19. KAPITEL

Am nächsten Morgen bluteten Striders Ohren, und in seinem Kopf kreisten die Worte von Naughty by Nature’s O.P.P. Aber das Schlimmste war, dass Kaia und Bianka noch immer sangen. Und zwar schlecht. Verdammt schlecht. Auch wenn er das niemals laut gesagt hätte. Kaia sah so … glücklich aus, während sie sich das Herz aus der Seele quietschte, und er wollte nichts schmälern, was ihr Freude machte. Aber im Ernst – er hätte wetten können, dass eine Katze, der man das Fell abzog, die Töne besser traf. Und er hätte bei dieser Wette eine Menge Geld gesetzt – ganz zu schweigen von seinem Körper und seinem Dämon.

Nachdem die Mädels erst mal angefangen hatten, hatten sie nicht wieder aufgehört. Obwohl mehrere Stunden vergangen waren, hatte leider keine von beiden eine Kehlkopfentzündung bekommen.

Abgesehen von den Menschen, die die Bar pünktlich zur Sperrstunde verlassen hatten – diese Glückspilze –, hatte niemand sonst gewagt zu gehen. Weder die Herren oder die Skyhawks noch die Engel oder die Eagleshields.

Für die Harpyien war dies schlicht und ergreifend eine andere Form des Wettbewerbs. Wer hielt länger durch? Ausnahmsweise war Strider gewillt zu verlieren. Er wäre gegangen und hätte sich einige Tage lang (dankbar) vor Schmerzen gekrümmt, aber nein, verflucht, er musste seine kleine Harpyie beschützen.

Mehrmals versuchten die Eagleshields, auf die Bühne zu gehen, sich das Mikrofon zu schnappen und alle von ihrem Leid zu erlösen. Strider sprang sogleich auf, um einzugreifen, doch Lysander und Zacharel, die für alle außer für Strider und Sabin noch immer unsichtbar waren, formten im Nu eine undurchdringliche Muskelmauer, durch die niemand hindurchkam.

Und die Harpyien hatten es mit aller Gewalt versucht, hatten wild um sich getreten und geboxt, hatten ihre Krallen eingesetzt, schließlich aber frustriert aufgegeben. Natürlich gaben sie Kaia und Bianka die Schuld, und er hörte verwundertes Gemurmel. Welche starken Kräfte die Zwillinge wohl einsetzten?

Gut. Sollten sie sich ruhig wundern.

Wohl wissend, dass die Engel Kaia Rückendeckung gaben, konnte Strider sich auf Juliette und ihr Spielzeug Lazarus konzentrieren, der weiterhin Kaia anstarrte. Das gefiel ihm nicht. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Und er würde es auch nicht dulden.

Benimm dich, ermahnte er Niederlage, dann wird alles gut. Ich kümmere mich darum.

Trotz des Lärms, angesichts dessen der Dämon gewimmert und gebettelt hatte, ihn zurück in die Hölle zu schicken oder in die Büchse die Pandora, irgendwohin, solange er nur fliehen könnte, schnaubte Niederlage.

Aha. Also keine Kooperationsbereitschaft heute. Das würde ihn trotzdem nicht von seinem Vorhaben abbringen.

Noch ehe er sich einreden konnte, abzuwarten und einen Plan zu schmieden, ging Strider zu den beiden hinüber und schleuderte mit dem Fuß einen Stuhl zu Juliettes Tisch, sodass sich die hinteren Streben in die Tischkante bohrten. Er ließ sich verkehrt herum darauf nieder und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte.

Augenblicklich wurde die Spannung im Raum dicker, und er brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, dass Amun und Sabin soeben Posten hinter ihm bezogen hatten. Sie gaben ihm Rückendeckung. Immer.

Endlich ließ Juliette sich dazu herab, ihn zu mustern. Mit den sanften, lavendelfarbenen Augen studierte sie sein Gesicht, seinen Körper und verweilte an Stellen, an denen sie nicht hätte verweilen sollen. „Ich wünsche mir etwas und bekomme es. Ich wollte, dass du näher kommst, und du hast es getan. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich schon viel früher damit gerechnet habe.“

Wenn sie wirklich seine Aufmerksamkeit gewollt hätte, ob mit fairen oder mit unfairen Mitteln, hätte sie ernsthafter versucht, sie zu bekommen. Dann hätte sie nicht abgewartet, bis er den ersten Schritt unternahm. Tja, wenn sie Eier in der Hose gehabt hätte, hätte sie das getan. Kaia holte sich, was sie wollte, und zwar ohne zu zögern. Und so, fand er, musste eine Frau sein. Entschlossen, ehrgeizig. Und sexy.

