13. KAPITEL
Strider war bereit, kaltblütige Morde zu begehen. Und er würde mit Sabin und Lysander anfangen, die ihn gewaltsam auf seinem Platz festhielten. Vielleicht war es ihnen nicht klar, aber mit ihrem Verhalten forderten sie seinen Dämon heraus, weshalb Strider ihnen beiden eine verpasst hatte. Sie ließen ihn los. Doch statt aufs Basketballfeld zu rennen, blieb er auf der Tribüne. Unter Einsatz all seiner Willenskraft.
Zuvor hatte er ein Mal versucht, sich davonzuschleichen und zu den Eagleshields auf der anderen Seite zu gelangen. Aber dann war Kaia eingewechselt worden, und er war wie von der Tarantel gestochen zurück zu seinem Platz gerast.
Wenn er sich erlaubte einzugreifen, würde er sich seinen Weg durch diese Frauen metzeln. Turnier beendet. Kein Erster Preis. Und falls er die Zweiadrige Rute nicht fände, müsste Kaia gewinnen. Außerdem würde er Kaia mit seinem Eingreifen erniedrigen. Aber andererseits waren ihm der Erste Preis und die Erniedrigung scheißegal.
War Kaia okay?
Ihr Körper war schlapp geworden, nachdem die anderen sie eine halbe Ewigkeit verprügelt hatten. Zum Glück hatten ihre Gegnerinnen irgendwann das Interesse an ihrer bewusstlosen Gestalt verloren und sich gegeneinander gewandt. Als Strider sie gesehen hatte, wäre er um ein Haar wieder von seinem Stuhl aufgesprungen. Ihr Gesicht war mit Blut bedeckt. Ihre Kleider waren zerrissen und genauso blutverschmiert. Ihre Hände waren geschwollen, ihr Brustkorb war regungslos.
Sabin straffte die Schultern und wischte sich das schmutzige Popcorn von den Schultern. „Sie wird schon wieder“, meinte er. „Sieh dir Bianka an. Sie ist zwar wütend, aber nicht panisch.“
Schon komisch, dass ausgerechnet der Hüter von Zweifel ihn zu beruhigen versuchte, aber Strider befolgte seinen Rat. Er sah zu Bianka hinüber. Sie ging unruhig auf der Tribüne auf und ab. Rings um sie hatten sich schon längst alle verzogen. Sie stampfte so fest mit den Füßen auf, dass das Holz darunter vermutlich schon Risse hatte.
Er rieb sich mit der – zitternden! – Hand übers Gesicht. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder für eine gefühlte Ewigkeit auf Kaia. Sie musste von seinem Blut trinken. Sie sollte von seinem Blut trinken. Sie musste sich nur bewegen und die Sache zu Ende bringen.
Komm schon, Baby Doll. Du schaffst es.
Ihr Team konnte sich noch immer durchbeißen und gewinnen. Und selbst wenn nicht … Nein. Diesen Fall würde er gar nicht erst in Erwägung ziehen. Überraschenderweise war das Einzige, was zählte, Kaia. Sie hatte sich so gut geschlagen und mit einer Fertigkeit gekämpft, die ihn erregt hatte. Ja. Während er ihr zugesehen hatte, war Stridey-Monster ganz hart geworden. Und dann hatte die Harpyiengang sie k. o. geschlagen.
Was zur Hölle hatte sie getan, dass sie einen derartigen Hass auf sich zog?
Wenn sie das nächste Mal alleine wären, würde sie es ihm erzählen. Keine Lügen mehr. Ganz egal, wie sexy sie war, wenn sie log.
Dann, endlich, eine Regung. Sie zuckte. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an. Niemand bemerkte es, als sie die Augen öffnete. Er wusste genau, in welchem Moment sie wieder klar denken konnte, weil ihre weißen Zähne inmitten von lauter Rot zum Vorschein kamen. Doch verletzt, wie sie im Augenblick war, konnte sie sich an denjenigen, die sie so zugerichtet hatten, nicht rächen. Deshalb tat sie das einzig Vernünftige. Sie kroch zu Taliyah.
