30. KAPITEL
Wenige Minuten zuvor …
Vielleicht war mein Team zu Anfang benachteiligt, dachte Kaia und keuchte vor Anstrengung, aber inzwischen haben wir für ausgeglichene Verhältnisse gesorgt. Und das war ziemlich schnell gegangen. Momentan waren nur noch Mitglieder der Eagleshields und der Skyhawks bei Bewusstsein.
Zuerst hatte man ihr Beleidigungen entgegengeschleudert. „Schwach.“
„Dämlich.“
„Schlampe.“ Die üblichen Verdächtigen. Ausnahmsweise hatte sie sich davon nicht ablenken lassen. Vielleicht weil sie sich auf einen einzigen Gedanken konzentriert hatte: Bewahre Strider vor Schmerzen.
Der Mann, der Herausforderungen hasste, hatte sich selbst herausgefordert. Ihretwegen. Hätte sie irgendwie an seiner Liebe zu ihr gezweifelt – das hätte sie überzeugt.
Sie musste diesen Kampf gewinnen. Um seinetwillen. Er hatte gedroht, jeden zu töten, den sie nicht besiegte, aber sie wusste, dass er das nicht täte. Er liebte sie viel zu sehr, als dass er einer Angehörigen ihrer Rasse ernsthaft geschadet hätte. Wenn sie also versagte und er dann nicht die angekündigte Bestrafung vollzöge, würde er dann doppelt leiden?
Gewinnen, gewinnen, gewinnen.
Oh ja. Ihre Strategie? Zuschlagen und wegrennen. Bislang hatte sie sich mit keiner ihrer Gegnerinnen auf einen Zweikampf eingelassen. Jedenfalls nicht länger, als es dauerte, einmal fest zuzuschlagen – okay, bisweilen auch zweimal. Sie hatte einen Schlag verteilt und war weitergedüst, ohne zuzulassen, umzingelt zu werden. Hatte sich ihr mehr als eine Harpyie genähert, war sie den Angreiferinnen einfach aus dem Weg gesprungen, sodass sie gegeneinandergeprallt waren. Was natürlich dazu geführt hatte, dass sie aufeinander losgegangen waren und ihr die Arbeit damit abgenommen hatten.
Die Entschlossenheit der anderen, sie und nur sie zu vernichten, wäre am Ende ihr Untergang. Wie passend, dachte sie, während sie sich umdrehte, um sich mit ihrer nächsten Gegnerin zu befassen. Als sie die Harpyie erblickte, verpuffte ihre Vorfreude.
Ihre Mutter.
Kaias Kehle wurde trocken. Zum ersten Mal in diesem Wettkampf glimmten heiße Funken in ihr auf. Sie war so vorsichtig gewesen.
Tabitha ließ den reglosen Körper fallen, den sie an den Haaren festgehalten hatte, und sah ihrer vergessenen Tochter ins Gesicht. Rings um sie nahm der Kampf seinen Lauf. Allein Bianka bemerkte, was vor sich ging, und alarmierte die anderen. Schon bald drängte das Team Kaia die anderen Frauen an den Rand der Arena, um Kaia und ihrer Mom ausreichend Platz zu verschaffen.
„Endlich. Die Tochter, die ich einst einen ganzen Morgen lang gelobt habe, als ich meinen Mitstreiterinnen versicherte, dass du eines Tages stärker als ich sein würdest, nur um festzustellen, dass du uns alle fast zerstört hättest“, sagte Tabitha. Ihre Vorfreude war geradezu greifbar. „Endlich erhältst du dafür die gerechte Strafe. Ich werde dir für die Erniedrigung, die du uns beschert hast, den Platz zuweisen, der deiner würdig ist.“
Sie hatte einen ganzen Morgen damit zugebracht, Kaia zu loben? Sie hatte versichert, Kaia würde stärker sein? Lass dich nicht einlullen. Genau das will sie doch nur.
