25. KAPITEL

Aus dem Himmel direkt in die Hölle geworfen, dachte Kaia finster. Oder zumindest in ihre Version der Hölle. Und sie hatte nicht mal das süße Gefühl „danach“ genießen können.

Vor ihr knisterte ein Lagerfeuer, orangefarbene Flammen vermischten sich mit blauen. Die Hitze leckte über ihren Körper. Nach dem Liebesspiel mit Strider war sie gar nicht richtig abgekühlt – allein beim Gedanken an das sinnliche Erlebnis lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie musste ein Stöhnen unterdrücken – und sie war froh darüber. Sie mochte die Hitze nämlich. Vor allem wegen des anhaltenden Brummens der Befriedigung, für das ihr … Gemahl gesorgt hatte.

Gemahl.

Momentan war Strider dabei, „die Gegend nach Jägern abzusuchen“. Man brauchte keine zwei Stunden, um den kleinen Landstrich abzusuchen. Er suchte nach der Rute, keine Frage. Aber er würde sie nicht finden. Nicht hier. Juliette war nicht so dumm, das Ding unter ihrer notdürftigen Matratze zu verstecken.

Kaia hatte sich so sehr gewünscht, dass er ihr Bündnis anerkannte. Sie hatte sich so sehr gewünscht, ihn zu berühren und zu schmecken. Von ihm berührt und gekostet zu werden. Dass sie es endlich beide getan hatten … Götter, jetzt war sie zu Tode erschrocken. Weil …

… er sie liebte. Das schockierte sie noch immer. Sie waren ein Paar. Ein richtiges Liebespaar. Er war an ihrer Seite und sie an seiner. Außerdem kam er jetzt an erster Stelle. So musste es sein. Ob er sich als Nervensäge entpuppte oder als romantischer Matratzengott – er gehörte ihr. Sie musste ihn beschützen. Musste sich um seine Zukunft kümmern. Und das hieß? Er wollte, brauchte die Zweiadrige Rute. Sie war für ihn überlebensnotwendig.

Deshalb musste sie ihm das Ding beschaffen.

Im Augenblick war ihr Team auf einem guten Weg, sich das Artefakt auf faire Weise anzueignen. Aber was, wenn sich das änderte? Dann würde Juliette damit rechnen, dass Kaia versuchen würde, es sich auf anderem Weg zu beschaffen, und die Chancen, es tatsächlich zu bekommen, würden sich zu ihren Ungunsten umkehren.

Deshalb war jetzt der ideale Zeitpunkt, um zuzuschlagen.

Natürlich würde es Kaia vom Wettkampf disqualifizieren und ein für alle Mal beweisen, dass sie schwach und der Harpyiengemeinschaft unwürdig war. Aber besser ihr Stolz litte, als dass Strider sterben müsste. Sie konnte nicht ohne ihn leben. Sie brauchte sein Blut, ja, aber genauso sehr brauchte sie ihn. Sein Lächeln, sein Lachen, seinen Witz, seine Stärke.

Also kein Wettbewerb und kein weiteres Nachgrübeln. Sie würde die Rute stehlen. Basta. Allerdings würde sie nicht ihre Schwestern in die Sache mit reinziehen. Würde nicht ihr Leben aufs Spiel setzen. Nicht noch mal. Vor allem jetzt nicht, da sie sich von den Verletzungen des zweiten Wettbewerbs erholten.

Es muss heute Nacht passieren, dachte sie und ballte unwillkürlich die Fäuste. Denn jetzt waren fast alle beeinträchtigt, weil sie entweder betrunken oder bewusstlos waren oder sich von ihren Verletzungen erholten. Sie würde mit Strider schlafen – falls er wollte, und er täte gut daran zu wollen – und sich noch einmal von der Hitze erfüllen lassen. Diese Hitze gab ihr Energie. Es war eine Mischung aus Lust und Wut, die in ihr tobte und unbedingt ausbrechen wollte. Etwas verzehren wollte.

Heute Nacht würde sie es zulassen.

Bald … bald … Durch zusammengekniffene Augen sah sie sich um und erspähte Juliette. Die Brünette tanzte direkt neben Kaias Mutter um das flackernde Feuer. Trotz ihrer jüngsten Niederlage wirkten sie glücklich und sorglos. Als wüssten sie etwas, das sie nicht wusste.