„Komm schon, Baby Doll“, murmelte er. Unbemerkt hatten sich seine Gedanken zu Worten geformt und schlüpften nun über seine Lippen. „Du schaffst es.“
Gewinnen. Schon lange bevor Kaia in den Ring getreten war, hatte Niederlage den Sieg eingefordert.
Ja, das wird sie. Götter, noch nie war er stolzer auf jemanden gewesen. Nicht einmal auf seine Freunde, die an seiner Seite gegen die Jäger gekämpft und ihm Rückendeckung gegeben hatten. Denn als sie k. o. gegangen waren, hatten sie sich nicht wieder berappelt. Im Gegensatz zu Kaia. Sie kämpfte weiter.
Kaia hob die Hand nur wenige Zentimeter und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Irgendjemand kreischte auf und eilte zu ihr, um sie von dem Wechsel abzuhalten. Doch da berührte sie die Hand ihrer Schwester, und die blonde Harpyie sprang voller Wut in den Ring.
Sekunden später ertönten schmerzerfüllte Schreie, eine Symphonie der Qual. Körper flogen durch die Luft – und standen nicht mehr auf. Bis eine keuchende, blutverschmierte Taliyah als Einzige im Ring stand. Sie wechselte Gwen ein, die einfach nur herumhüpfte und jede trat, die am Boden lag. Gwen wechselte Neeka ein, die das Spiel wiederholte. Neeka wechselte wieder Gwen ein, die somit ihre dritte Runde absolvierte.
Als Gwen fertig war, klatschte sie mit Kaia ab, die es irgendwie schaffte, ein paar Zentimeter nach vorn zu kriechen und einer der Darniederliegenden in den Magen zu treten. Doch anscheinend verschlimmerte die Aktion ihre ernsthaften inneren Verletzungen, denn sie verlor kurz das Bewusstsein.
„Komm schon, Kaia!“, brüllte Strider.
„Du schaffst es!“, schrie Sabin in sein Megafon, und Strider wünschte, er hätte auch eins.
Allmählich berappelten sich die anderen Harpyien wieder. Die Frau, die Kaia getreten hatte, setzte sich mit einem Ruck auf, was Kaia wachrüttelte.
„Verdammt, Kaia! Du bist die Beste. Zeig es ihnen!“ Strider hätte sich am liebsten übergeben, als sie erneut angegriffen wurde. Doch irgendwie schaffte sie es, zu Taliyah zu kriechen und mit ihr abzuklatschen.
Er dachte, sie würden es schaffen. Er dachte, sie würden gewinnen. Doch am Ende, als Kaia ein drittes Mal in den Ring ging, wurde sie so brutal verprügelt, dass sie ein für alle Mal das Bewusstsein verlor – und ihr Team aus dem Wettbewerb flog. Und zu allem Überfluss ergatterte ausgerechnet Team Skyhawk den ersten und Team Eagleshield den zweiten Platz.
Etwas Warmes lief Kaias Kehle hinunter. Lecker, dachte sie und schluckte geschwächt. Mehr, davon brauchte sie mehr, doch sie hatte nicht die nötige Kraft, um noch einmal zu schlucken. Bis die Wärme ihren Magen erreichte. Blitzschnell breitete sie sich in ihrem ganzen Körper aus, verjagte die kalte Schwere ihrer Glieder und gab ihr Energie.
Sie öffnete die Augen. Sie sah Strider, der über ihr lehnte und sein Handgelenk über ihren Mund hielt. Blut tropfte auf ihre geschlossenen Lippen und an ihren Wangen hinunter. Mit der anderen Hand versuchte er, ihren Mund zu öffnen. Als er bemerkte, dass sie aufgewacht war, verharrte er in der Bewegung.
Ihr Mund ging wie von selbst auf, und noch ein Schwall Wärme rauschte in ihren Magen und erfüllte sie.
„So ist es gut“, sagte er, während er sein Handgelenk auf ihre geöffneten Lippen legte. „Braves Mädchen.“
Ihre Fangzähne wurden länger, und sie biss zu. Sie saugte und saugte und saugte. Trank sein heilendes Blut. Er schmeckte wie ein vollmundiger, reifer Wein mit einem Hauch von Schokolade und Honig. Noch nie hatte jemand so gut geschmeckt.
