4. KAPITEL
Den nächsten Vormittag verbrachte Strider damit, durch die Burg zu streifen und nach seinen Freunden zu sehen. Er tat alles, um sich von den Gedanken an Kaia und daran, wie traurig sie kurz vor seinem Gehen geklungen hatte, abzulenken. Und davon, wie sehr er sich danach gesehnt hatte, sie in die Arme zu ziehen, festzuhalten und zu trösten. Zu verschlingen.
Denk an etwas anderes.
Legion, eine verdorbene, waschechte Dämonen-Lakaiin, die sich zuerst in einen verdorbenen Menschen mit dem Körper eines Pornostars, dann in eine gefolterte Gefangene Luzifers und schließlich in eine kleinlaute, ans Bett gefesselte Jungfrau verwandelt hatte, drehte sich so auf die Seite, dass sie ihm den Rücken zuwandte, als er ihr Zimmer betrat.
Ihr Körper hatte sich von der höllischen Gefangenschaft erholt. Doch ihr Geist würde sich womöglich niemals erholen. Mehrere Wochen lang war sie von einem dämonischen Hohen Herren zum nächsten gereicht und vergewaltigt und geschlagen worden – und allein die Götter wussten, was sonst noch. Niemand wusste Genaueres, da sie sich weigerte, darüber zu sprechen.
„Hallo, Prinzessin.“ Strider setzte sich neben sie aufs Bett und tätschelte ihre Schulter. Sie zuckte unter der Berührung zusammen. Seufzend nahm er die Hand weg.
Er besuchte sie nicht gern. Nicht etwa, weil er sie nicht mochte. Im Gegenteil: Es tat ihm sogar entsetzlich leid, welche Qualen sie erlitten hatte. Aber er hatte Angst, dass Niederlage ihre emotionale Distanz als Herausforderung begreifen und ihn zwingen würde, sie zu mehr zu drängen. Zu mehr, als sie bereit war zu geben.
Sie brauchte Hilfe, und ihr engster Freund Aeron und sein Glück bringender Engel Olivia gaben sich wirklich alle Mühe. Doch bislang hatte Legion auf niemanden positiv reagiert. Sie aß nur schlecht und wurde langsam, aber sicher immer schwächer. Strider wusste, dass ein Schutzengel über sie wachte, auch wenn er den Kerl noch nie gesehen hatte. Aber eins war sicher: Der unsichtbare Bastard machte seinen Job alles andere als gut.
Zugegeben – Legion war eine egoistische Nervensäge gewesen, aber das hier hatte sie nicht verdient. Trotz aller Kapriolen hatte sie Strider vorher besser gefallen.
„Wusstest du, dass das, was dir zugestoßen ist, auch schon einigen von uns passiert ist? Kane sogar schon mehrmals. Seit er von Katastrophe besessen ist, zieht er solche Sachen wie ein Magnet an. Und das sage ich jetzt nicht, weil ich tratschen oder intime Geheimnisse ausplaudern will. Als wir in New York lebten, hat er eine Selbsthilfegruppe geleitet, um anderen zu helfen. Vielleicht solltest du mal, keine Ahnung, mit ihm sprechen oder so.“
Schweigen.
Ihre blonden Haare waren verfilzt und stumpf. Auf ihrer Haut lag ein kränklicher grauer Schleier. Und er wusste, dass ihre Schultern unter dem weißen Stoff ihres Nachthemdes eingefallen waren.
„Einmal haben Paris und ich sogar … Moment. Jetzt tratsche ich doch. Ist sowieso unwichtig. Du musst Paris fragen, wenn du dieses Schmankerl hören willst.“
Schweigen. Von ihr und von seinem Dämon. Obwohl sie eine Herausforderung darstellte, zeigte Niederlage sich gleichgültig.
Er zog ihr die Bettdecke bis zum Kinn und sah, wie eine glitzernde Träne an ihrer Wange hinunterlief.
Also gut. „Ich wollte nur nach dir sehen, aber da ich weiß, dass du dich in meiner Gegenwart unwohl fühlst, gehe ich besser wieder“, sagte er sanft. Sie konnte sich nicht entspannen, solange er hier war, und er wollte es ihr nicht noch schwerer machen.
Wieder Schweigen. Er seufzte abermals, als er aufstand. „Ruf mich, wenn du etwas brauchst, ja? Egal, was es ist. Ich helfe dir gern.“
Wieder kam keine Antwort – weder von Legion noch von seinem Dämon. Er fragte sich, was mit seinem – abgelenkten? sich versteckenden? gleichgültigen? – Gefährten los war, während er zu seiner nächsten Station schlenderte. Amuns Zimmer.
Obwohl er und Amun – und zur Hölle, sogar er und Haidee – gut miteinander auskamen, hatte er den Kontakt zu ihnen mehr als eine Woche vermieden. Allein wenn er Haidee ansah, tanzten Abertausende schmerzende Funken in seiner Brust. Nicht weil er sie immer noch wollte, sondern weil er sie verloren hatte. Weil er sie nie haben und weil sein Dämon niemals vergessen könnte, was sie wegen ihrer Zurückweisung durchgemacht hatten.
Haidee öffnete die Tür, und er musterte sie aus purer Gewohnheit. Sie war durchschnittlich groß und hatte blonde Haare mit pinkfarbenen Strähnen. In einer Augenbraue trug sie ein Piercing und ein Arm war lückenlos mit Tätowierungen bedeckt. Mit dem Hello-Kitty-T-Shirt und der zerfetzten Jeans würde sie in jeder Bar nach ihrem Ausweis gefragt.
Als sie ihn sah, verfinsterte sich ihr Blick, und sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Trotz der düsteren Miene schien sie von innen zu leuchten, und zwar vor … er verzog das Gesicht. Was zur Hölle war das?