Offenbar hatte Juliette ihren prüfenden Blick gespürt, denn sie sah Kaia in die Augen und verzog den Mund langsam zu einem herablassenden Lächeln. Oh ja. Heute Nacht.

Kaia und Strider waren aus Rheas Wald gefallen und hier gelandet, in Alaska. Zwischen den beiden Bergen, wo sich die geheimnisvolle Pforte befunden hatte. Sie hatten die Augen geöffnet und sich hier wiedergefunden – zusammen mit den anderen Harpyien, die an den Spielen teilnahmen, und ihren Gemahlen.

Zuerst waren alle verwirrt gewesen. Dann wütend, weil man sie aus dem Himmel geworfen hatte. Sie hatten die Wut aneinander auslassen wollen. Und hätte Kaias Mutter die Gegend nicht zu neutralem Gebiet erklärt, wäre mit Sicherheit ein Kampf ausgebrochen. Anscheinend bekam Tabitha die Teuflische immer, was Tabitha die Teuflische haben wollte. Statt einander also anzugreifen oder getrennter Wege zu gehen und auf den Beginn des dritten Wettkampfs zu warten, hatten die Harpyien beschlossen zu bleiben und zu feiern.

Es war massenhaft gestohlenes Bier vorhanden, Hardrock-Musik drang durch die Nacht und Fahrzeuge, die sie aus der nächstgelegenen Stadt hergeschafft hatten, beleuchteten mit ihren Scheinwerfern das eisige Tal. Viele der Harpyien waren nach dem letzten Kampf noch von Blutergüssen und Wunden übersät, ein paar andere sogar noch bewusstlos, doch das entmutigte die Feiernden nicht.

Wenige Stunden zuvor hatte irgendwer Kaias Mantel gestohlen, und sie hatte keine Zweifel, wen sie verdächtigen sollte. Vermutlich erwartete Juliette von ihr, dass sie deswegen einen Privatkrieg anzettelte und allen die gute Laune verdarb. Tja, Juliette konnte sie mal kreuzweise. Das Teil war sowieso saudreckig gewesen.

„Hey Baby“, ertönte eine sexy Männerstimme.

Strider. Ihr Strider. Er roch nach Zimt und sah paradiesisch aus mit den rosigen Wangen und den zerzausten Haaren, die sein Gesicht wie ein lebendiger Heiligenschein einrahmten.

Liebte sie ihn? Sie verzehrte sich nach ihm, lachte über seine Scherze und freute sich über seine Aufmerksamkeit. Aber Liebe? Vertraute sie ihm grenzenlos? Ihre Schwestern waren die einzigen Mitglieder in ihrem Kreis der Vertrauten, und sie hatte nie daran gedacht, noch jemanden darin aufzunehmen. Schon gar nicht jemanden, der ganz andere Prioritäten hatte als sie.

Er ließ sich neben sie fallen und hielt ihr ein vereistes Glas hin. „Das ist meins. Nicht deins. Fass es bloß nicht an.“

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, ihm zu vertrauen. Sie nahm ihm das Glas ab, murmelte „Danke“ und nippte daran. Obwohl der Drink eiskalt war, stieg ihre Körpertemperatur immer weiter.

„Ich habe mit Sabin und Lysander gesprochen. Sie haben etwa eine Meile von hier ein Camp aufgeschlagen und verarzten Bianka und Gwen.“

Dann hatte er gar nicht nach der Rute gesucht? Wunder aller Wunder. „Was ist mit Taliyah, Neeka und den anderen?“

„Sind ohne ein Wort abgehauen.“

„Das machen die immer“, brummte sie.

„Mag sein, aber dieses Mal bin ich ihnen gefolgt.“

Sie sah ihm ins Gesicht. Seine marineblauen Augen leuchteten, und er grinste verführerisch. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Er trug eine Lederjacke, Jeans und Stiefel. Ein klassisches Strider-Outfit. Der Mann war allzeit bereit, jemandem ordentlich in den Hintern zu treten.