Während sie trank, musterte sie ihn. Er saß neben ihr, seine Hüfte berührte ihre. Um Augen und Mund waren Falten der Anspannung zu sehen, und seine Haut war blass. Da sie nicht wusste, wie viel Blut er ihr spenden konnte, zwang sie sich, ihr flüssiges Festmahl zu beenden.
Er zog eine Augenbraue hoch. „Reicht das schon?“
Nein, aber es musste reichen. Sie nickte. Die Bewegung löste einen heftigen Schwindel aus, und sie verzog das Gesicht. Langsam und bedächtig atmete sie ein und aus. Endlich beruhigte sich ihr Kopf, und sie konnte ihren Erinnerungen nachgehen.
Sie wusste noch, wie sie den Ring betreten und es ihren Gegnerinnen gezeigt hatte – und wie man es schließlich ihr gezeigt hatte. Danach … verdammt, verdammt und noch mal verdammt. Sie lag in einem unbekannten Bett in einem unbekannten Zimmer. Das bedeutete … verdammt, verdammt, verdammt.
„Wo sind meine Schwestern?“ Wow. Sprechen tat weh. Irgendwer musste ihr ordentlich was auf die Luftröhre gegeben haben.
„Bianka ist mit Lysander zurück in den Himmel gegangen, weil ich kurz davor war, ihr die Luft abzudrehen. Und Gwen ist bestimmt irgendwo mit Sabin und trinkt von seinem Blut, um zu heilen.“ Striders Stimme klang kalt und distanziert. „Was Taliyah und die anderen angeht, habe ich keine Ahnung.“
„Aber alle meine Mädels haben den Kampf überlebt?“
„Ja. Alle.“
„Und sie haben auch nicht mit dem Tod gerungen?“
„Nein.“
Was für eine Erleichterung. In Ordnung. Okay. Sie lebten und erholten sich. Dann könnte sie alles ertragen. Vielleicht jedenfalls. „Wer hat … gewonnen?“
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Deine Mutter. Euer Team hat keinen Platz belegt.“
Meinetwegen, dachte sie. Auf einmal fühlte sich ihre Brust ganz hohl an. Weil ich ohnmächtig geworden bin. Was beinahe genauso schlimm war, wie disqualifiziert zu werden.
Ihre Augen brannten. Sie schloss die Lider. Verflucht. Sie brauchte einen Moment für sich, brauchte Zeit, sich zu fassen. Oder zu schluchzen. Strider hatte ihr Versagen beobachtet. Sie durfte jetzt nicht vor ihm zusammenbrechen, sonst bekäme er eine noch schlechtere Meinung von ihr.
Und obendrein sah sie wahrscheinlich auch noch scheußlich aus. Am besten hängte sie alle Spiegel in ihrer Nähe mit Trauerschleiern ab, bevor sie sich noch darin sähe und beschließen würde, sich das Leben zu nehmen. „Sei ein guter Gemahl und besorg mir eine Flasche Wasser, damit ich sie dir stehlen kann. Ich habe Durst.“
„Dann trink deine Tränen, Heulsuse.“
Sie riss die Augen auf und sah ihn entgeistert an. Das Verlangen zu weinen verschwand im Nu. „Wie kannst du es wagen, mich so zu behandeln? Wo ist dein Mitgefühl? Ich bin dabei zu sterben.“
„Oh bitte. Du hast lediglich ein paar Kratzer.“
Kratzer? Kratzer! Sie sah an sich hinunter. Man hatte ihr die Kleider aufgeschnitten, sodass sie nackt war. Nur sah sie nach wie vor angezogen aus. Ihre Haut war übersät von Schnitten und blauschwarzen Blutergüssen. „Das sind die übelsten Wunden, die du je gesehen hast, du Mistkerl. Gib es zu.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Nö. Ich habe mich schon mal zwischen Daumen und Zeigefinger an einem Blatt Papier geschnitten. Keiner weiß, was echter Schmerz ist, solange er das noch nicht erlebt hat.“
Er. Machte. Witze. „Noch ein Wort, und ich ramme dir ein Messer ins Herz.“ Leise schimpfend zog sie sich die Bettdecke bis unters Kinn. Jede einzelne Bewegung löste höllische Schmerzen aus, aber das war es wert. Nackt vor Strider sein? Kein Problem. Aber nackt und verletzt? Zum Teufel, nein!