Aber diese hier war rachsüchtig, und jeder ihrer Schritte sollte ihr zu dieser Rache verhelfen. Dass er sich ihr genähert hatte, hatte also irgendetwas zu bedeuten. Er wusste nur noch nicht was.

„Und warum?“, fragte er aus ehrlicher Neugier.

Einen Augenblick lang war sie verblüfft, als hätte sie erwartet, dass er über ihre Schönheit philosophieren, um Gnade für Kaia betteln oder sie packen und hier und jetzt auf dem Tisch bewusstlos vögeln würde.

„Weil ich etwas besitze, das du haben möchtest, nicht wahr?“

„Wie zum Beispiel?“

„Die Zweiadrige Rute.“ Und als er sie überrascht ansah, fügte sie hinzu: „Ja, ich weiß alles über euch Herren und eure Suche nach der Büchse der Pandora. Ich weiß, dass ihr vier Artefakte braucht, um sie zu finden, und dass die Rute eins davon ist. Warum sonst hätte ich sie deiner Meinung nach als ersten Preis anbieten sollen?“

Statt zu antworten, stellte er eine Gegenfrage: „Wie hast du sie bekommen?“

Ein selbstgefälliges, herablassendes Lächeln erblühte auf ihrem Gesicht. „Ich teile nie meine Geheimnisse.“

Ach nein? Er sah zu Amun. Der große Krieger schaute finster drein. Seine Gesichtszüge waren angespannt. Als er Striders Blick auffing, schüttelte er abrupt den Kopf. Hm. Konnte er ihre Gedanken nicht lesen?

Das kam selten vor.

Andererseits, warum hatte Sabin nicht schon längst Zweifel gegen sie eingesetzt? Oder hatte er es versucht und war wie Amun gescheitert?

Strider widmete seine Aufmerksamkeit wieder Juliette, während er Lazarus weiterhin aus dem Augenwinkel beobachtete. Der Penner hatte Strider nicht einmal angesehen, sondern starrte nach wie vor Kaia an. „Ich muss dich leider korrigieren. Die Gewinnerin wird das bekommen, was ich will“, log er. Denn er bekäme das Artefakt in die Hände, noch bevor die Spiele zu Ende wären. Etwas anderes zu glauben erlaubte er sich gar nicht erst.

„Kommt aufs selbe raus“, erwiderte sie achselzuckend. „Weil Kaia so oder so nicht gewinnen wird.“

Niederlage knurrte.

Braver Junge.

Gideon hatte Strider vor Kurzem erzählt, dass die Dämonen ihre Körper verlassen und in andere Körper eindringen konnten – nicht dauerhaft und auch nicht lange, aber lange genug, um die jeweilige Person um den Verstand zu bringen. Strider wünschte sich, Niederlage würde Juliettes Geist verwüsten und sie von ihrer Schwäche überzeugen, sodass sie nie wieder irgendetwas gewinnen würde.

Sie müssten es unbedingt versuchen. Später. Immer später. Er wagte nicht, das Unbekannte in dieser Situation auszuprobieren.

„Wenn Kaia verliert“, sprach Juliette weiter, „erwarte ich, dass du zu mir kommst. Und vielleicht erlaube ich dir nach langem Betteln, mich glücklich zu machen. Und nachdem du mich glücklich gemacht hast – falls du das überhaupt schaffst – lasse ich dich vielleicht meine Rute benutzen.“

Meine Rute benutzen. „Das hat er also gesagt“, meinte Strider und lachte leise.

Sie blinzelte irritiert. „Das hat wer gesagt?“ Als er nicht antwortete, hakte sie nach: „Was hat er gesagt?“

Kaia hätte den Witz verstanden. Wahrscheinlich hätte Kaia so getan, als sei ihre Bierflasche die Rute, und ihr lachenderweise einen runtergeholt. Götter, er liebte ihren Humor.

„Sag schon“, drängelte Juliette.

„Nichts“, erwiderte er seufzend. Eines wusste er ganz genau: Was auch geschähe, er würde diese Frau um gar nichts anbetteln. Wenn er sie verführen würde, und wäre es auch nur, um sie abzulenken, wäre Kaia verletzt. Sie würde sich einmal mehr zurückgestoßen fühlen. Und genau das wollte diese rachsüchtige Frau, aber auf dieses Spiel würde er sich nicht einlassen.

