilte in eine der dunklen Nischen und wich auf seinem Weg den Felsbrocken aus. Mehr Beben, mehr Felsen. Bald säße er in der Falle. Wenn er das nicht schon längst tat. Aber es war unmöglich, eine Katastrophe dieses Ausmaßes zu stoppen, wenn sie einmal begonnen hatte.

Die Aussicht auf seinen eigenen Tod war ihm ehrlich egal. Er war schon an die tausendmal gestorben und hatte sich bereits vor langer Zeit auf das endgültige Ende vorbereitet. Wenigstens würde er diese Jäger mit sich ins Jenseits nehmen. Auch wenn Kane nicht aufgeben würde, ohne zumindest den Versuch zu starten, seine eigene Haut zu retten. Etwas anderes ließe sein Kriegerinstinkt überhaupt nicht zu.

Er suchte die Schatten nach einem Ausgang ab … und entdeckte zu seiner Rechten einen Spalt, durch den ein schwacher Lichtstrahl fiel. Ohne aufzuhören zu denken, sprang er darauf zu, riss an den Felsen und vergrößerte den Spalt. Die Schmerzen, die dabei seinen Körper durchzuckten, ignorierte er.

„Kane!“

William? Er hielt inne, erstarrte. Mist. Mist! Wenn er seinen Freund tötete …

Peng.

„Mensch!“, rief William zornig. Irgendwer musste auf ihn geschossen haben. „Dafür wirst du teuer bezahlen.“

Bumm, bumm, bumm.

„Nichts wie raus hier“, rief Kane. „Lauf!“

„Verdammt noch mal, Kane! Wo bist du? Ich habe nicht Oberschwester Ratched ausgeknockt und bin bis hierher an meinen absoluten Hassort gekommen, um mit dir Verstecken zu spielen. Beweg deinen Arsch hier rüber!“

Kane stand auf und atmete noch mehr Staub ein. Blitzschnell verließ er sein sicheres Versteck – und bekam gerade noch zu sehen, wie William einen Jäger an der Gurgel packte. Er war unaufmerksam und sah nicht den massiven Felsen, der direkt auf ihn zuraste.

Und weil Kane seinen Fokus auf William richtete, sah er nicht den massiven Felsen, der direkt auf ihn zuraste.

„Süßer Sonnenaufgang, das war fantastisch.“

Paris rollte sich vom schweißbedeckten Körper der lächelnden, keuchenden Frau und blickte zur Decke. Wie er gehofft hatte, hasste Arca den Götterkönig, und so hatte sie keine Sekunde gezögert, Cronus zu verraten. Wie er gefürchtet hatte, hatte sie einen Preis genannt – Paris’ Körper. Denn der Duft seines Dämons hatte sie in dem Augenblick erregt, als er ihre Gemächer betreten hatte.

In der vergangenen Stunde hatte er sie so verwöhnt, wie sie mit Sicherheit noch nie verwöhnt worden war. Sie hatte jede Sekunde genossen, während er sich und sein Handeln verabscheut hatte.

Du tust nur, was du tun musst.

Um ungebetene Störungen hatte er sich keine Sorgen machen müssen. Das geräumige Schlafzimmer lag versteckt im hinteren Teil des Harems. Es war ein Schlafzimmer, das Acra nicht verlassen konnte. Cronus hatte sie doch tatsächlich verflucht, sodass sie unerträgliche Qualen erlitte, wenn sie die weitläufigen Grenzen ihres „Zuhauses“ verließe. Und da er viel von den Sterblichen und aus ihren Fehlern gelernt hatte, hatte der König dafür gesorgt, dass es keine Fenster gab, von denen die Göttin Gebrauch machen konnte.

Offensichtlich hatte der König es für besser gehalten, Acra Tageslicht und frische Luft zu verwehren, als ihr die langen, seidigen Haare abzuschneiden.

Sie stützte sich auf den Ellbogen und sah auf ihn herab. Die weißen Zöpfe lagen wie zurechtdrapiert auf ihrer Schulter. „Und?“

„Ja, es war wirklich fantastisch“, erwiderte er automatisch, wie er es schon zu Abertausend anderen gesagt hatte.

Ihr Lächeln verblasste langsam. „Du könntest wenigstens versuchen, überzeugend zu klingen.“

Seufzend musterte er sie. In all den Jahrhunderten war er mit unzähligen Frauen zusammen gewesen, und sie war mit Abstand die schönste. Aber Aussehen bedeutete ihm nur wenig. Was war ein schönes Gesicht wert, wenn dahinter ein Ungeheuer lauerte? Es zählte einzig, welche Gefühle die andere Person in einem auslöste.