„Und wo ist dieser Platz?“ Sie musste kalt sein. Dieser Kampf war überfällig, und zwar schon seit Jahrhunderten. Setze Stärke ein und kein Feuer.
Ihre Mutter zuckte mit einer scheinbar zarten Schulter. „Zu meinen Füßen, natürlich.“
Früher wäre Kaia durch diese Bemerkung zerstört gewesen. Aber heute verspürte sie nur ein mildes Stechen. Sie wurde geliebt, und zwar von einem Mann, der sich mit der Liebe nicht eben leichttat. Er betrachtete sie als würdig. Mehr brauchte sie nicht. „Du kannst es gern versuchen.“
„Oh, ich werde mehr tun als das.“
Reden, reden, reden. Kaia winkte mit den Fingern. Die Flammen hatte sie erfolgreich erstickt. „Wollen wir hier nur rumstehen, oder fangen wir endlich an?“
Überraschenderweise rührte Tabitha sich nicht vom Fleck, sondern zog nur eine schwarze Augenbraue hoch. „Ich gebe dir fünf Sekunden, um wegzulaufen. Diese Chance habe ich noch niemandem gegeben. Ist gewissermaßen um der alten Zeiten willen. Und, Kaia: Das ist der einzige Vorteil, den ich dir einräume. Danach werde ich mir deinen Kopf holen.“ Sie warf einen Dolch in die Luft. Einen Dolch, der bereits blutverschmiert war.
„Eins“, fing Kaia zu zählen an.
Wenn sie sich nicht irrte – und sie musste sich irren – flackerte Stolz in den bernsteinfarbenen Augen ihrer Mutter auf. „Du bist unbewaffnet. Erwartest du wirklich zu gewinnen?“
„Zwei.“
Noch ein Flackern. „Versuchst du, deinen Mann zu beeindrucken? Zu schade, dass er gar nicht da oben sitzt. Er ist vor ein paar Minuten verschwunden.“
Keine Reaktion. Auf solche Tricks würde sie nicht hereinfallen. Sie würde sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen. „Drei.“
Tabithas Mundwinkel zuckten. „Erinnerst du dich noch daran, als du ein kleines Mädchen warst und ich stundenlang mit dir trainiert habe? Ich habe dich jedes Mal besiegt.“
Keine Reaktion! „Vier.“
„Also gut. Hören wir auf zu reden.“ Tabitha ließ den Blick über die Menge schweifen. „Niemand wird uns unterbrechen. Ist das klar?“ Mit diesen Worten ging sie in Kampfposition – die Beine gespreizt, die Knie gebeugt, die Arme angespannt. „Das hier ist ein Duell zwischen mir und dir, Tochter.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Fünf.“ Sie flogen aufeinander los.
Tabitha hatte den Beinamen „die Teuflische“ nicht umsonst erhalten. Sie schnitt Kaia in dem Moment mit dem Dolch, als sie in ihre Reichweite kam. Sie waren zu dicht, als dass sie den Treffer hätte vermeiden können. Kaia verfluchte sich, weil sie erwartet hatte, dass ihre Mutter zuerst versuchen würde, sie zu Boden zu werfen. Also tat sie das Einzige, was ihr übrig blieb. Sie hob die Arme, sodass die Klinge nicht ihren Hals oder ihre Brust erwischte, sondern ihren Unterarm. Als sie den scharfen Schmerz auseinanderklaffender Haut spürte, setzte ihre Mutter blitzschnell zum nächsten Stich an. Dieses Mal zielte sie auf den Bauch.