Hätte man ihm die Mündung einer 10-mm-Waffe in den Mund gesteckt und befohlen zu raten, wenn er nicht sterben wollte, hätte Strider gesagt, aus ihren Poren sickerte die Liebe in ihrer reinsten Form. Es tat beinahe weh, sie anzusehen, sosehr strahlte sie.
Verdammt. „Bist du schwanger?“
„Nein.“ Ein geheimnisvolles Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Na toll. Sie hatte sich schon Amuns Alles-ist-ein-Geheimnis-Ausstrahlung zu eigen gemacht. „Was gibt’s?“
Strider war darauf gefasst, noch mehr Schmerz zu verspüren – insbesondere bei diesem Glanz, der ihm schier die Hornhaut versengte – und rieb sich mit der Hand übers Herz, aber … nichts. Das Organ setzte nicht einen Schlag aus. Na schön. Dann also los.
Er sah sich im Zimmer um. Haidee hatte die Dekoration in die Hand genommen, weshalb es hier nicht mehr wie in einer Höhle aus Vanilleeis aussah – eintönig, schmucklos und ohne Persönlichkeit.
Haidee mochte offensichtlich einen zeitgenössischen Stil mit japanischem Flair. Er bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. Laternenähnliche Lampen hingen von der Decke herab. Die Wände waren jetzt braun und orange, und die Farben waren so angeordnet, dass sie ein Kastenmuster bildeten. In jeder Ecke schienen Bonsais zu sprießen, und unter drei gläsernen Nachttischchen erstreckten sich weiße Wollteppiche. Weißer Teppich. Hatte sie denn nicht gesehen, wie viel Dreck Kriegerstiefel hereintragen konnten? Die Bettdecke war ebenfalls weiß und mit orangefarbenen Perlenkissen geschmückt.
Wenn sie diesen Mist in seinem Zimmer probiert hätte, hätten sie ein ernsthaftes Problem gehabt. Wenn ein Mann sich entspannen wollte, musste er sich in seiner Umgebung wohlfühlen. Und das hier war definitiv keine Wohlfühlatmosphäre.
Strider hatte erst ein Mal mit einer Frau „zusammengelebt“, und das auch nur, weil sie ihn herausgefordert hatte, bei ihr einzuziehen. Ich weiß, dass ich dich glücklich machen kann, wenn du jede Nacht zu mir nach Hause kommst. Aber kannst du mich auch glücklich machen? Ich schätze, das werden wir noch herausfinden.
Nach einigen Wochen des Zusammenlebens hatte er die Niederlage bereitwillig hingenommen. Er hatte sie nicht glücklich machen können, weil er sie nicht glücklich machen wollte.
Er dachte an Kaias Wohnung und ihren Dekostil. Das war mal eine Frau, die wusste, wie man einen Ort behaglich und lustig gestaltete. Sie hatte sogar eine Toilette, die wie ein geöffneter Mund aussah. Ich will.
Haidee räusperte sich. „Strider?“ Er drehte sich zu ihr um. „Was?“ Als er in ihr erwartungsvolles Gesicht blickte, das durch das, was auch immer sie ausstrahlte, ganz weich war, fiel ihm wieder ein, dass er zu ihr gekommen war und nicht andersrum. „Ach ja, ähm. Wo ist Amun?“
„Cronus hat ihn in den Himmel bestellt.“
„Warum?“
Noch ein geheimnisvolles Lächeln. „Weiß ich noch nicht.“
„Wie lange ist er schon weg?“
„Drei Stunden, neunzehn Minuten und achtundvierzig Sekunden. Nicht, dass ich die Uhr hypnotisiere oder so. Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nee.“ Er hatte seinen Freund einfach nur sehen wollen, nach allem, was Strider ihm angetan hatte … Er hatte versucht, Amun und Haidee voneinander fernzuhalten … Diese Schuldgefühle – manchmal fraßen sie ihn regelrecht auf. „Ich, äh, komme einfach später noch mal vorbei.“
Sie zog irritiert die Augenbraue hoch. Und besorgt? Ja. Das war Sorge. „Bist du sicher?“
Eigentlich hätte er nicht überrascht sein sollen, aber … sie hatte Baden getötet, den Hüter von Misstrauen. Sie hatte versucht, Strider zu töten. Und für beides hatte sie sehr gute Gründe gehabt. Vor langer, langer Zeit hatten die Herren dabei geholfen, ihre Familie zu vernichten, und damit ihr Leben zerstört. Hölle, wegen eines Dämons war sie wieder und wieder getötet worden.
Jedes Mal, wenn sie zurückgekommen war, hatte sie sich nur an ihren Hass und an den Tod jener erinnert, die sie einst geliebt hatte. Hatte nur nach Rache gesucht. Und das ergab durchaus einen Sinn, denn immerhin war sie von einem Teil des Dämons Hass besessen gewesen. Und vielleicht war das noch ein Grund dafür, dass Strider sie gewollt hatte. Wegen dieses Teils von Hass hatten andere sich selbst und Haidee nicht gemocht. Strider hatte diese Abneigung schnell überwunden, hatte sie besiegt. Und deshalb – so seine Vermutung – war es für ihn und seinen eigenen Dämon wie ein Rausch gewesen, mit ihr zusammen zu sein.
Dass sie nun Amun liebte, dass sie die Herren nun in ihrer Sache unterstützte, nun ja, das war ein Wunder, das zu hinterfragen Strider unbedingt aufhören musste.
„Ja, ganz sicher.“ Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Noch nie zuvor hatte er von sich aus Kontakt gesucht, wenn nicht Messer im Spiel waren. „Bis dann, Haidee.“
Ihr fiel die Kinnlade herunter, und sie stammelte: „Ja. Bis dann.“ Noch nie war er so nett zu ihr gewesen.
Anscheinend wurde er auf seine alten Tage noch weich.