„Ach, eigentlich ist es mir egal, wer er ist oder was er gesagt hat.“ Sie warf sich die Haare über eine Schulter. „Ich bin um einiges hübscher als diese rothaarige Hure, und irgendwann wirst du mich anbetteln.“

Wut? Nein, das war ein viel zu schwaches Wort für das Gefühl, das plötzlich in seiner Brust brodelte. Sogar Niederlage knurrte. „Ehrlich gesagt bist du das nicht. Es gibt keine Schönere als Kaia. Und übrigens: Sie ist keine Hure. Sie gehört zu mir. Und, nein, ich werde dich um nichts anderes bitten als darum, endlich zu verschwinden.“

Bei der Beleidigung bebten ihre Nasenflügel. „Ach wirklich? Dann will ich dir mal eine Frage stellen, Strider, Hüter des Dämons Niederlage. Du bist einer der sagenumwobenen Herren der Unterwelt, und ich habe akribisch über dich recherchiert. Du stellst den Sieg über alles andere. Warum also solltest ausgerechnet du dich dafür entscheiden, der Gemahl von Kaia der Enttäuschung zu werden?“

Das. Reichte. Seine kleine Harpyie würde schon bald einen neuen Namen bekommen. „Kaia ist vieles für mich, aber keinesfalls eine Enttäuschung. Aber verrate mir eins.“ Du kaltherzige Hexe. „Hat sich dein Gemahl entschieden, mit dir zusammen zu sein?“ Er zeigte auf die eintätowierten Ketten. „Ich möchte nämlich wetten, dass er dir ohne zu zögern den Kopf abbeißen würde.“

Endlich gesellte sich Lazarus zu den anderen an seinem Tisch. „Wie wahr“, sagte er, und Striders Hass nahm ein winziges bisschen ab. Mehr aber auch nicht. Er hätte dem Kerl nach wie vor mit großer Genugtuung einen Dolch ins Herz bohren können.

„Du hältst den Mund“, blaffte Juliette ihren Gemahl an.

Zwar starrte Lazarus sie zornig an, gehorchte jedoch.

Juliettes schmaler Blick verweilte auf Strider. „Es ist eine Ehre für ihn, mit mir zusammen zu sein. Klar?“

Ach wirklich? „Natürlich. Ihr zwei wirkt auch total glücklich“, erwiderte er, und seine Stimme troff nur so vor Sarkasmus.

Ihre ohnehin schon scharfen Fingernägel verlängerten sich zu Krallen, und Schwarz blutete in ihre Augen. Ja, herrlich. Ihre Harpyie war kurz davor herauszukommen und zu spielen.

Strider legte noch mal nach, solange er noch konnte. „Na ja, für mich ist es wirklich eine Ehre, mit Kaia zusammen zu sein. Und falls du noch so einen Trick versuchst wie beim ersten Wettkampf, als du alle gleichzeitig auf sie gehetzt hast, werde ich das als persönliche Herausforderung verstehen. Bei deiner Recherche hast du doch sicher herausgefunden, was mit denen passiert, die mich herausfordern, nicht wahr?“

Noch mehr Schwarz, das Weiße in ihren Augen war fast vollständig verschwunden. Bis Lazarus ihre Hand tätschelte. Das reichte. Eine einzige Berührung. Allmählich zog sich das Schwarz zurück, und ihre Fingernägel nahmen wieder normale Ausmaße an.

Strider hatte Sabin schon mehrmals dabei beobachtet, wie er Gwen beruhigte, doch zum ersten Mal war er überwältigt von der Macht, die ein Gemahl über seine Harpyie hatte. Überwältigt davon, wie sehr eine Harpyie ihren Gemahl brauchte.

Nur war Lazarus ganz offensichtlich ein Sklave, der gewaltsam festgehalten wurde. Warum also hatte er die Frau beruhigt, die ihn versklavt hatte? Sollte ihre Verärgerung ihn nicht eigentlich freuen? Und weiter: Wie war es Juliette gelungen, ihn gefangen zu nehmen? Nicht nur einmal, sondern zweimal? Der Mann hatte sich einst einen Weg durch ein ganzes Harpyiendorf geschlagen und war als Sieger hervorgegangen. Zum Teufel, er war der Sohn von Typhon und einer Gorgone, was bedeutete, dass er unvorstellbare Kräfte besaß.

