20. KAPITEL

Dieser dumme Mann hörte einfach nicht auf, ihr zu folgen!

Strider zu entkommen, war einfach gewesen. Seinen Dämon „gewinnen“ zu lassen nicht. Nachdem Kaia die Rhea-Bombe hatte platzen lassen, hatte sie ihn um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Und sie hatte es so gesagt, dass er annehmen musste, mit „Gespräch“ meine sie, ihn bis zur Besinnungslosigkeit zu küssen.

Sie waren in die kühle Luft hinausgegangen, in der ihr ohnehin schon kaltes Blut gefror. Noch ehe Strider ein Wort sagen konnte, hatte sie ihm einen sanften Kuss auf die sinnlichen Lippen gedrückt – der ihn leider nicht besinnungslos gemacht hatte – und ihn herausgefordert, eine Stunde hierzubleiben. Ach ja, und er musste Sabin und Lysander an seiner Seite halten.

Die wahnsinnige Wut, die er ausgestrahlt hatte, als sie sich Bianka und Gwen geschnappt hatte und mit ihnen losgezogen war … die Art, wie er Sabin und Lysander überwältigt hatte, als sie versucht hatten, ihnen zu folgen … die wilde Art, wie er gegen sie gekämpft hatte …

Das würde sie nie vergessen. Tausendmal wäre sie um ein Haar umgekehrt, sosehr wollte sie ihn um Vergebung bitten und ihn anflehen, sie zu begleiten. Sie hatte seinen Dämon gegen ihn benutzt. Etwas, was sie nie hatte tun wollen. Und das auch noch nach diesem spektakulären Kuss, nach dem sie sich endlich auf dem richtigen Weg befanden. Götter … Allein der Gedanke an Rhea und ihre boshafte Natur hielt sie zurück. Kaia konnte sich nicht auf den ersten Preis konzentrieren und gleichzeitig Strider beschützen. Und selbst wenn sie es könnte, lagen die Jäger vielleicht schon in der Odynia auf der Lauer – bereit, ihm den Kopf abzuschlagen.

Sie musste Strider um jeden Preis beschützen. Sie brauchte ihn mehr als die Luft zum Atmen. Und er war ihr gegenüber weicher geworden. Wollte mehr von ihr. Er hatte sie vor den Augen aller anderen geküsst. Und zwar so leidenschaftlich und schmutzig, als ob er jeden Moment mit ihr schlafen wollte. Als ob er nicht genug von ihr bekommen könnte. Als ob sie eine Droge wäre, die man ihm viel zu lange vorenthalten hatte. Dann hatte er sie Baby Doll genannt und wie einen geschätzten Gefährten gestreichelt.

Kaia hatte alles zerstört, indem sie ihn herausgefordert hatte, statt mit ihm zu reden, und dieses Wissen führte dazu, dass sich ihr Magen schmerzhaft verkrampfte. Doch sie hatte weder Zeit gehabt, ihm irgendetwas zu erklären, noch ihn von den Vorzügen ihres Plans zu überzeugen. Team Kaia blieben nur vierundzwanzig Stunden – mittlerweile nur noch neunzehn –, um Rheas Garten im Himmel zu erreichen. Doch dazu mussten sie zuerst die Pforte erreichen, welche die Götterkönigin geöffnet hatte.

Taliyah und Neeka gingen voraus, und Kaia und die restlichen Ladys folgten ihnen, während sie sich den Weg durch das winterliche Wunderland Alaskas bahnten. Alaska, das Heimatland der Skyhawks und der Ort, an dem sich vorübergehend die Himmelspforte befand – ein Ort, der zu Ehren der Gewinnerin des ersten Wettkampfs gewählt worden war.

Ihr Ziel? Ein vergessener Landstrich zwischen zwei bestimmten Bergen. Sie hinterließen keine Fußspuren, versteckten ihre Düfte und bewegten sich im Verborgenen. Nur für den Fall, dass ein anderes Team auf die Idee käme, ihr Vorankommen zu behindern.

Allerdings konnte nichts die entschlossenen Männer hindern, die ihnen folgten.

„Wir müssen sie irgendwie aufhalten“, sagte Gwen, wobei sich vor ihrem Gesicht kleine Dunstwölkchen bildeten. Sie hüpfte von einem eisbedeckten Baumwipfel zum nächsten, und die erdbeerblonden Haare wehten hinter ihr her.