„Wirklich?“, fragte sie. „Und sie haben dich nicht gewittert?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

Sie musterte ihn erneut. Auf seinen Handflächen sah sie frische Schnitte, auf den Fingern kleine Kerben. „Was ist passiert? Haben sie dich verletzt? In dem Fall werde ich nämlich persönlich …“

„Ganz ruhig, Rotschopf.“ Seine Mundwinkel bogen sich weiter nach oben, bis er breit grinste. „Sie haben mich nur in die Flucht geschlagen. Auf jeden Fall hatten sie am Anfang keine Ahnung, dass ich ihnen gefolgt bin. Sie haben in den Zelten einiger gegnerischer Teams herumgeschnüffelt.“

„Auf der Suche nach der Rute?“ Aber warum sollten ausgerechnet sie das tun?

„Glaube ich nicht.“ Er strich sich nachdenklich übers Kinn. „In dem Waldstück dort“, er zeigte mit dem Daumen hinter sich, „haben sie sich mit einer Gruppe Typen getroffen, die ich nicht kannte. Aber es waren Krieger. Unsterbliche. Taliyah hat mich gewittert, bevor ich dicht genug herankommen konnte, um sie zu belauschen.“

Taliyah. Mit Männern. Interessant. Und ungewöhnlich. Normalerweise wahrte ihre ältere Schwester Distanz zum anderen Geschlecht, um nicht Gefahr zu laufen, ihrem Gemahl zu begegnen. Nicht dass Taliyah Männer hasste. Keinesfalls. Aber sie mochte ihren Freiraum. Mochte es, tun und lassen zu können, was sie wollte. Mochte es, an niemanden gebunden zu sein und jederzeit oder Hindernisse verschwinden zu können.

„Die hecken doch was aus“, meinte Kaia.

„Mit Sicherheit. Aber ich glaube nicht, dass es dabei um uns oder die Spiele geht. Die Männer waren vor allem an Neeka interessiert. Beinahe so … als wäre sie ihr Eigentum. Aber apropos Rute“, wechselte er nahtlos das Thema, „ich habe nachgedacht. Was ist, wenn Juliette die echte Rute gar nicht hat? Sondern nur eine Fälschung?“

Das war eine Möglichkeit, wenn auch eine sehr kleine. Kaia erinnerte sich nur zu gut an die Macht, die der Speer ausgestrahlt hatte, als Lazarus damit die Bühne betreten hatte. Aber sie würde schon noch die Wahrheit herausfinden – so oder so.

Das Gelächter betrunkener Frauen verhinderte jedwede Antwort ihrerseits. Gut so. An diesem Ort war das Risiko, belauscht zu werden, viel zu groß. „Lass uns später darüber sprechen.“

„Nein. Jetzt. Wir werden einfach … umsichtiger sein.“ Strider schlang den Arm um ihre Schultern und zog sie dichter an sich heran. Dann flüsterte er ihr etwas ins Ohr, wobei sein warmer Atem sie zärtlich streichelte. „Es gibt da zwei Fragen, die mich umtreiben. Wir wussten nicht, wo die Zweiadrige Rute war. Woher wusste sie es? Und wie hat sie das Artefakt in die Finger bekommen, ohne auf irgendeiner Seite Aufmerksamkeit zu erregen? Und wieso hat sie sie noch nicht benutzt? Warum sollte sie sie hergeben? Okay, das sind mehr als zwei.“

Als er sie berührte, wurden Kaias Brustwarzen hart, und zwischen ihren Beinen wurde es feucht. Das verstand er also unter umsichtig? Egal. Sie würde mitspielen. „Vielleicht hat Rhea sie ihr gegeben“, flüsterte sie nun in sein Ohr. Sie konnte nicht widerstehen und leckte an seiner Ohrmuschel.

Er atmete heftig aus. Kurz davor, ihn bei lebendigem Leibe zu verschlingen, zwang Kaia sich dazu, sich wieder auf die Tänzerinnen zu konzentrieren. Wie durch einen Schleier bemerkte sie, dass Juliette und ihre Mutter fort waren.