Hatte er ihr erlaubt, ihn zu fangen? Das schien die einzig sinnvolle Erklärung zu sein. Aber warum hätte er so etwas tun sollen?

So viele Fragen, und auf keine wusste er eine Antwort. Strider nahm sich vor, Torin anzurufen und den Hüter von Krankheit zu bitten, ein wenig am Computer zu zaubern. Vielleicht konnte er irgendetwas Brauchbares ausgraben. Denn eines war sonnenklar: Hier war irgendetwas im Busch.

„Du kannst mir nichts tun, Krieger.“ Wieder Herrin über ihre Sinne, lächelte Juliette ihr selbstgefälliges Lächeln. „Nicht, ohne Kaia Schmach zu bereiten. Alle würden sie als die schwache Verliererin sehen, die sie ist.“ Sie machte eine dramatische Pause, ehe sie in einem Singsang hinzufügte: „Wieder einmal.“

Genau das hatte Kaia ihm einst gesagt. Zwar hatte er ihr geglaubt, doch er hatte die Bedeutung ihrer Gefühle vor dem Hintergrund seiner eigenen Ziele abgewertet. Und das tat er noch – Leben und Tod übertrumpften verletzte Gefühle immer. Aber jetzt war er stinksauer.

Gewinnen, forderte Niederlage und knurrte bedrohlich.

Strider wusste, was sein Dämon wollte. Mit Vergnügen. Vor Ende der Spiele würde Strider Juliette „irgendetwas“ antun, ohne Kaia Schmach zu bereiten. Herausforderung ausgesprochen, Herausforderung angenommen.

Aus genau diesem Grund müsste er sich von der Frau fernhalten. Und dennoch tat es ihm nicht leid, dass er zu ihr gegangen war. Er war sogar froh. Die Hexe würde für alles bezahlen, was sie heute gesagt hatte, sowie für alles, was sie in der Vergangenheit getan hatte.

„Das werden wir ja sehen“, erwiderte er ebenfalls grinsend. Seine Liste angenommener Herausforderungen wurde immer länger. Kaia vor anderen Harpyien beschützen – eine Herausforderung, die er fast verloren hätte, wenn sie sich nicht von ihren Verletzungen erholt hätte. Denn nur weil sie sich erholt hatte, wegen seines Blutes, lief er immer noch schmerzfrei herum. Nur deshalb war seine Mission, sich die Zweiadrige Rute anzueignen, noch im Gang. Und nun kam noch eine Mission hinzu: Juliette vernichten.

„Allerdings werden wir das“, entgegnete Juliette. „Ach, noch was, Krieger. Du solltest etwas wissen: Wenn man mir die Rute stiehlt oder ich verletzt werde, bevor die Spiele zu Ende sind, wird Kaia getötet. Mein Clan kann es kaum erwarten, zu handeln.“

Sie versuchte, ihm die Hände zu fesseln, und sie machte ihren Job gut, verdammt. Wie könnte er Kaia vor einer ganzen Harpyienarmee beschützen? Bei dem Gedanken brach ihm der kalte Schweiß aus.

Endlich hörte der Gesang – Krach – auf.

Plötzlich herrschte absolute Stille, als hätten alle Angst, mit dem falschen Geräusch ein neues Lied zu provozieren. Aber nein. Schritte waren zu hören, und dann zog Kaia einen Stuhl an den Tisch.

„Strider“, sagte sie streng.

„Baby Doll“, erwiderte er, in der Hoffnung, seine Angst überspielen zu können.

„Den Göttern sei Dank“, meinte Juliette mit unerschütterlicher Belustigung. „Dein Gesang war grauenhaft. Meine Ohren brauchten dringend eine Pause.“

Strider legte Kaia die Hand in den Nacken und massierte sie sanft. Ruhig. „Ich finde, sie klang wundervoll.“

Kaia hob das Kinn. „Danke.“

„Im Ernst, Baby Doll. Ich könnte dir noch stundenlang zuhören.“ Aber bitte erspare es mir.

Niederlage hätte wimmern können.

„Das liegt daran, dass du ein Mann mit Geschmack bist.“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Der Abdruck ihres Mundes brannte herrlich, und er konnte dem Drang, die Stelle zu streicheln, nur mit aller Kraft widerstehen. Als sie Anstalten machte, sich von ihm weg zu bewegen, hielt er sie fester. Es gefiel ihm, sie so nah bei sich zu haben. Ganz besonders jetzt, da ihm Juliettes Drohung in den ohnehin schon geschundenen Ohren klang.