Als Nächstes stand er in der Tür zu Sabins Zimmer und aß dabei eine Handvoll Red Hots nach der anderen. Er hatte in jeder Ecke der Burg ein geheimes Depot von diesen scharfen Zimtkaubonbons, die er so liebte. Er sah seinem Freund dabei zu, wie er allen möglichen Mist in einen Koffer warf. Seine Frau Gwen wuselte um ihn herum und versuchte halbherzig, die Kleiderberge zusammenzufalten, die Sabin zusammengeknüllt hatte, die Waffen zu stapeln, die er nur teilweise in Scheiden gesteckt hatte, und zum dritten Mal das Megafon aus dem Koffer zu nehmen.
Früher hatten die Harpyien sie Gwendolyn die Schüchterne genannt. Strider wusste nicht, wie sie sie jetzt nannten, aber dieser Spitzname passte auf keinen Fall mehr zu ihr. Das kleine Energiebündel hatte sich gemacht und sogar Kaia in den Hintern getreten, indem sie sie in den Kerker gesperrt und daran gehindert hatte, Sabin die Haut abzuziehen und als Siegesmantel zu tragen.
Kaia.
Sein Herz setzte einen dämlichen Schlag lang aus, und er fühlte sich wie ein verknallter Schuljunge. Etwas, das er nie gewesen war. Zeus hatte ihn als erwachsenen Mann geschaffen, als Waffe, die einsatzbereit war gegen jeden, der den ehemaligen Götterkönig und seine Lieben bedrohte. Selbst damals, bevor man Strider seinen Dämon zugeteilt hatte, hatte er den Sieg geliebt und jeden plattgemacht, der ihm in die Quere gekommen war.
Was war schon verführerisch an einer Niederlage? Nichts.
Sein Dämon brummte einvernehmlich.
Strider konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung, bevor der kleine Scheißer anfing, ihn herumzuschubsen. Während er Gwen beobachtete, merkte er, wie sehr sie ihrer älteren Schwester ähnelte.
Kaia.
Und da wären wir wieder. Gwen hatte dicke blonde Haare mit roten Strähnen – es war die gleiche Rotnuance wie bei Kaias Haaren. Aber wenn er ehrlich war, waren Kaias Haare schöner. Welliger und seidiger. Und während Gwens Augen eine faszinierende Mischung aus Grau und Gold waren – so wie Kaias – waren Kaias Augen doch schöner. Bei ihr sah das Grau fast aus wie flüssiges Silber und das Gold, tja, das Gold flackerte wie Glühwürmchen.
Was bist du? Eine Memme? Hör auf, den Poeten zu spielen. Egal. Wenn Kaias Harpyie die Kontrolle übernahm, bekam sie pechschwarze Augen, in deren Tiefe der Tod schwamm. Doch wenn er auch hier ehrlich war, fand er sogar das sexy.
Gwen und Kaia hatten die gleiche Stupsnase, die gleichen Pausbäckchen und das gleich sture Kinn. Und dennoch war Kaia die leibhaftige Sünde und Gwen die wandelnde Unschuld. Das ergab keinen Sinn. Trotzdem ließ ihn die Ähnlichkeit alles andere als kalt.
Er zwang seinen Körper mit aller Willenskraft, unbeeindruckt zu bleiben. Sabin würde sich furchtbar aufregen, wenn Strider in Gegenwart seiner Herzdame einen Ständer präsentierte. Und natürlich bedeutete „sich aufregen“, dass Strider sich mit seinen Innereien um den Hals geschlungen wiederfände und Atmen ein Privileg vergangener Tage wäre.
Nur zu, dachte er.
Das leise Lachen von Niederlage schreckte ihn auf.
Angespannt wartete er darauf, dass eine Herausforderung ausgesprochen würde. Aber nichts geschah. Süße Götter im Himmel, er musste vorsichtiger sein. Keine Beinahe-Herausforderungen mehr.
Was machte er hier überhaupt? Sollte er nicht im Himmel bei Paris sein? Sollte er nicht mit William in Nebraska sein und die Familie foltern, die Gilly misshandelt hatte, eine Menschenfrau, mit der sie sich angefreundet hatten? Sollte er nicht da draußen sein und Jäger töten? Sollte er nicht in Rom sein und mit den Unaussprechlichen verhandeln – mit den Ungeheuern, die in einem antiken Tempel festgekettet waren und sich verzweifelt die Freiheit wünschten?
Er hatte ihnen eins der vier göttlichen Artefakte gegeben, die nötig waren, um die Büchse der Pandora zu finden und zu vernichten. Ein Relikt, nach dem die Jäger ebenfalls suchten.
Die Unaussprechlichen hatten die Zweiadrige Rute und den Tarnumhang, die Herren den Zwangskäfig und das Allsehende Auge. Somit stand es Herren: 2, Jäger: 0. Juchhu!
Die Unaussprechlichen waren an den Artefakten an sich überhaupt nicht interessiert. Für sie war einzig interessant, gegen was sie die Artefakte eintauschen konnten. Derjenige, der ihnen den Kopf des momentanen Götterkönigs präsentierte (abzüglich des Körpers), bekäme im Gegenzug die Zweiadrige Rute, sodass sie nur noch den Umhang hätten. Den Umhang, den Strider schon mal besessen, dann aber gegen Haidee eingetauscht hatte.
Damals hatte ihm der Tausch nichts ausgemacht, weil er sich verdammt sicher gewesen war, dass die Unaussprechlichen das Ding behalten würden, um später mit ihm zu handeln. Und das war er noch immer. Er wusste zwar, dass er tief in die Tasche greifen müsste, aber das war besser, als wenn er Haidee entkommen lassen und sie seine Geheimnisse mit ihren Jägerfreunden geteilt hätte.