Kaia wehrte sich. Auf halbem Weg fing sie Tabithas Hand ab. Mit der Ellenbeuge klemmte sie ihr Handgelenk ein, drehte es nach oben und nutzte das Moment zu ihrem Vorteil. Als sich ihre Arme auf Schulterhöhe befanden, drückte sie Tabithas Handgelenk samt Dolch gegen ihren Körper und schlug ihrer Mutter mit der freien Hand gegen die Schläfe. Natürlich hätte sie ihr auch den Dolch aus der Hand schlagen können, aber besser sie schlug jetzt zu, da sie die Möglichkeit dazu hatte, als ihre Mutter zu entwaffnen.
Warum kämpfen, als hätten sie ewig Zeit, wenn sie die Sache sofort zu Ende bringen konnte?
Tabitha stolperte und fiel benommen auf die Knie. Natürlich hatte sie sich in den wenigen Sekunden, die Kaia brauchte, um zu ihr hinüberzugehen, wieder aufgerappelt. Ehe sie zuschlagen konnte, wirbelte Tabitha herum und wich ihr aus. Im nächsten Augenblick wurde Kaia von hinten angegriffen. Mit einem Schlag auf den Kopf. Sie taumelte, ihre Gedanken überschlugen sich. Wie sie ihre Mutter kannte, würde sich die Frau bestimmt auf sie stürzen, versuchen, sie auf den Boden zu drücken und ihr den Hals durchschneiden, während sie mit ihrem Gewicht die Flügel zerquetschte. Es gab nur einen Weg, diesen Angriff abzuwehren. Kaia nutzte ihre taumelnden Schritte, um sich abzustoßen und einen Überschlag nach hinten zu machen.
Weniger als einen Augenblick lang sah sie unter sich Tabithas dunkle Haare. Sah, dass sie richtiggelegen hatte. Sah, dass Tabitha stehen blieb und begriff, dass sie so leicht nicht siegen würde. Dann landete Kaia, schlug mit dem Fuß aus und zielte dabei auf die Niere ihrer Mutter. Treffer.
Grunzend fiel Tabitha auf die Knie. Kaia trat abermals nach ihr – keine Gnade – diesmal gegen die flatternden Flügel. Bumm. Der Körper ihrer Mutter flog nach vorn, der Knorpel im rechten Flügel brach. Wieder geschah das Ganze so schnell, dass die Zuschauer nicht blinzeln durften, um alles mitzubekommen.
Eigentlich hätte die Verletzung ihrer Mutter ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen müssen, aber Tabitha hatte Millionen Jahre auf dem Buckel und kämpfte nicht zum ersten Mal mit einem gebrochenen Flügel. Scheinbar unempfänglich für den Schmerz, den sie verspüren musste, stand die Frau auf und drehte sich um.
„Ist das alles, was du drauf hast, Baby?“ Tabitha lächelte, doch es klebte Blut auf ihren Zähnen.
Kalt. Gnadenlos. „Mal sehen.“
Wieder gingen sie aufeinander los, trafen sich in der Mitte. Was folgte, war eine blitzschnelle Abfolge von Schlägen und Abwehrbewegungen. Kalt, bleib kalt. Jedes Mal wenn ihre Mutter mit dem linken Arm ausholte, zielte sie mit dem Dolch auf Kaias Halsschlagader. Kaia bekam mehrere Kratzer ab, aber die Klinge sank nicht einmal tief genug in ihr Fleisch, um ernsthaften Schaden anzurichten. Und das lag nicht etwa daran, dass ihre Mutter nur halbherzig zuschlug! Kaia hatte Fähigkeiten, von denen sie selbst nichts geahnt hatte.
Momentan hatte Tabitha die Oberhand und schubste Kaia zurück. Sie hielt sich wacker auf den Beinen – kalt, kalt, ganz kalt, erstickte jeden neuen Funken, der versuchte, in ihr aufzuglimmen –, bis sie über einen bewusstlosen Körper stolperte. Da stürzte sie. In der nächsten Sekunde saß Tabitha auf ihr.