Einen Moment lang sah Kaia ihn an, und ein Schleier der Verwirrung verdunkelte ihr Gesicht. Dann setzte sie wieder eine gelangweilt-erwartungsvolle Miene auf und wandte sich erneut ihrer Erzfeindin zu. Erfreut stellte er fest, dass Juliette den zärtlichen Austausch bemerkt hatte und ihre lavendelfarbenen Augen vor Wut funkelten.

„Dem kann ich nur beipflichten. Ihr zuzuhören war das pure Vergnügen“, sagte Lazarus, womit er sich erst zum zweiten Mal zu Wort meldete. Zuvor war seine Stimme tief und wenig bemerkenswert gewesen. Jetzt war sie hypnotisch. Sinnlich. „Kaia die … Stärkste, oder?“

Strider packte den Griff des Dolches, den er an der Seite trug. Auf Wiedersehen abgestumpfte Wut. Hallo wiederkehrender, noch intensiverer Hass. Wag es ja nicht, noch einmal so mit ihr zu sprechen.

Juliette lachte. „Hat sie sich so genannt? Die Stärkste?“

Kaias Wangen wurden rot. „Und du bist Lazarus der Tampon, nicht wahr?“

Juliette prustete zornig.

Lazarus blinzelte bloß. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du und deine Schwester mich so nennt, und ich will euch schon seit Langem fragen, warum ihr mich mit einem Hygieneartikel für Frauen vergleicht. Weil ich euch zum Bluten gebracht habe?“

Vor lauter Zorn geriet Kaia ins Stottern. „Du … du … Lern du erst mal, wie man richtig auf eine Beleidigung reagiert, verflucht!“

Er neigte zustimmend sein Haupt. „Ich werde mich natürlich bemühen, dich zu erfreuen.“

Strider und Juliette reagierten beide gleich auf die Worte dieses Bastards: mit Wut. Gleichzeitig sprangen sie auf. Ihr Stuhl glitt hinter ihr weg. Seiner blieb zwischen seinen Beinen stehen. Amun und Sabin traten näher an ihn heran. Kaia, die immer noch auf ihrem Stuhl hockte, schob sie wieder zurück, wodurch sie klarmachte, dass sie als Striders Schild fungieren wollte. Und als sein Schwert.

Lazarus erhob sich ebenfalls. „Es ist wohl Zeit zu gehen. So sagen die Menschen doch, oder?“ Er klang kein bisschen besorgt.

„Das …“, fing Juliette harsch an.

„Eigentlich wollte ich etwas Wichtiges mit dir besprechen, Julie“, fiel Kaia ihr ins Wort.

„Juliette.“ Ihre lavendelfarbenen Augen wurden dunkelviolett. „Mein Name ist Juliette die Ausmerzerin. Du wirst mich mit dem angemessenen Respekt ansprechen.“

„Meinetwegen. Auf jeden Fall ist es schade, dass du nicht an den Wettkämpfen teilnehmen kannst. Man könnte fast denken, du hast die Position der Leiterin angenommen, weil du Angst hast zu kämpfen.“

Ein empörtes Keuchen. Das Schwarz kehrte in ihre Augen zurück und löschte jegliche Farbe aus. „Ich habe die Position der Leiterin angenommen, damit ich endlich …“

„Nein“, sagte Lazarus so kräftig, dass die Wände der Bar wackelten. „Genug jetzt.“

Endlich. Ein Aufflackern seiner Macht. Und, ja – hier war auf jeden Fall was im Busch.

Juliette wurde blass und räusperte sich. „Was ich sagen wollte, ist, dass sich da mit Sicherheit etwas arrangieren lässt. Wenn du gegen mich kämpfen willst, kämpfen wir. Aber auch wenn du es nicht willst, wirst du es am Ende tun müssen. Du hast mich vor all den Jahren herausgefordert, aber ich durfte nie darauf eingehen.“

„Weil du zu feige warst?“

„Erstens“, knurrte die Hexe, „mussten wir uns von dem Schaden erholen, den du angerichtet hattest.“

„Ich? Und was ist mit ihm?“ Sie zeigte mit dem Daumen auf Lazarus.

„Die Antwort kennst du. Sein Verhalten war nur eine Reaktion auf dein Verhalten. Und jetzt halt die Klappe und hör zu. Zweitens mussten wir unseren Clan wieder aufstocken, weshalb es uns verboten war, eine Harpyie außerhalb der Spiele zu töten. Und drittens hätte deine Mutter meinen Leuten den Krieg erklärt.“ Die Wut verschwand und wurde einmal mehr von der selbstgefälligen Überlegenheit ersetzt. „Aber diese drei Dinge stehen uns jetzt ja nicht mehr im Weg.“

Bei der Erinnerung an den mütterlichen Verrat zuckte Kaia zusammen.