Er bezweifelte, dass Acra im Grunde ihres Wesens ein Ungeheuer war. Sie hatte so viele Jahre in Gefangenschaft verbracht, sowohl auf der Erde als auch hier im Himmel, dass sie eigentlich hätte schräg drauf sein müssen. Doch als er zu ihr hineingegangen war, hatte sie ihn nicht angeschrien. Oder angegriffen. Sie hatte ihn einfach nur aus ihren großen blauen Augen angestarrt, seine Hände genommen und gelächelt. Sie hatte eine Einsamkeit ausgestrahlt und eine derart verzweifelte Sehnsucht nach Aufmerksamkeit – jeglicher Aufmerksamkeit –, dass sich seine Brust zusammengezogen hatte.

Und als er versucht hatte, sie über Sienna auszufragen, als sie den Kopf geschüttelt und – bereits in dem Lustnebel seines Dämons verloren – „danach“ geflüstert hatte, hatte Paris ohne zu protestieren nachgegeben.

„Tut mir leid“, sagte er, darauf bedacht, glaubwürdig zu klingen. Eine weitere Fähigkeit, die er im Laufe der Jahre perfektioniert hatte. „Es ist nur – du hast mich total fertiggemacht, Süße. Ich habe keine Energie mehr.“

Leise lachend legte sie sich hin und schmiegte sich an seine Seite. „Cronus wird nichts davon erfahren, versprochen. Wenn du also wiederkommen möchtest …“

Er schwieg. Er konnte nicht noch mal mit ihr schlafen. Das würde sein Dämon nicht zulassen. Selbst wenn er sie stundenlang küssen und berühren würde, sein bestes Stück bliebe schlaff und unbrauchbar. So war es mit jedem, mit dem er schon mal geschlafen hatte, und außerdem war Paris auf eine Wiederholung auch nicht gerade scharf. Er fühlte sich schon schlecht genug, wenn er mit einer anderen als Sienna schlief.

Sie hatte er gehabt und könnte sie trotzdem noch mal haben. Allein beim Gedanken an sie wurde er hart. Weshalb es war, als würde er sie in ihr wunderschönes Gesicht schlagen, wenn er es mit einer anderen trieb. Als wäre sie nicht gut genug für ihn. Als könnte sie ihn nicht befriedigen. Aber wenn er sein Leben ließe, könnte er sie nicht retten, und er würde sterben, wenn er keusch bliebe.

Außerdem hatte er auch aus einem anderen Grund ein schlechtes Gewissen. Seine Liebhaberinnen … wollten ihn nicht um seinetwillen. Wenn sein Dämon nicht wäre, hätten sie vielleicht nie mit ihm geschlafen, hätten ihn vielleicht geradewegs abgewiesen, ihn unattraktiv gefunden, was auch immer. Auf gewisse Weise zwang er sie also, mit ihm ins Bett zu steigen.

Wie immer entzog sich sein Kopf diesem Gedanken.

„Was ist los?“, fragte Acra. „Du bist ganz verspannt.“

Er zwang sich, sich zu entspannen, und streichelte ihr zärtlich über den Arm. „Ich habe vorhin eine Frau erwähnt. Eine Sklavin. Sie wurde umgebracht und existiert nur in Seelenform, und jetzt ist sie von einem Dämon besessen. Von Zorn. Ihre Seele ist für das bloße Auge unsichtbar.“ Er versuchte, seine Verzweiflung zu verbergen. „Weißt du, von wem ich spreche?“

Sie wickelte sich einen Zopf um einen ihrer Finger. „Ja. Ich erinnere mich. Du möchtest wissen, wo Cronus sie gefangen hält.“

Ruhig, ganz ruhig. „Kennst du die Antwort?“

„Nein, ich habe nichts darüber gehört.“

Er schloss die Augen, um eine Welle der Enttäuschung und des Bedauerns niederzukämpfen. Er hatte gedacht … gehofft … er war sich so sicher gewesen …

Aber“, fuhr sie fort, „ich weiß, wo er früher die Gefangenen hielt, die er nicht kontrollieren konnte. Bevor er in den Tartarus gesperrt wurde. Leute, die niemand finden sollte.“

„Sag es mir.“ Die Worte kamen ihm heftiger über die Lippen, als beabsichtigt.