„Aber warum hätte sie das tun sollen?“ Er pustete ihr sanft ins Ohr. „Dafür gibt es einfach keinen Grund. Rhea hasst mich und meinesgleichen, sie will uns tot sehen. Sie würde nicht wollen, dass wir so einen begehrten Gegenstand in die Finger bekommen. Sie hätte sie den Jägern gegeben. Galen.“

Kaia bekam am ganzen Körper Gänsehaut. „Vielleicht hat Juliette sie ihr gestohlen. Immerhin ist Rhea nicht da, und niemand hat etwas von ihr gehört. Vielleicht hat Juliette sie umgebracht und die Kontrolle über die Jäger übernommen.“ Sie knabberte an seinem Ohrläppchen, ehe sie ihm ihr Profil zuwandte und gespannt auf seine Erwiderung wartete.

Er enttäuschte sie nicht. Er küsste sich einen Weg an ihrem Wangenknochen entlang, während er die Finger in Richtung ihrer Brust bewegte. „In diesem Fall wäre Cronus auch tot. Die zwei sind miteinander verbunden. Wenn der eine stirbt, stirbt auch der andere. Und Cronus ist quicklebendig. Amun hat sich mit ihm getroffen.“

Sie genoss seine Berührung, und ihre Synapsen begannen, heftig zu kribbeln. „Dann hat Juliette sie vielleicht eingesperrt.“ Wenn Kaia die Rute finden wollte, müsste sie Juliette kidnappen und foltern, um an entsprechende Informationen zu kommen. Diese Notwendigkeit hatte sie bereits akzeptiert. Jetzt würde sie sie außerdem noch zu Rhea und den Jägern befragen.

Mit dem Finger kreiste Strider einmal um ihre Brustwarze, dann noch mal. „In dem Fall wäre sie mächtiger, als wir dachten.“

Wow, das fühlte sich gut an. Sie legte die flache Hand auf seinen Oberschenkel und stellte ohne große Überraschung fest, dass ihre Krallen bereits messerscharf und kurz davor waren, sich in sein Fleisch zu graben. „Keine Sorge. Ich komme schon mit ihr zurecht. Außerdem bin ich ihr noch etwas schuldig.“

Ganz gleich, welche Antworten Kaia aus Juliette herausholen würde, es war offensichtlich, dass die Hexe die ganze Sache so inszeniert hatte. Womöglich um Strider zu rauben, wie sie zunächst vermutet hatte. Nicht dass Juliette in dieser Hinsicht irgendetwas unternommen hatte, aber sie hatte Kaia definitiv mit etwas verhöhnen wollen, das sie niemals bekommen könnte. Den Sieg. Den Respekt der anderen Harpyien. Aber auch den Respekt von Strider, wenn sie ihn enttäuschte.

Und wenn sie ihn tatsächlich enttäuschte, würde er sie dann immer noch lieben?

Über die Antwort wollte sie gar nicht erst nachdenken. Allein die Möglichkeit erschütterte sie bis ins Mark.

„Nur für die Zukunft“, sagte sie und flüsterte nicht länger. „Du solltest wissen, dass ich nicht durchdrehen, sondern mich nur rächen werde.“

„Gut.“ Er drückte ihr einen sanften Kuss auf den Mundwinkel. „Denn genauso mag ich meine Süßigkeiten und meine Frauen: heiß und scharf.“

Der Kommentar löste bei ihr ein unerwartetes Lachen aus. „Wie dem auch sei – wir sollten wirklich nicht hier darüber sprechen.“ Ganz gleich, wie sehr sie den Informationsaustausch auch genoss.

Er seufzte. „Du hast recht.“

„Natürlich.“

Er verwuschelte ihr das Haar. „Angeberin.“

„Ich bin nur ehrlich. Und, was ist mit deinen Händen passiert?“, fragte sie. Sie musste unbedingt das Thema wechseln, bevor sie sich noch auf seinen Schoß setzte und es hier und jetzt mit ihm triebe.

„Nichts.“ In seiner Stimme lag eine Bestimmtheit, die ihr sagte, dass weiteres Nachbohren zwecklos wäre.

Eine Lüge. Sie wusste es, und dennoch beließ sie es dabei. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit ihm zu streiten. Sie mussten sich als vereinte Front präsentieren.