Als der Dolch auf sie zukam, wusste sie, dass sie nur eine Möglichkeit hatte, ihren Hals zu retten. Und ihr Leben. Der Dolch brauchte ein Ziel. Sie fing das Metall mit ihrer Handfläche ab und ließ es zu, dass sich die Spitze durch ihr Fleisch bohrte, bis sie auf der anderen Seite wieder herauskam. Es tat saumäßig weh, aber das war es wert. Zwar war ihr Knochen zersplittert, aber der Dolch steckte darin fest, sodass Tabitha eine leere Hand zurückzog.
Wovon sie sich jedoch nicht aufhalten ließ. Auf einmal regneten Faustschläge auf Kaias Gesicht nieder, in so dichter Folge, dass sie ihnen nicht ausweichen konnte, und beinahe hätte sie das Bewusstsein verloren. Dennoch blieb sie kalt, und schließlich brachte sie die Kraft auf, sich nach hinten auf ihre Schulterblätter zu rollen, ihre Mutter abzuschütteln und die Beine hochzuschwingen.
Sie legte Tabitha die Knöchel um den Hals und zog ihre Mutter herunter. Die Frau fiel hart auf ihren Rücken, sodass eine ordentliche Ladung Luft aus ihrer Lunge rauschte. Oder gerauscht wäre – hätte Kaia die Absätze ihrer Stiefel ihrer Mutter nicht in die Kehle gerammt, wodurch sie ihr die Luftröhre abdrückte und die Luft am Entweichen hinderte.
Ohne Pause stand Kaia auf. Sie konnte kaum etwas sehen, weil ihr unentwegt Blut in die geschwollenen Augen tropfte. Bring es zu Ende. Mit aller Kraft zog sie sich den Dolch aus der Hand – und verflucht noch mal, das Rausziehen tat noch mehr weh als das Eindringen! – und warf die Waffe aus dem Feld. Nun waren sie beide unbewaffnet.
Sie stolperte nach vorn in der Hoffnung, auf ihrer Mutter zu sein, ehe die erfahrene Soldatin Zeit hatte, zu heilen oder sich eine Strategie zurechtzulegen. Aber sie hatte Pech. Tabitha war ruck, zuck! wieder auf den Beinen, und sie standen sich zum dritten Mal gegenüber. Langsam gingen sie umeinander herum.
„Nicht schlecht“, krächzte Tabitha. Ihre Stimme war wegen der noch nicht verheilten Luftröhre ganz rau. „Ich hätte schon längst mit deinem K. o. gerechnet.“
„Das liegt daran, dass du zu viel von dir hältst und zu wenig von deinen Artgenossen.“
„Aus gutem Grund.“ Ohne Gefühl.
Ich werde dafür sorgen, dass sie irgendetwas fühlt. Kaia leckte sich die Lippen und schmeckte Blut. „Der Preis für die Mutter des Jahres geht an Tabitha die Teuflische. Oder nein, doch nicht. Aber du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen. Vater habe ich den Preis ebenfalls aberkannt.“
Tabitha hielt in ihrer Bewegung inne, blinzelte, und ihre Lider verbargen und enthüllten Schmerz. „Ich bin eine gute Mutter.“
Äh, was? Das hatte sie getroffen? „Wenn du mit gut meinst, dass du die schlechteste Mutter der Welt bist, dann stehst du ganz oben auf der Liste, ja.“
Tabitha kniff die bernsteinfarbenen Augen zusammen, und jeglicher Schmerz verschwand. „Wenn du tot bist, wird sich eine andere Harpyie deinen Mann schnappen. Das weißt du doch, nicht wahr? Und als die Person, die dich besiegt hat, liegen die ersten Rechte bei mir.“
Autsch. Jetzt ging sie ihr auch mit Worten an die Gurgel, um eine emotionale Reaktion auszulösen. Wie Strider gesagt hatte: Kaia war höchst emotional. Sie konnte fühlen, wie das Feuer wieder entfachte. Es wurde heißer … und heißer …
Sie könnte die Flammen herauslassen und die Sache sofort zu Ende bringen. Sie hatten gekämpft. Nun könnte man ihr kein Fehlverhalten mehr vorwerfen. Kaia hatte sich gegenüber ihrer Mutter behauptet. Doch obwohl es zwischen Mutter und Tochter keine Liebe gab, wollte sie die Frau nicht mit ihren Flammen umbringen.