„Pass auf, was du sagst, okay? Mein Dämon spielt nämlich verrückt.“ Während er sprach, steckte er vorsichtig den weichen Stoff rings um sie herum fest.
Ihre Wut verflog ein wenig. „Was meinst du mit ‚verrückt spielen‘?“
„Er ist scharf auf einen Kampf.“
„Warum?“ Sie wusste, dass sie lieber den Mund halten sollte. Wusste, dass es Strider wütend machen würde, aber es war nur zu seinem Besten. Also fügte sie hinzu: „Ich bezweifle, dass du es so erklären kannst, dass ich es verstehe.“
Er kniff die Augen zusammen und strahlte auf einmal pure Wut aus. „Er hat dich angefeuert. Er hat dich verlieren sehen. Das hat ihn mitgenommen. Er hat mir zwar nichts getan, aber jetzt muss er irgendetwas gewinnen. Kapiert?“
„Ja.“ Sein Dämon hatte sie angefeuert? Wirklich? Dann war es also doch seine Stimme gewesen, die sie gehört hatte? „Danke.“
„Es gibt keinen Grund zu lächeln.“
Lächelte sie? Oh ja. Das tat sie. Sie setzte ein neutrales Gesicht auf. „Na schön. Ich werde mich benehmen. Und, geht es dir schon besser?“
Es verstrich ein Augenblick, bevor sich die Spannung legte, die sie in ihm gespürt hatte. Er hatte gewonnen. Zwar war es ein strategischer Sieg gewesen, aber dennoch ein Sieg, der seinen Dämon hoffentlich beruhigte.
„Du hast das mit Absicht gemacht“, erwiderte er nachdenklich.
„Und?“
„Und … das war süß von dir.“ Zärtlich strich er ihr die Haare aus der Stirn. „Wir müssen noch reden. Sobald du dich kräftig genug dafür fühlst.“
Die Wärme seines Körpers umhüllte sie stärker als die Decke. „Warum sollte ich mich nicht kräftig genug fühlen? Kratzer, du erinnerst dich?“ Als sie den nüchternen Klang ihrer Stimme wahrnahm, begriff sie noch etwas: Strider hatte zuvor kein Mitgefühl gezeigt, weil er gemerkt hatte, dass sie kurz davor gestanden hatte, zusammenzubrechen. Jede Form von Sanftheit hätte ihr den Rest gegeben, und sie wäre zusammengebrochen.
Sie hätte ihm diesen Zusammenbruch übel genommen und sich Gedanken über die Konsequenzen gemacht. Das blieb ihr nun erspart. Jetzt konnte sie einfach seine Nähe genießen.
„Geht es dir wirklich gut?“, fragte er. „Sei ehrlich.“
„Ja, es geht mir gut.“
„Brauchst du noch irgendwas?“
„Eine nackte Abreibung.“
Seine Pupillen weiteten sich, fraßen das Blau seiner Augen auf. „Außerdem.“
„Außerdem, außerdem“, äffte sie ihn nach und zwang sich, ihn wütend anzusehen. „Pass auf, ich weiß, dass du aufrichtig um mein leibliches Wohl besorgt bist, aber wenn du mir nicht endlich etwas Wasser holst, das ich – wie schon gesagt – dringend brauche, werde ich persönlich …“
„Ganz offensichtlich steht dir der Sinn nach reden.“ Diesmal verzog er die Lippen zu einem richtigen Lächeln.
So. Viel besser. Er hatte nicht gewollt, dass sie zusammenbrach, und sie hatte nicht gewollt, dass er sich wegen ihrer körperlichen Verfassung den Kopf zerbrach.