„Ich habe eine bessere Idee.“ Sie hielt ihn fester und zitterte. „Ich zeige es dir.“

Sein Magen brannte. Ich darf sie nicht vor den Kopf stoßen. „Du weißt doch, dass das nicht geht, Süße“, krächzte er. „Du musst hierbleiben.“

„Aber …“ Wieder setzte sie sich auf. Ihr Gesicht war angespannt und wurde von den weichen Zöpfen eingerahmt. „Bitte. Ich muss gehen. Ich kann nicht noch länger hierbleiben. Es ist mir hier so verhasst, und allmählich verliere ich den Verstand. Bitte.

Er nahm ihr Gesicht in die Hände und bemühte sich, sanft zu sein. „Sag mir, wo ich diesen geheimen Ort finde, und sobald ich meine Mission erfüllt habe, komme ich, um dich zu holen. Ich werde einen Weg finden, dich zu retten.“

Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Das kann ewig dauern. Oder du könntest sterben.“

„Ich weiß, und es tut mir leid, aber mehr kann ich dir nicht anbieten.“ Er konnte sie jetzt unmöglich retten. Er konnte unmöglich versuchen, sie jetzt zu befreien. Das würde Cronus alarmieren. Der Götterkönig würde ihn niederschießen, und Sienna wäre ihm bis in alle Ewigkeit ausgeliefert.

Wenn Paris mit seinem Kopf bezahlen müsste, wenn das sein Schicksal war, wollte er zuerst Sienna in Sicherheit bringen. Sie war seinetwegen gestorben. Sie wurde seinetwegen mit einem Dämon gepaart. Weil er den Götterkönig auf sie aufmerksam gemacht hatte. Paris stand tief in ihrer Schuld.

„Ich könnte dir helfen“, sagte Arca. „Nicht nur den Ort zu finden. Ich könnte dich durch die geheimen Korridore führen.“

„Ich weiß, Süße, aber das ändert nichts an meiner Meinung.“

„Bitte …“

Er verriet ihr nicht, dass Frauen mit Betteln bei ihm nur wenig bewirkten. Wie viele hatten ihn schon angebettelt, mit ihnen im Bett zu bleiben? Wie viele hatten geweint, als er gegangen war? „Es tut mir leid, aber mehr kann ich dir nicht anbieten.“

Und wenn sie ihm nicht sagte, was er wissen wollte, wenn sie sich weiterhin weigerte, würde er ihr am Ende wehtun. Verletzen … töten … Jeden, der sich ihm in den Weg stellte. Jeden. Er war schon so weit gekommen. Sie würde ihn nicht daran hindern, noch weiter zu kommen.

Eine ganze Weile schluchzte sie lautlos. Dann riss sie sich zusammen, straffte die Schultern und hob das Kinn – eine sture Geste, die ihn an Kaia erinnerte.

Wie kam Strider mit dieser Frau nur zurecht, die fest entschlossen war, ihn in die Knie zu zwingen? Entweder wehrte sich der besitzgierige Krieger gegen ihre Anziehungskraft, oder er hatte schließlich nachgegeben – sonst wäre er nämlich hier an Paris’ Seite und würde die Konditionen ihrer „Herausforderung“ erfüllen.

„Schwörst du, dass du zurückkommst, wenn du sie gefunden hast?“, fragte Acra.

„Ja. Ich schwöre es. Sobald sie in Sicherheit ist, werde ich kommen.“ In dem Augenblick, als er die Worte aussprach, war er an sie gebunden. Er wusste es, spürte die Kraft der Fesseln. Ein Versprechen zu brechen, das man einem Gott oder einer Göttin gegeben hatte, bedeutete, bis in alle Ewigkeit zu leiden. Falls man es überlebte.

Sie wischte sich die Tränen weg. „In Ordnung. Ich werde dir sagen, was du wissen möchtest. Wenn Cronus seinen alten Gewohnheiten treu geblieben ist – und glaub mir: Ich weiß, dass es so ist –, findest du deine Frau an einem von zwei Orten. Befindet sie sich an dem ersten Ort, hast du sie für immer verloren. Befindet sie sich an dem zweiten und wagst du dich dorthin, wirst du nicht unversehrt wieder herauskommen.“

Sienna befand sich nicht am ersten Ort, und basta. „Wie heißt der zweite Ort?“

Als sie die Worte aussprach, gefror ihm das Blut in den Adern. Er hörte auf zu atmen. Er hatte gewusst, dass Cronus sie dafür bestrafen würde, dass sie zu Paris gerannt war, aber er hatte nicht gewusst, dass der Götterkönig sie für immer und ewig quälen wollte.

Paris erhob sich vom Bett und zog sich so flink wie möglich an.

„Wirst du sie trotzdem suchen?“, fragte Acra.

„Ja“, erwiderte er, ohne zu zögern. Jetzt war er entschlossener denn je.