Allerdings spielte es keine Rolle, was sie wollte. Nicht jetzt. Tu, was du tun musst, um zu überleben. Das waren Striders Worte gewesen.
Es war an der Zeit.
Endlich öffnete sie sich der Hitze, hieß sie willkommen, ließ sie wachsen, sich ausbreiten – sich von ihr verschlingen.
Heißer … immer heißer … Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte. Beim letzten Mal war die Veränderung so unerwartet über sie hereingebrochen, dass sie nicht eine Sekunde hatte innehalten und darüber nachdenken können, was da gerade vor sich ging. Was sollte sie tun, wenn die Flammen nicht kämen?
Auf dem Gesicht ihrer Mutter spiegelte sich Entsetzen. In Kaias Ohren dröhnte es, ihr Körper wurde immer heißer, bis sie alles nur noch durch einen himmelblauen Schleier sah. Binnen weniger als einer Sekunde waren wütende Flammen aus ihren Poren gedrungen und beanspruchten jetzt jeden Zentimeter ihres Körpers. Sogar ihre Kleider verbrannten.
„Tut mir leid, Mom“, sagte sie. Sie machte einen Satz nach vorn. Körperkontakt. Die Frauen stürzten zu Boden. Flammen sprangen von Kaia auf Tabitha über. Sie hielt inne und wartete.
Wo blieben die Schreie ihrer Mutter?
„Dachtest du wirklich, ich hätte mit einem Phönix geschlafen, wenn ich nicht gegen sein Feuer geschützt wäre? Aber ich bin beeindruckt. Du hast mich in die Irre geführt. Ich hatte keine Ahnung, dass du dazu fähig bist.“
„Ich … ich …“ Sie hatte keine Antwort parat. Zu groß war die Verblüffung.
Tabitha fuhr fort: „Ich kann zwar keine Flammen herbeizaubern, aber ich kann sie aushalten. Also, weiter geht’s.“
Kaia wurde von Neuem auf den Rücken gerollt und ins Gesicht geschlagen. Sie ließ es geschehen – mehr aus Erstaunen denn aus dem Unvermögen heraus, ihre Mutter abzuschütteln.
Als ihre Sinne wieder erwachten, hörte sie auf, ihr Gesicht und ihren Hals zu schützen. Sie konnte diese Sache nur auf eine Art zu Ende bringen.
Immer weiter prasselten Schläge auf sie nieder. In ihr explodierte ein stechender Schmerz, kurz darauf konnte sie kaum noch sehen, dann war ihre Kehle zerschmettert. Mit dem Wissen, dass Tabitha als Nächstes ihre Klauen einsetzen und ihr den Kopf abreißen würde, verschwand die Hitze und wurde wieder durch ihre kühle Entschlossenheit ersetzt.
Tu, was immer notwendig ist.
Kaia bog den Rücken durch, ohne sich gegen die Schläge zu wehren. Ihre Mutter ahnte nichts. Sie war viel zu verloren in dem Rhythmus ihrer Fäuste und ging davon aus, dass Kaia jeden Moment das Bewusstsein verlöre. Kaia langte um den Rücken ihrer Mutter herum und riss. Fest. Ein schriller Schrei durchschnitt die Luft, als warmes Blut ihre Hände bedeckte. Endlich standen die erbarmungslosen Fäuste still. Das Gewicht auf ihren Schultern wurde leichter.