Eigentlich hatte er schon längst zurückgehen wollen, doch dass er Haidee an Amun verloren hatte, hatte ihn länger als eine Woche außer Gefecht gesetzt. Sein Dämon hatte sich vor Schmerzen gekrümmt und gebrodelt wie ein Hexenkessel.
Vielleicht war ich deshalb unfähig, Haidee loszulassen, dachte er nun. Weil der Schmerz so lange nachgehallt hat. Vielleicht ist das der Grund, warum ich Kaia immer noch zurückweise.
Denk nicht mehr an sie, du Vollidiot. Sonst fängst du noch an zu sabbern. Er wies sie zurück, weil sie letztlich auf seinem Stolz, seinem Wohlbefinden und vermutlich sogar auf seinem Lebenswillen herumtrampeln würde.
Musste er daran allen Ernstes noch mal erinnert werden?
Er zwang sich, wieder an die Artefakte zu denken. Strider hatte geschworen, den Umhang zurückzuholen. Und das würde er auch. Bald. Weil nämlich derjenige, der die Büchse der Pandora als Erster fände, den Krieg gewinnen würde, und wenn es etwas gab, das er noch mehr wollte als Kaia – auch wenn er ja gar nicht an sich dachte –, dann war es der Sieg über die Jäger.
Das wäre der ultimative Sieg. Welches Glücksgefühl würde er verspüren … Götter, er konnte es sich nur ansatzweise vorstellen. Besser als Sex oder Drogen.
Egal. Das alles war zwar ohne Zweifel wichtig, aber auf einmal wurde ihm klar, dass er an diesem Vormittag extra allen einen Besuch abgestattet und verschiedene Dinge wiedergutgemacht hatte, damit er gehen und … Verflucht! Nicht gut. Das war gar nicht gut.
Damit er gehen und nach Kaia sehen konnte. Er musste sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Auch wenn er dafür seine Verpflichtungen erneut hintanstellen musste.
Alter, das kannst du nicht machen. Und er würde es auch nicht. Auf keinen Fall! Nun, da er seine Absicht erkannt hatte, konnte er der Sache einen Riegel vorschieben.
„Warum zum Teufel stehst du einfach nur da?“, brüllte Sabin auf einmal. „Sag, was du willst, und hau ab, Stridey-Man. Deinetwegen wird Gwen noch zu einer rasenden Irren.“
„Wenn ich zu einer rasenden Irren werde, dann deinetwegen!“, grummelte sie, als sie abermals das Megafon aus dem Koffer nahm. „Wir brauchen das ganze Zeug nicht.“
„Woher willst du das wissen?“, erwiderte Sabin. Er fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare. Der Goldton in seinen Augen war heller als gewöhnlich. „Du hast noch nie zuvor an den Harpyienspielen teilgenommen. Und damit solltest du auch jetzt nicht anfangen, verdammt noch mal!“
„Du hast Bianka doch gehört. Alle Töchter von Tabitha Skyhawk wurden dorthin zitiert. Und selbst wenn nicht, selbst wenn nur eine Handvoll Angehörige des Clans gerufen worden wären, würde ich trotzdem hingehen. Es geht um meine Familie.“
„Na ja, aber du gehörst jetzt zu meiner Familie.“
„Im Grunde gehörst du jetzt zu meiner Familie, und da ich der General, der Kapitän und der Kommandeur bin, folgst du mir überall hin. Und ich gehe!“
„Fuck.“ Sabin ließ sich auf die Bettkante fallen und steckte den Kopf zwischen die Knie.
„So schlimm?“, fragte Strider, um einen beiläufigen Tonfall bemüht. Ich sterbe nicht vor Neugier. Ehrlich nicht.
Kaia hatte am Vortag versucht, ihre Angst zu verstecken, doch das war ihr nicht so ganz gelungen. Als er ihre Reise erwähnt hatte, hatte sie zu zittern angefangen und war ganz blass geworden. Eigentlich hätte ihm das nicht auffallen dürfen, denn er hatte ihr ja den Rücken zugewandt. Aber in den Vorhängen war ein Spalt gewesen, sodass er ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe hatte sehen können. Und er hatte ganz genau hingesehen.
Sie hatte wie ein Diamant gefunkelt und seine Blicke magnetisch angezogen, und er war so wild darauf gewesen, sie zu berühren, dass sein Körper innerlich gebrannt hatte.
Harpyienhaut … Es gab nichts Exquisiteres. Trotzdem war es komisch, dass er niemals das Verlangen verspürt hatte, Gwen, Bianka oder Taliyah so zu streicheln und zu schmecken, wie er Kaia streicheln und schmecken wollte.
Aber er dachte ja gar nicht mehr an sie.
Niederlage stieß abermals ein leises Lachen aus, und Strider erstarrte. Doch als der kleine Scheißer weder antwortete, noch sich herausfordern ließ, entspannte er sich ein wenig. Verflucht. Was zum Teufel war nur mit seinem Dämon los?
Gwen kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Bianka hat mir erzählt, die Spiele seien so brutal, dass die Hälfte der Teilnehmerinnen am Ende tot ist oder betet, bald zu sterben. Und ein Mal, vor über tausendfünfhundert Jahren, ist mehr als die Hälfte gestorben. Oder besser gesagt: fast alle.“
Strider richtete sich ruckartig auf und das Blut gefror ihm in den Adern. „Was? Wieso?“
„Mehr hat sie mir nicht gesagt, also sieh mich nicht an, als würdest du mir die Kehle durchschneiden, wenn ich nicht augenblicklich auspacke“, erwiderte Gwen, ehe sie hinzufügte: „Aber übertrieben hat sie nicht. Ach ja, warte. Etwas hat sie mir doch noch erzählt. Offensichtlich war es den Skyhawks jahrhundertelang nicht gestattet, an den Spielen teilzunehmen, weil Kaia irgendwas getan hat – auch wenn mir niemand verraten will, was. In unserem Clan hat niemand jemals darüber gesprochen, und zu den Frauen anderer Clans hatte ich keinen richtigen Kontakt. Die haben uns immer gemieden. Aber jetzt empfangen sie uns plötzlich wieder mit offenen Armen. Es ist seltsam, und es gefällt mir nicht, aber ich werde meine Schwestern gewiss nicht alleine in feindliches Terrain ziehen lassen.“
Striders Gedanken blieben an einem einzigen Detail hängen: Kaia hatte den Tumult verursacht. Was hatte die bezaubernde Unruhestifterin bloß getan?