„Ja, ja“, erklang noch eine sexy Stimme von hinter ihr. „Wenn das nicht meine Lieblingsharpyie ist.“

Strider erstarrte, und sie drehten sich gemeinsam um – eine vereinte Front, juchhu! – und sprangen auf. Lazarus stand vor ihnen, die dicken Arme vor der Brust verschränkt. Wie Strider trug er eine Jacke und Jeans. Im Gegensatz zu Strider beschleunigte sich ihr Herzschlag bei seinem Anblick nicht.

„Hey Tampon. Wo ist deine Herrin?“, begrüßte Kaia ihn.

Die schwarze, gläserne Lava in seinen Augen wirbelte bedrohlich im Kreis. Wie? Fand er seinen Kosenamen gar nicht mehr lustig? „Sie hält ein intimes Meeting mit deiner Mutter ab, bei dem sie planen, auf welche Art sie dich am besten vernichten können. Ich soll dich solange ablenken – keine besonders schwere Aufgabe. Würdest du gern mit mir an einen intimen Ort gehen? Ich könnte endlich all deine Sehnsüchte stillen.“

Aus Striders Kehle stieg ein tiefes Knurren, und das Geräusch erinnerte sie an eine Uhr, die den Countdown zählte. Tick, tack, tick, tack, gleich wird jemand sterben.

„Danke“, erwiderte Kaia, „aber ich wäre lieber auf einer Insel und würde mich von einem Millionär jagen und erledigen lassen, damit er meine Haut vor seinem Kamin drapieren kann.“

„Das Spiel werden wir zwei später spielen, Baby Doll“, sagte Strider. „Du hingegen“, blaffte er Lazarus an, „kannst jetzt mit mir an einen intimen Ort gehen.“

Kaia spürte die kalten Finger der Angst auf ihrer Wirbelsäule. Bitte, bitte, bitte fordere ihn nicht heraus.

„Danke“, entgegnete Lazarus, „aber du bist nicht mein Typ.

Wenn du nicht mit mir weggehen willst, süße Kaia, dann lass uns doch hier ein bisschen plaudern.“

Auf seine Worte folgte abermals ein wildes Knurren von Strider.

Oh Götter. Die beiden würden sich jeden Moment prügeln, und nichts würde sie aufhalten.

Sie wusste, wie mächtig der Unsterbliche vor ihr war. Er hatte ein ganzes Camp voller Harpyien zerfleischt, war unversehrt entkommen und jahrelang untergetaucht. Nun ja, im Grunde wusste sie gar nicht, wie lange er sich versteckt hatte, sondern nur, dass er sich versteckt hatte. Strider war ebenfalls mächtig, aber er hatte ein Handicap. Seinen Dämon.

Als ob ihn das beeinträchtigen würde.

Auf diesen Gedanken folgte unmittelbar ein weiterer. Du kannst die Situation zu deinem Vorteil nutzen. Sie musste unbedingt wissen, was ihre Mutter und Juliette vorhatten, und ein Kampf zwischen Strider und Lazarus wäre die perfekte Ablenkung, die es ihr erlauben würde, unbemerkt zu verschwinden und ganz zufällig und aus Versehen irgendwen zu belauschen.

Anscheinend hatte Strider dasselbe gedacht – und sein Dämon hatte die Herausforderung, es herauszufinden, offenbar angenommen –, denn er warf sich ohne ein weiteres Wort auf den Krieger. Die beiden stürzten zu Boden. Silberne Klingen glänzten im Mondlicht.

Ja, Strider wollte den Krieger umbringen, aber deshalb hatte er den Kampf nicht initiiert, und sie wusste es. Er hatte ihr die nötige Rückendeckung verschafft, die sie brauchte, um besagte Frauen zu finden, aber verflucht! Es fiel ihr ganz und gar nicht leicht, ihn hier allein zu lassen.

Als die Krieger vor Schmerzen stöhnten, einander herumschleuderten, sich duckten, Schläge austeilten, um sich traten und aufeinander einstachen, wurden die Harpyien, die rings um das Lagerfeuer standen, auf die Schlägerei aufmerksam. In der nächsten Sekunde fingen sie auch schon an zu jubeln und zu wetten.

Kaia schlängelte sich durch den Pulk, wobei sie Strider so lange wie möglich im Blick behielt. Er und Lazarus wälzten sich jetzt im Schnee, wobei sie kleine Blutlachen hinterließen. Ihr Magen verkrampfte.