Juliette zog eine Kette aus ihrem Shirt und betastete das Holzmedaillon, das daran hing. „Hübsch, nicht wahr?“

Kaia konnte das Zittern ihres Kinns nicht verbergen, als sie sich den Anhänger ansah. „Hab schon Schönere gesehen.“

Das ist mein Mädchen. Offensichtlich verletzte der Anblick des Medaillons sie, und Juliette kannte den Grund. Jetzt wollte er den Grund erfahren. Trotzdem, das war sein Baby Doll. Sie musste immer das letzte Wort haben. Um jeden Preis. Er konnte ihr das nicht vorwerfen, war sogar stolz auf sie. Erregt von ihr.

Er hatte immer gedacht, dieser Teil ihrer Persönlichkeit könnte ihm gefährlich werden, und das konnte er auch – aber verdammt, wenn sie dieses Verhalten anderen gegenüber an den Tag legte, hätte er sich am liebsten wie ein Neandertaler auf die Brust getrommelt. Sie vielleicht sogar in seine Höhle geschleppt und es wild mit ihr getrieben.

Vielleicht? Ha! Er wollte diese Frau dominieren, die sonst niemand beherrschen konnte. Die Frau, die jedem anderen die Augen auskratzte, die ihn aber zärtlicher als zärtlich behandelte.

Noch ehe Juliette sich eine verletzende Antwort überlegen konnte, hielten alle Harpyien in der Bar – selbst Kaia – inne und setzten einen finsteren Blick auf.

„Was?“, fragte Strider beunruhigt.

Er bekam keine Antwort. Synchron holten die Frauen ihre Handys hervor. Kaia las den Text auf dem kleinen Display und erstarrte.

„Der nächste Austragungsort wurde bekannt gegeben“, sagte sie emotionslos. „Wir haben vierundzwanzig Stunden, um dorthin zu kommen.“

Juliette lachte leise. Obwohl sie die Leiterin war, hatte auch sie auf ihr Handy geschaut. Sollte sie nicht schon längst wissen, wohin es ging? „Die arme Kaia steht vor einer sehr schweren Entscheidung, nicht wahr?“, murmelte sie, ehe sie rief: „Lasst uns gehen, Leute.“

Endlich stapften die Eagleshields samt ihrer Gemahle, inklusive Lazarus, aus der Bar. Juliette blieb in der Tür stehen und warf Kaia ein Lächeln zu. „Wirklich schade, dass du dich dieses Mal nicht hinter deinen Freunden verstecken können wirst, nicht?“ Damit schlüpfte sie hinaus ins Sonnenlicht.

„Was geht hier vor?“, fragte Strider mit Nachdruck und zwang sie, ihn anzusehen. Warum glaubte Juliette, dass er nicht mitgehen könnte?

„Wir müssen gehen“, flüsterte sie gequält.

Wir. Gut. „Ich hole meine Sachen.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre roten Locken streiften ihre Schultern, seine Hand. Sie sah ihm nicht in die Augen. „Wir. Das heißt, meine Schwestern und ich. Juliette hatte recht. Du und deine Freunde, ihr könnt nicht mitkommen.“

Von wegen. „Warum? Wohin geht ihr – gehen wir?“

Sie seufzte schwer. „Zur Odynia. Besser bekannt als Heras Garten des Abschieds. Sie hat den Ort einst genutzt, um sich ihrer Gegner zu entledigen, ohne selbst eine Hand gegen sie erheben zu müssen. Natürlich hat Rhea dort heute das Sagen, weshalb ich davon ausgehe, dass sie unsere Gastgeberin sein wird.“

Rhea, die Götterkönigin der Titanen und wahre Anführerin der Jäger. Weitaus gefährlicher und weitaus mächtiger, als Galen jemals zu sein hoffen konnte. Wenn Strider zu diesem Teil der Spiele erschiene, würde er höchstwahrscheinlich schnurstracks in eine Falle tappen. Wenn er zurückbliebe, könnte Kaia verletzt werden, und er wäre nicht in der Lage, zu ihr zu gelangen und ihr beim Heilen zu helfen.

So oder so würden sie einander Lebewohl sagen.