„Ach ja, und noch etwas: Bianka denkt, dass es eine Falle ist.“ Gwen richtete Sabin auf und setzte sich auf seinen Schoß. Automatisch schlang der Krieger die Arme um sie und hielt sie fest. „Sie denkt, die Skyhawks – und insbesondere Kaia – werden als Zielscheiben für die Rachegelüste der anderen dienen.“
Kaia … eine Zielscheibe für jede nachtragende Harpyie … Nun erhitzte sich sein Blut aus einem anderen Grund: in seinem Innern kochte ein wahres Inferno. „Dürfen Männer auch dorthin?“
„Gemahle und Sklaven ja, und sie dürfen die Harpyien nicht nur begleiten, sie werden sogar dazu ermuntert. Blut ist für Harpyien wie Medizin, und die Gemahle und Sklaven helfen den verletzten Teilnehmerinnen zu heilen.“
„Hat Kaia einen … Sklaven?“, krächzte er. Einerseits wollte er, dass sie einen hatte, damit sie sicher war, andererseits verspürte er jetzt schon den Drang, den elenden Scheißkerl umzubringen.
Niederlage knurrte – und diesmal klang es weder heiter noch ängstlich.
Das ist keine Herausforderung, Kumpel. Oder war sein Dämon beunruhigt von der Vorstellung, dass jemand anderes außer Strider Kaia verletzen könnte?
Auf kranke, verworrene Art ergab das sogar einen Sinn. Seine Besitzgier war hoch entwickelt – vor allem bei seinen Feinden, aber auch bei seinen Freunden. Und Kaia war ein bisschen von beidem.
Zum Glück gab Niederlage keine Antwort. Strider konnte auf eine zusätzliche Komplikation gut verzichten, und die hätte es bedeutet, wenn er nun auch noch gegen Kaia und/oder jeden, der sie herausforderte, hätte kämpfen müssen. Ihr Wohl lag nicht in seiner Verantwortung. Sie war nicht sein Problem.
„Nein“, antwortete Gwen schließlich mit trauriger Stimme. „Kaia hat keinen Sklaven.“
Welche Erleichterung. „Dann werden wir ihr einen suchen.“ Welche Wut.
„Nein.“ Die erdbeerblonden Strähnen schlugen gegen ihre Wangen, als sie den Kopf schüttelte. „Sie denkt, dass du ihr Gemahl bist.“
Ja, irgendwann hatte Kaia tatsächlich schon einmal so etwas in der Art zu ihm gesagt. Und er hatte ihr geglaubt, dass sie das glaubte. Aber er hatte auch geglaubt, dass sie sich irrte und ihn in Wahrheit einfach nur attraktiv fand. Obwohl es ein „einfach nur attraktiv“ für sie nicht gab. Sie wollte für sich nur das Beste vom Besten, und er konnte ihr nicht verübeln, dass …
Ego-Alarm. Mit der freien Hand massierte er sich den Nacken. Neue Formulierung: Sie wollte jemanden, der stark, kompetent und gut aussehend war. Mist. Ego-Alarm, dachte er wieder. Sie hatte jemanden, etwas gewollt, das gut aussah.
Nein. Das funktionierte nicht. Eine Tatsache war eine Tatsache, und daran führte kein Weg vorbei. Sie hatte jemanden gewollt, der extrem gut aussah, und er entsprach ihren Anforderungen. Nur …
Paris war besser aussehend.
Besser aussehend – der Ausdruck existierte nicht einmal, oder? Doch, wahrscheinlich schon, und höchstwahrscheinlich hatte man es allein wegen Paris erfunden. „Und?“, fragte er heftiger als beabsichtigt.
„Und sie wird niemand anderen mitnehmen“, plapperte Sabin drauflos. „Harpyien sind verdammt besitzergreifend und stur. Was bedeutet, dass sie genauso sind wie du und unfähig, Kompromisse einzugehen.“
Gwens Blick verfinsterte sich. „He!“
„Tut mir leid, Baby, aber das ist die Wahrheit.“ Mit Blick auf Strider fuhr er fort: „Kaia wird entweder dich mitnehmen oder niemanden. So ist es nun mal.“
„Und deshalb …“ Gwen atmete tief durch, während sie Strider bedrohlich ansah. „Du weißt, dass ich dich gern habe, nicht wahr?“
Er nickte steif. Mist, Mist, Mist. Ihn oder niemanden. Ein Segen und ein Fluch. Dafür hatte er keine Zeit. Er wollte das nicht. Er konnte nicht noch mehr Zeit mit ihr verbringen. Er hatte ihr sogar schon Auf Wiedersehen gesagt.
Ein „Auf Wiedersehen“, das um ein Haar seinen Dämon aufgescheucht hätte. Bei jedem Schritt, den er sich von Kaias Wohnung entfernt hatte, war Niederlage durch seinen Kopf gepirscht, weil er zu gerne gehandelt hätte. Zu gerne hätte er sie festgenagelt und genommen – der Sieg wäre so verdammt süß gewesen –, doch er hatte es sich selbst untersagt. Denn die Niederlage wäre verdammt schmerzhaft gewesen.