Keine Sorge. Er kann auf sich selbst aufpassen.

Trotzdem zitterte sie, als sie sich am Rand der Menge hinhockte und schnupperte. Irgendwo musste sie den vertrauten Geruch ihrer Mutter doch wittern. Aber nein, nichts. Sie bewegte sich ein paar Zentimeter nach vorn. Immer noch nichts. Nach rechts. Nichts. Nach links – da!

Sie spurtete los und bemühte sich, so weit wie möglich im Schatten zu bleiben. Schon bald hinderte ein steiler Berghang sie am Weiterkommen. Sie blickte nach oben. Eis, zerklüftete Felsen. Ein Felsvorsprung.

Ein Vorsprung, der höchstwahrscheinlich zu einer Höhle führte.

Was für ein Klischee. Harpyien konnten höher springen als Menschen und sogar für kurze Zeit in der Luft bleiben. Aber weil ihre Flügel so klein waren, konnten sie nicht fliegen. Sie musste es also auf die anstrengende Art machen und klettern. Präzise platzierte sie Hände und Füße, damit nicht der kleinste Stein oder Eiskristall herunterfiele. Falls die Frauen da oben waren – und davon ging sie aus – konnte schon das kleinste Geräusch sie aufschrecken. Sie bezweifelte auch nicht, dass sie das Chaos hörten, das unter ihnen tobte, aber das war etwas, womit sie gerechnet hatten.

Der Krampf in ihrem Magen wurde stärker, als eine Frauenstimme, die sie den Eagleshields zuordnete, jubelte und rief: „Genau so, Cowboy. Schlag ihm die Fresse ein!“

Wer war der Cowboy? Strider oder Lazarus? Bestimmt Lazarus, denn da Juliette eine Eagleshield war, stand ihr Clan gewiss auf seiner Seite. Obwohl Strider ein appetitlicher Herr der Unterwelt war. Diese dämlichen Kühe. Ihretwegen schämte sie sich fast, eine Harpyie zu sein.

„Heilige Hölle, ich glaube, du hast ihm die Nase gebrochen. Was für ein himmlischer Schlag. Mach’s noch mal! Mach’s noch mal!“, rief eine andere.

„Schlag ihm in die Weichteile!“

„Ich vögle den Gewinner!“

„Nichts da. Das mache ich.“

Du darfst nicht hinsehen.

Sie kletterte immer weiter nach oben und machte keine Pause, bis sie den Vorsprung erreicht hatte. Ihre Arme zitterten, und ihre Oberschenkel brannten, doch sie verharrte in ihrer Position und lauschte. Sie hörte Gemurmel, ja, aber es war so leise, dass sie nicht mal sagen konnte, ob es Männer- oder Frauenstimmen waren. Geschweige denn, wie viele Personen sprachen.

Um das herauszufinden, müsste sie hineingehen.

Wenn man sie entdeckte, würde man sie angreifen. Aber ein Kampf war besser als ein geheimes Treffen, bei dem Pläne geschmiedet und beschlossen wurden. Zumindest würde sie die Teilnehmer daran hindern, irgendwelche Ziele festzulegen.

Sie holte tief Luft, langte nach unten, sodass sie an nur einer Hand an dem Vorsprung baumelte, und zog ein Messer. Dasselbe wiederholte sie mit der anderen Hand, und erst dann schwang sie sich hoch.

Ein Fehler. Einer, den sie nie vergessen würde.

Man hatte sie reingelegt, das begriff sie augenblicklich, und Panik machte sich breit.

Doch ihr blieb keine Zeit zu handeln. Aus dem Boden der Höhle schossen Metallschellen hervor, die sich ihr um die Knöchel legten und ihre Zähne so tief in ihr Fleisch bohrten, dass sie auf den Knochen trafen. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, obwohl ihre Knie nachgaben. Ich darf Strider nicht ablenken.

Ihre Mutter und Juliette hatten gar kein intimes Treffen abgehalten. Sie hatten sich gar nicht getroffen. Sie hatten einfach eine Truppe mordlustiger Jäger zusammengetrommelt. Und diese Jäger starrten sie jetzt lächelnd an, als hätten sie die ganze Zeit auf sie gewartet.