Kaia führte die Hände zu ihrem Mund und leckte. Alles, um zu überleben, sagte sie sich abermals. Blut, jedes Blut war wie Medizin, und sie musste heilen. Der Lebenssaft ihrer Mutter lief ihr die Kehle hinunter bis in ihren Magen. Die Wirkung war zwar nicht so stark, wie wenn sie von Strider trank, aber ihre Sicht klärte sich ein bisschen, und sie setzte sich auf.
Einen knappen Meter entfernt lag ihre Mutter. Sie war bewusstlos und nackt durch die Flammen. Einen gebrochenen Flügel hätte sie aushalten können, aber nicht den kompletten Verlust beider Flügel. Ihr Rücken sah furchtbar aus. Beide Flügel waren ausgerissen. Kaias Brust zog sich zusammen. Vor Bedauern, dass ihre Fehde sie an diesen Punkt geführt hatte, und vor Stolz, dass sie gewonnen hatte.
Sie sah sich um. Die anderen Kämpfe waren ebenfalls vorüber. Zu ihrer Enttäuschung sah sie, dass die Eagleshields ihre Schwestern besiegt hatten, die ihrerseits die Skyhawks besiegt hatten. Jene, die noch auf den Beinen waren, sahen sie verblüfft an. Doch Kaia interessierte sich nur für ihr Team.
Zum Glück waren noch alle am Leben. Von Schwertspitzen in Schach gehalten, aber am Leben. Sie nickten ihr entschuldigend und anerkennend zu. Es interessierte sie nicht, dass sie verloren hatten, sondern nur, dass sie lebten.
Beim nächsten Wettkampf hätten sie die Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Und vielleicht könnte sie sich jetzt schon rehabilitieren. Dass sie nackt war, kümmerte sie nicht, und so rappelte sie sich auf. Was auch als Nächstes geschähe, jetzt gab es nur noch drei Rivalinnen im Kampf um den ersten Platz in Runde vier. Und wer dort gewänne, würde alles gewinnen. Die Siegerin würde die Lorbeeren einheimsen und die Zweiadrige Rute.
Ob Strider begriffen hatte, wie kurz sie vor dem endgültigen Sieg standen?
Strider. Ihre Schwestern mochten am Leben sein, aber sie hatte verloren. Mit dem Sieg über ihr Team hatten die Eagleshields auch sie besiegt. Strider hatte soeben seine eigene Herausforderung verloren.
Nein, korrigierte sie sich. Er hat lediglich geschworen, alle zu töten, die mich besiegen. Oder alle, die sie verletzten? So oder so – er hatte sich kein Zeitlimit für seine Todesstöße gesetzt. Richtig?
Mit dem Blick suchte sie die jubelnde Menge ab, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Sie sah Sabin und Lysander, die ebenfalls für eine Weile verschwunden waren, nun aber zurück waren. Beide waren angespannt, blass und aufgewühlt. Offensichtlich wollten sie sich nur noch ihre Frauen schnappen und verschwinden.
Ging es Strider gut? Wo war er?
Hatte er in diesem Moment Schmerzen?
Sie hätte die Eagleshields herausfordern und den Kampf fortsetzen können. Aber sie konnte sie unmöglich alle gleichzeitig außer Gefecht setzen. Eins ihrer Teammitglieder käme zu Schaden, vielleicht sogar zu Tode. Also musste sie sich entscheiden: ihr Team retten oder Strider vor quälenden Schmerzen bewahren.
Sie betete, er möge sie verstehen, als sie sich hinkniete und damit ihre Niederlage anerkannte.
Drei Dinge geschahen gleichzeitig. Ihre Umgebung veränderte sich – das Kolosseum war nicht länger neu und makellos, sondern alt und verfallen, und sie waren plötzlich von Absperrungen und Menschen umgeben. Juliettes wütender, ungläubiger Schrei hallte von den Wänden wider. Und – und das war das Schlimmste – Striders schmerzhafte Qualen bohrten sich gnadenlos in ihre Seele.