Nie war Strider glücklicher darüber gewesen, dass die Dämonen aus der Büchse der Pandora Angst vor den Harpyien hatten. Und das aus gutem Grund, denn sie waren Abkömmlinge von Luzifer, dem Herrn über alles Dämonische.
Außerdem hatte Niederlage Kaia kämpfen gesehen. Welche Waffe sie auch benutzte – ob Pistole, Messer, Krallen oder Fangzähne – sie erledigte ihre Gegner schneller, als das Auge es wahrnehmen konnte. Nette Eigenschaften für eine Frau, mit der man ausgehen wollte, und definitiv ein Aphrodisiakum. Aber nur, solange die eigene Existenz nicht davon abhing, immer siegen zu müssen – wie bei ihm.
Strider aß die letzten Bonbons und warf die leere Tüte in den Abfalleimer neben Sabins Tisch. Yeah. Zwei Punkte.
Niederlage schnurrte zufrieden, und kleine Funken der Befriedigung sausten durch Striders Adern.
„… mir eigentlich zu?“, fragte Gwen.
„Ja klar“, log er und sah sie schnell an. Sie saß nicht mehr auf Sabins Schoß, sondern stand breitbeinig mit in die Hüften gestemmten Fäusten nur wenige Zentimeter vor Strider. Die Pose kam ihm bekannt vor. „Aber, äh, ich glaube, ich hab es nicht ganz verstanden. Du hast gerade gesagt …“
Sie verdrehte die Augen. „Ich habe dir gesagt, dass dir nur noch zwei Tage bleiben, um dich um deine dringlichen Angelegenheiten zu kümmern. Denn obwohl ich dich gern habe, werde ich dafür sorgen, dass du mit zu den Spielen reist. Kaia braucht dich, und du wirst für sie da sein. Sonst …“
Er bedachte Sabin mit einem Blick, der sagte „Und wie hast du vor, mir zu helfen?“ Auf dem Gesicht des anderen Mannes spiegelte sich Mitleid, aber keine Spur von Entschlossenheit oder Wut. Ach so. Sein furchtloser Anführer würde also gar nichts tun. Na toll.
Strider blickte zu Gwen. „Denk nicht einmal daran, mich herauszufordern“, warnte er sie. „Ich werde nicht zögern, mich dafür zu rächen.“ Natürlich wusste er, dass Sabin ihn angreifen würde, wenn er der Frau auch nur einen Kratzer zufügte. Er würde gegen seinen Boss kämpfen müssen, aber zwei Siege mit einer Klappe? Nur zu.
„Als ob ich jemals deinen Dämon gegen dich einsetzen würde“, erwiderte sie und verblüffte ihn damit. „Gott, ich kann nicht glauben, dass du so schlecht von mir denkst.“ Sie klang ehrlich verletzt. Als er gerade den Mund öffnete, um sich zu entschuldigen, sagte sie: „Ich hatte lediglich vor, dich windelweich zu prügeln, zu fesseln und dafür zu sorgen, dass Lucien dich an den Ort des ersten Harpyientreffens beamt. Meine Güte! Du traust mir ja gar nichts zu.“
„Lediglich“, hatte sie gesagt. Er schürzte die Lippen. „Dir ist schon klar, was du anrichten würdest, wenn du mich windelweich prügelst und mich fesselst? Du würdest meinen Dämon gegen mich einsetzen. Die Niederlage würde mich zerstören.“
„Oh.“ Sie schaute ratlos drein. „So weit habe ich gar nicht gedacht.“ Dann hob sie das Kinn, wodurch sie ihn abermals an Kaia erinnerte. „Aber ich werde es trotzdem tun. Also mach dir die Sache selbst leichter und erklär dich bereit, sie zu begleiten. Bitte.“
„Betteln funktioniert bei mir nicht. Genauso wenig wie weinen, nur damit du Bescheid weißt.“ Vor langer Zeit, als er sich noch mit Frauen verabredet hatte, hatte er gelernt, dass Betteln und Weinen Methoden weiblicher Kriegsführung waren. Frauen wollten etwas und taten alles, um es zu bekommen.
Bewundernswert, aber er hatte nicht lange gebraucht, um sein Herz gegen solche Tücken zu panzern. Oder um zu beschließen, dass feste Beziehungen nicht sein Ding waren. So schnell er die Tricks seiner Partnerinnen durchschaut hatte, so schnell hatten sie ihn durchschaut.
Er musste gewinnen, und sie versuchten immer, das zu ihrem Vorteil auszunutzen. Wie oft hatte er verschiedene Varianten von „Ich wette, du kannst nicht den ganzen Tag mit mir verbringen und es genießen“ gehört? Unzählige Male.
„Also?“, drängte Gwen. „Ja oder nein? Auf die nette Tour oder auf die harte?“
„Vier Wochen“, antwortete sie mit unverhohlener Hoffnung in der Stimme.
Seiner Reaktion nach zu urteilen hätte sie auch sagen können „eine Ewigkeit“. Vier Wochen. Vier verdammte Wochen mit Kaia. Sie verpflegen, bewachen und mit seinem Körper beschützen, falls sich die Gelegenheit böte.
Stridey-Monster zuckte vor Eifer. Das ist nichts, worauf man sich freuen sollte, du Idiot. Er würde sie mit seinem Körper beschützen, falls es die Umstände erforderten. Doch selbst die neue Formulierung änderte nichts daran, dass die Schwierigkeiten vorprogrammiert waren. Sich so galant wie möglich in eine Situation hinein- und wieder herauszumanövrieren, das war sein neues Motto, und es tat ihm gut. Denn so hatte niemand Zeit, seine Marotten auszuloten – oder sie gegen ihn einzusetzen.
Kaia allerdings kannte seine Eigenarten bereits und zögerte nie, ihn herauszufordern. Ein Teil von ihm mochte diesen Nervenkitzel, ja. Wenn man nie mitspielte, konnte man auch nicht gewinnen, und bei ihr war alles ein Spiel. Auf der anderen Seite konnte er auch genauso gut verlieren.