„Deshalb …“ Er hielt eine glitzernde Flasche hoch und wedelte damit vor ihrem Gesicht hin und her. Ein paar Tropfen Kondenswasser spritzten auf ihre Brust, und sie keuchte. „… kann ich zugeben, dass ich habe, was du willst, und dich ausnutzen.“
Plötzlich fing ihr Gaumen an zu schmerzen, so trocken war ihr Mund auf einmal. Vorher hatte sie nur vorgegeben, Durst zu haben. Aber jetzt, beim Anblick dieser Flasche, wollte sie sie haben. Musste sie sie haben. Oder sie würde sterben. „Gib sie mir.“
„Na, na, na. Wenn du sie haben willst“, erwiderte er mit leichtem Singsang in der Stimme, „musst du sie dir verdienen. Ich werde dir ein paar Fragen stellen, und du wirst sie mir beantworten. Und nur zu deiner Information: Ich habe auch noch einen Hamburger und einen Schokoshake, mit denen ich dich bezahlen kann.“
Sie leckte sich die Lippen. In diesem Moment hasste und liebte sie ihn zugleich. Das war genau der Grund, warum sie niemals Harpyiengeheimnisse verriet. Weil sie gegen sie verwendet werden konnten. Aber von Gwen wusste Strider, dass Kaia sich ihr Essen tatsächlich verdienen musste. Wenn er ihr eine Frage stellte und sie für ihre Antwort eine Bezahlung akzeptierte, könnte sie ihn nicht anlügen. Sonst würde ihr schrecklich übel werden, genau wie wenn sie etwas äße, was sie sich selbst zubereitet hatte.
Wieder wedelte er mit der Wasserflasche. „Abgemacht?“
„Abgemacht“, zischte sie. Nun brauchte sie nicht länger nur so zu tun, als würde die Wut wieder aufkeimen. Er würde etwas über die nächste Disziplin erfahren wollen. Das wusste sie. Sie …
„Erzähl mir, warum die Harpyien dich so hassen.“
… irrte sich. Sie sank in die Matratze und starrte zur Decke. Einige Stellen hatten sich durch einen Wasserschaden dunkel verfärbt. Dann waren sie also wieder in irgendeinem billigen Motel. Vermutlich noch immer in Wisconsin.
„Ich warte, Baby Doll.“
„Die Antwort ist nicht wichtig.“
„Das entscheide ich.“
Sie seufzte. „Der Mann … Juliettes Mann. Der Mann, den du am Einführungstag gesehen hast. Als ich vierzehn war, wollte ich, dass er mein Sklave ist. Er sollte meine Wäsche machen und so. Deshalb habe ich versucht, ihn zu stehlen. Ich wollte beweisen, was ich wert bin. Wie stark ich bin.“ Während sie sprach, begann sie zu zittern. Wenn sie ihm die ganze Wahrheit erzählte, würde er sie verlassen. Genauso, wie fast der gesamte Clan sie verlassen hatte.
Wie sollte er auch anders? Er hatte sie gerade verlieren sehen. Zu hören, dass sie schon immer eine Versagerin gewesen war und vermutlich nie mehr sein würde als …
Wollte sie die Wasserflasche wirklich so sehr?
„Und?“, drängte er.
Besser ich verliere ihn jetzt, dachte sie. Er blieb ohnehin nur wegen der Rute, und wenn er ginge, bräuchte sie sich wenigstens keine Gedanken wegen des nächsten Wettkampfs zu machen – und darüber, wieder vor seinen Augen zu verlieren.
„Stattdessen“, schloss sie, „habe ich ihn freigelassen, und er hat mich fast umgebracht. Er hätte mich umgebracht, wenn Bianka nicht gewesen wäre. Sie hat ihn von mir gezerrt, und da hat er sich auf sie gestürzt. Danach hat er alle anderen angegriffen. An jenem Tag haben mehr Harpyien ihr Leben verloren als an irgendeinem anderen Tag in unserer Geschichte. Selbst während der Großen Revierkämpfe, in denen wir gegen andere Spezies gekämpft haben, waren es weniger.“
Strider zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn er so viele verletzt hat, warum geben sie dann nicht ihm die Schuld für die Geschehnisse? Ihn hat niemand mit hasserfülltem Blick angesehen. Ihm ist niemand an die Gurgel gegangen.“
Das war seine Reaktion? Warum war er nicht davongelaufen? „Juliette hatte ihn festgekettet. Ich habe ihn befreit. Wäre ich von ihm ferngeblieben, hätte er nicht die Möglichkeit gehabt, irgendetwas zu tun.“
„Okay, dann beantworte mir Folgendes: Wenn er so gefährlich ist, warum hat Juliette ihn dann nicht schon längst verstoßen?“
„Weil eine Harpyie ihrem Gemahl fast alles verzeiht“, grummelte sie.
Ein Moment des Schweigens. „Was ist Juliettes Gemahl überhaupt?“, fragte er, ohne auf ihre Bemerkung über das Verzeihen einzugehen. Wieso? Sie hatte ihm soeben einen ewigen Freifahrtschein gegeben. „Ein Mensch ist er jedenfalls nicht, so viel steht fest.“
„Ich weiß nicht, was er ist. Ich bin noch nie jemandem wie ihm begegnet. Weder vorher noch danach.“
Er schürzte die Lippen. „Dann hast du also nicht mit ihm geschlafen?“
„Ich war vierzehn. Was denkst du denn?“ Als sie seinen neutralen Gesichtsausdruck sah, murmelte sie schnell: „Moment. Sag lieber nichts.“
„Götter, bist du empfindlich. Ich weiß, dass du nicht mit ihm geschlafen hast. Ich wollte es nur aus deinem Mund hören.“ Ganz sanft zeichnete er die Kontur ihres Kiefers nach. „Und vielen Dank, dass du mir diesmal die Wahrheit gesagt hast.“
Bloß nicht dahinschmelzen. Schließlich hatte er ihr keine Liebeserklärung gemacht. „Vielen Dank? Mehr hast du nicht zu sagen?“
„Nein. Wieso? Hast du einen Limerick erwartet?“
Nein. Sie hatte einen Vortrag und ein Auf Wiedersehen erwartet. „Wegen dem, was ich getan habe, haben die anderen mir den Namen ‚Kaia die Enttäuschung‘ gegeben.“ So. Jetzt wusste er alles. Jetzt wusste er, dass die Person, in die er sein Vertrauen setzte und an die er glaubte – irgendwie jedenfalls –, seine Erwartungen womöglich nicht erfüllen würde.
„Was hat es eigentlich mit den Harpyien und ihren Spitznamen auf sich?“, erkundigte er sich und überraschte sie einmal mehr.
Jedes Mal, wenn jemand sie Kaia die Enttäuschung nannte, starb sie innerlich ein bisschen mehr, aber Strider tat, als wäre das keine große Sache. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Ich an deiner Stelle würde mir über uns und unsere Spitznamen nicht den Kopf zerbrechen. Bisher haben wir dir ja noch keinen gegeben.“
In seinen Augen blitzte etwas Bedrohliches auf – und war im nächsten Moment wieder verschwunden. „Als ob es mich interessieren würde, wie ihr mich nennt.“ Trotz der kurzen Veränderung in seinem Blick blieb seine Stimme flach und neutral.
Er konnte so ein Arschloch sein. Wir werden ja noch sehen, ob es dir wirklich so egal ist, wenn wir dir erst einen hübschen Titel verpasst haben. „Nur zu deiner Info: Paris nennen wir den Sexorzisten.“
Striders Nasenflügel bebten, als er scharf einatmete. Eine Stille legte sich über sie, die so schwer war, dass sie allmählich ein schlechtes Gewissen bekam. Dann sagte er steif: „Du hast dir deine erste Bezahlung verdient.“ Er schraubte den Deckel von der Flasche, legte Kaia eine Hand in den Nacken und hob ihren Kopf sanft an. Im nächsten Moment berührte eine kalte Flüssigkeit ihre Lippen, und jegliche Schuldgefühle waren vergessen.
Sie schluckte gierig, und, Götter, mit jedem Tropfen schmeckte es besser. Als sie fertig war, zerdrückte Strider die leere Plastikflasche und warf sie über seine Schulter. Er strich Kaia über den Rücken und nahm die Hand schließlich weg. Betrübt zog sie eine Schnute, um sich davon abzuhalten, um mehr Hautkontakt zu betteln.
Er beugte sich zum Nachtschrank und nahm ein Stück des Hamburgers, den er in vier Teile geteilt hatte. Ihr Magen brannte und fing an zu knurren.
„Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, ob du Hunger hast“, bemerkte er grinsend.