„Was ist mit unserem Krieg gegen die Jäger?“, fragte er Sabin. Wenn es irgendwen gab, der genauso gerne gewann wie Strider, war es Sabin. Der Kerl hätte seine eigene Mutter bei eBay versteigert, nur um eine Schlacht zu finanzieren. Das heißt, wenn er eine Mutter gehabt hätte.
„Ich habe schon mit Cronus gesprochen“, entgegnete Sabin. „Galen stellt momentan keine Gefahr dar. Er ist zu stark verletzt, als dass er Probleme machen könnte. Und Rhea ist verschwunden.“
Galen, der unsterbliche, vom Dämon Hoffnung besessene Krieger, der zudem – so wollte es die Ironie – Anführer der Jäger war. Rhea, die hinterhältigste Götterkönigin aller Zeiten, die über die Hälfte des Himmels herrschte. Beide standen ganz oben auf seiner langen Feindesliste.
„Verschwunden? Immer noch?“ Er wusste, dass sie verschwunden war, aber irgendwie war er davon ausgegangen, dass sie in Deckung gegangen war, nachdem ihr Ehemann von ihrem jüngsten Verrat an ihm erfahren hatte – sie hatte ihre Schwester überredet, seine Geliebte zu werden und ihn auszuspionieren – und sie dafür bestrafen wollte. „Ist an der Sache etwas faul?“ Nicht viele Wesen konnten erfolgreich eine Göttin entführen.
„Ja, auch wenn Cronus keine Einzelheiten preisgeben wird.“
Vielleicht weil er keine hatte. Das würde auch erklären, warum Cronus ihren Freund Amun zu sich bestellt hatte. Niemand war besser geeignet, um Antworten zu liefern, als der Hüter von Geheimnisse. „Dann ist das der ideale Zeitpunkt, um die Jäger anzugreifen“, zwang er sich zu sagen.
„Im Gegenteil“, widersprach Sabin und zog eine Augenbraue hoch. „Erinnerst du dich an die Frau, die wir gesehen haben? Die den Dämon von Misstrauen in sich aufgenommen hat?“
„Nein, Sab. Die habe ich vergessen“, erwiderte er trocken. Sie waren beide im Tempel der Unaussprechlichen gewesen und hatten miterlebt, wie die Kreaturen die Luftmoleküle manipuliert und ihnen gezeigt hatten, was gerade einen ganzen Kontinent entfernt geschah.
Galen war es irgendwie gelungen, das Unfindbare zu finden: den verlorenen Dämon Misstrauen, der vollkommen wahnsinnig geworden war. Er hatte Misstrauen in einen Raum gesperrt und die Bestie davon überzeugt, einen neuen Besitzer zu akzeptieren. Eine Frau, eine Jägerin.
Trotz eingehender Untersuchungen hatten sie bislang nicht mehr über die Frau herausgefunden. Weder wo sie sich aufhielt, noch wie es ihr ging.
„Was für eine Haltung, tz, tz, tz“, meinte Sabin. „Egal, Cronus hat beschlossen, dass er sie haben will. Und Amun soll mehr über sie in Erfahrung bringen.“
Aha. Deshalb hatte er Amun also zu sich bestellt. Zum Teufel mit Rhea. Aber wenn Sabin davon wusste, bedeutete es, dass Haidee es ebenfalls gewusst hatte. Was wiederum hieß, dass sie die Information nicht mit Strider hatte teilen wollen. Eine kleine Bestrafung ihrerseits, da war er sich sicher, und er konnte es ihr nicht einmal verdenken.
„Was hat die Frau damit zu tun, ob wir jetzt ein paar Jägern in die Ärsche treten oder nicht?“, fragte er.
„Die Jäger werden alles dafür tun, sie versteckt zu halten, und viel zu beschäftigt sein, um uns anzugreifen.“
„Das hoffst du. Aber dann ist der Zeitpunkt doch erst recht ideal für einen Angriff.“
„Wenn wir sie finden können. Ohne Amun müssen wir uns auf unsere mittelmäßigen Detektivfähigkeiten verlassen.“
Wohl kaum. „Wir haben doch Ashlyn.“ Maddox, der Hüter von Gewalt, hatte eine Frau geheiratet, die die Fähigkeit hatte, an jedem x-beliebigen Ort alle Gespräche zu hören, die dort jemals geführt worden waren. Niemand konnte sich vor ihr verstecken.
„Hast du mir nicht zugehört? Sie ist momentan zu strenger Bettruhe verdonnert. Die Zwillinge, die sie austrägt, hatten einen ziemlichen Wachstumsschub. Sie ist so dick, dass sie nicht mal ohne Hilfe aufs Klo gehen kann. Maddox geht davon aus, dass die Kinder bald zur Welt kommen.“
Der arme Kerl wurde vor lauter Sorge vermutlich schier wahnsinnig. Ashlyn war (zum größten Teil) ein Mensch, und deshalb so zierlich und zerbrechlich wie eine Glasvase. Nicht so wie Kaia, die … Nicht an sie denken. „Ich weiß ja nicht, wie es mit dir steht, aber ich bin ein verdammt guter Detektiv.“
Sabin zuckte die Achseln. „Dann sieh es mal so: Ich musste mich entscheiden. Entweder unseren Vorteil ausnutzen oder auf meine Frau aufpassen. Rate mal, wie meine Entscheidung ausgefallen ist.“
Wann war Sabin nur so ein Weichei geworden?
„Wenigstens brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass unsere Jungs verletzt werden, weil wir sie alleine zurückgelassen haben.“
Als ob sie sich deshalb hätten Sorgen machen müssen. Die „Jungs“ waren genauso tüchtig wie Strider. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie von Bösewichten wie Schmerz, Krankheit und Elend besessen waren. Sie waren allesamt wild und brauchten keine Babysitter – ob nun eine Schlacht bevorstand oder nicht.