Me-ga-pein-lich, aber wenigstens hatte er diese gefühllose Haltung verloren und war nach wie vor entschlossen, mit ihr zu reden. Ein einziges Wunder. Sie würde sich nicht (noch einmal) beschweren.
„Wenn du hiervon was haben willst, musst du mir sagen, ob du ehrlich denkst, dass du die nächste Disziplin gewinnen kannst. Ganz zu schweigen von der übernächsten und überübernächsten. Denn nach dem letzten Wettkampf gefällt mir der Gedanke, die Rute zu stehlen, immer besser.“
In seiner Stimme schwang eine Spur Reue mit, und sie wusste, dass er die Zweiadrige Rute so oder so stehlen wollte. Falls er es könnte. Was sie allerdings nicht wusste, war, warum er sich in diesem Moment für ihre Meinung zu dem anstehenden Wettkampf interessierte.
Anscheinend hatte er die Frage in ihren Augen gelesen, denn er fügte schroff hinzu: „Ich will nicht, dass du noch einmal so verletzt wirst.“
In ihrer Brust erblühte ein Schmerz. Sie würde ihm antworten. Nicht wegen des Hamburgers, sondern wegen seiner Sorge. „Ich …“ Mist. Ganz ehrlich? Sie hatte schon gedacht, den ersten Wettkampf zu gewinnen. Hatte gedacht, das Wissen um die Rachegelüste ihrer Gegnerinnen würde ihr einen Vorteil verschaffen. Doch sie hatten sich auf sie geworfen, und Kaia war hilflos gewesen.
Beim nächsten Mal würden sie von Neuem auf sie und ihr Team losgehen. Daran führte kein Weg vorbei. Und sie könnte nicht mal über mangelnde Fairness lamentieren, weil sie im umgekehrten Fall mit jedem, der ihre Familie verletzt hätte, genau dasselbe getan hätte.
Familie. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider, und sie musste an Taliyahs Zweifel denken. Ihr ganzes Leben lang hatte sie einfach nur bewundert werden wollen. Geliebt. Respektiert. Ihr ganzes Leben lang war sie von allen im Stich gelassen worden. Sie war tatsächlich Kaia die Enttäuschung.
„Tut mir leid, dass ich verloren habe“, flüsterte sie.
Seine Miene wurde weicher, und er streichelte ihr über die Stirn. „Du hast mich nicht enttäuscht. Bei diesen Gegnern hätte niemand einen Sieg aus dem Hut zaubern können.“
Tröstende Worte. Doch tief im Innern wusste sie, dass er es geschafft hätte. Er schaffte es immer.
„Und trotzdem hast du mir Sorgen bereitet“, fügte er hinzu, und die Schroffheit kehrte zurück. „In dieser Hinsicht werde ich nicht lügen.“
Worte wie von einem echten Gemahl. Sehnsucht erfüllte sie. Sie wollte genau das, wollte ihn. Jetzt und für alle Zeit. Und deshalb würde sie es um seinetwillen schaffen. „Ja“, antwortete sie schließlich. „Ich kann den nächsten Wettkampf gewinnen.“
Kalt, hart, gnadenlos. So müsste sie sein. Und so wäre sie auch. Sie würde ihren Wert beweisen – so wie sie es schon immer hatte tun wollen. Niemand würde sie aufhalten.
Ein Gähnen zerstörte ihre mörderischen Gedanken.
Strider gab ihr den Hamburger und stellte ihr alberne, einfach zu beantwortende Fragen, sodass sie den Shake als Bezahlung annehmen konnte. Als sie fertig war, sagte er: „Ruh dich jetzt aus. Ich habe später noch große Pläne mit dir.“
Ihr Blick wanderte zwischen seine Beine, wo sich eine leichte Wölbung abzeichnete.
Er lachte. „Du verruchte Harpyie.“
„Du hast ‚groß‘ gesagt. Da dachte ich …“ Hoffte ich …
„Schlaf jetzt“, befahl er grinsend.
„Hast du das denn gemeint oder nicht?“ Ihre Augenlider zitterten und gingen zu, doch auch sie grinste.
„Du wirst abwarten und es herausfinden müssen.“