„Tja, also ich kann nicht mitkommen. Ich habe schon andere Pläne“, meinte Strider. Und ich kann nicht zaudern. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. „Ich habe Paris versprochen, ihm im Himmel zu helfen.“
„Hilf ihm später“, mischte Gwen sich wieder in das Gespräch ein. „Kaia braucht dich jetzt.“
Sein Körper reagierte augenblicklich, seine Haut begann zu prickeln – Kaia braucht dich – sämtliche Zellen erwachten – Kaia braucht dich – sein Penis wurde hart – Kaia braucht dich … will, dass du sie berührst, ausziehst und ausfüllst.
„Ich lasse es mir durch den Kopf gehen“, sagte er angestrengt. Er trat hinaus auf den Flur und ging zu seinem Zimmer, ehe Gwen ihm ein zweites Mal drohen konnte. Dort angekommen, schloss er die Tür hinter sich und stellte sich in die Mitte des Raumes. Er starrte an die Wand, während seine Gedanken rasten.
Was Wohnungsdekorationen anging, hatten er und Kaia den gleichen Geschmack. An ihren Wänden hatten Waffen gehangen, an seinen hingen auch welche. Er fragte sich, ob die Stücke aus ihrer Sammlung ebenfalls den Menschen und Unsterblichen gehörten, die ihr im Laufe der Jahrhunderte unterlegen waren.
Kaia. Niederlage. Zwei Wörter, die für ihn zu Synonymen geworden waren.
Bei den Harpyien überlebte nur der Stärkere, und das glaubte er gern. Durch Gwen wusste er, dass es ihnen verboten war, in Anwesenheit von Menschen – beziehungsweise von jedem, der nicht ihr Gemahl war – zu schlafen. Er wusste, dass sie niemanden gegenüber auch nur die kleinste Schwäche zeigen durften – auch gegenüber ihren Gemahlen nicht. Und nie und nimmer durften sie ihre Schwestern bestehlen. Wenn sie eine dieser Regeln brachen, wurden sie bestraft.
Verflucht noch mal! Was sollte er nur tun? Eigentlich konnte sie hervorragend selbst auf sich aufpassen – allerdings nicht, wenn andere Harpyien im Spiel waren. Außerdem würde Kaia jeden Vorteil brauchen, den sie kriegen konnte. Wie – und das war eklatant wichtig – sich auszuruhen. Sie müsste sich zwischen den verschiedenen Disziplinen ausruhen, wie auch immer diese aussähen. Und da sie der Überzeugung war, dass Strider ihr Gemahl sei, würde sie das nur in seiner Gegenwart tun.
Zweitens müsste jemand dafür sorgen, dass sie anständig aß. Wenn er nur daran dachte, dass sie im Gefängnis beinahe verhungert wäre.
Drittens müsste ihr irgendwer Rückendeckung geben, wenn sie etwas stahl, und wie er sie kannte, würde sie eine Menge stehlen. Dazu eignete sich am besten jemand, der – oder die – nicht auch noch für seinen eigenen Schutz sorgen musste.
Für gewöhnlich starb die Hälfte der Teilnehmerinnen, hatte Gwen gesagt. Die Hälfte. Harpyien zeigten keine Gnade. Sie nahmen keine Gefangenen. Und aus irgendeinem Grund prangte auf Kaias Rücken eine Zielscheibe.
Wenn er es täte, wenn er sie begleitete … müsste er einen Weg finden, sich gegen ihre Anziehungskraft zu schützen. Denn auf gar keinen Fall durfte er mit ihr schlafen. Nicht nur wegen Paris, sondern weil sie jeglichen intimen Kontakt als Bindung betrachten würde – als Bindung zwischen Harpyie und Gemahl. Als eine ewige Bindung. Und er würde unter gar keinen Umständen ein lebenslanges Urteil unterschreiben.
Aber konnte er ihr überhaupt widerstehen?
Oder, und das war die bessere Frage: Konnte er sie beschützen? Wenn ihre Feinde erführen, wer er war, könnten sie seinen Dämon gegen sie einsetzen. Sie könnten ihn herausfordern, sie zu verletzen. Sie könnten ihn herausfordern, sie zu vernichten.
Gewinnen? schwirrte auf einmal die heisere Stimme von Niederlage durch Striders Kopf.
Mist. Ich habe mir verboten, an Kaia zu denken, also hör du auf, ans Gewinnen zu denken. Bitte.
Gewinnen, wiederholte der Dämon. Diesmal war es eine Forderung. Eine Forderung unterlegt mit einer Spur Angst.
Zu spät, dachte er. Niederlage hatte eine Herausforderung gewittert, und es gab keinen Weg zurück. Gegen jede Harpyie gewinnen, die versucht, Kaia wehzutun?
GEWINNEN.
Ja. Gegen alle Harpyien, die versuchten, Kaia wehzutun. Warum? Du magst sie nicht mal besonders. Warum willst du also, dass ich sie beschütze?
Gewinnen, gewinnen, gewinnen.
Wieso hatte er überhaupt mit einer Antwort gerechnet? Im Gegensatz zu einigen der anderen Dämonen verfügte seiner nur über einen sehr begrenzten Wortschatz. Er hatte bei der Dämonenvergabe auf jeden Fall das kürzere Streichholz gezogen. Aber … vielleicht erinnerte Niederlage sich einfach nur daran, wie gut sich ein Sieg über Kaia anfühlte, und wollte mehr davon. Oder vielleicht betrachtete er Kaia – besitzergreifend, wie er war – auch als ihr persönliches Schlachtfeld, auf dem kein anderer spielen durfte. Niemals.
Was wusste er schon? Er würde zu den Harpyienspielen fahren.