Ein Vorschlag von Gwennie der Netten. „Nein“, widersprach Kaia, während sie ebenfalls zum nächsten Baum sprang. Ihre Flügel flatterten unter ihrem weißen Kunstpelzmantel. Dann würde Strider verlieren, und sie konnte den Gedanken, dass er sich tagelang vor Schmerzen krümmte und immer schwächer würde, nicht ertragen. So wäre er ein äußerst leichtes Ziel für Juliette. „Die Pforte schließt morgen früh um 08:01 Uhr. Wir schlüpfen hinein, kurz bevor sie zugeht. Dann werden sie uns nicht weiter folgen können.“

„Ziemlich riskant“, meinte Bianka, die sich direkt hinter ihr befand. Der Ast wippte unter dem Gewicht der Zwillinge. Zwar nur leicht, aber er bewegte sich. „Am Ende kommen wir noch so spät, dass wir selbst nicht mehr reinkommen, und wir können es uns nicht leisten, von noch einem Wettkampf disqualifiziert zu werden. Sonst sind wir endgültig raus aus dem Rennen und haben keine Chance mehr, den dritten Platz zu ergattern, geschweige denn den Hauptpreis.“

Verdammt. Gemahle sollten einem das Leben doch leichter machen und es nicht verkomplizieren. Kaia machte eine Pause und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Auf einmal war sie so erschöpft, dass sie sich am liebsten hingelegt hätte. Sie hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen. Zuerst war sie zu beschäftigt damit gewesen zu heilen, und dann war sie zu beschäftigt damit gewesen, sich den Kopf über mögliche Überraschungsangriffe zu zerbrechen. „Hast du denn einen anderen Vorschlag, das hier durchzuziehen, ohne unsere Männer zu verletzen?“

Ein unnatürliches Pfeifen ertönte in der Luft, und ihre Ohren zuckten. Dieses Geräusch kannte Kaia nur zu gut. Angst überkam sie.

Sie wurden aus dem Hinterhalt angegriffen.

„Runter!“, rief sie, während sie Bianka mit sich riss. Der Ast wackelte, und direkt über ihren Köpfen versank ein Pfeil im Baumstamm. Der Geruch von Avocado und Salz stieg ihr in die Nase, und sie krümmte sich.

„So ein Mist, ich habe mir einen Nagel abgebrochen!“, schrie Gwen wütender, als Kaia sie seit ihren Tagen als Brautmonster gehört hatte.

Kaia schnüffelte und machte Überbleibsel von Schweiß und Angst aus. Harpyien hatten diesen Pfeil nicht abgefeuert, sondern Menschen. Allerdings hätte sie große Summen darauf gewettet, dass Harpyien die Menschen dafür bezahlt hatten. Wie sonst hätten sie wissen sollen, dass sie eine aus einem Avocadokern geschnitzte und in Salz getunkte Pfeilspitze benutzen sollten und keine Pistolenkugeln? Woher hätten sie wissen sollen, dass die Substanzen in der Kombination das Herz einer Harpyie wochenlang schwächten, ganz gleich, wo sie getroffen wurde?

Und wenn sie nicht von anderen Harpyien angeheuert worden waren, hatte Rhea persönlich sie angestiftet, weil Kaia und ihre Gefolgschaft mit den Herren befreundet waren. Als einer der Menschen seinen Bogen spannte, erhaschte Kaia einen Blick auf die Tätowierung an seinem Handgelenk: eine liegende Acht. Das Symbol der Unendlichkeit. Das Symbol der Jäger.

Und das, wo Strider, Sabin und Lysander in der Nähe waren … Verflucht. Sie wollte nicht, dass Strider sich in der Nähe dieser kranken Scheißkerle aufhielt. Und vielleicht waren die Jäger genau deshalb geschickt worden. Entweder, um den Jungs den Garaus zu machen oder um die Mädels außer Gefecht zu setzen, die mit ihnen zusammen waren.

Doch es würde ihnen nicht gelingen.

„Sie haben auf uns gewartet, und ihr wisst alle, wie sehr ich es hasse, wenn jemand auf sein Opfer wartet“, knurrte Bianka, während sie ihren Rucksack mit Kleidung und Proviant fallen ließ. Man hörte ein dumpfes Geräusch, als der schwere Nylonbeutel im Schnee aufkam. „Zeit für eine kleine Bestrafung.“

„Ja.“ In dichter Folge landeten sechs weitere Pfeile in ihrem Baum, einer näher am Ziel als der andere. Sie zog zwei Dolche hervor, visierte ihre Ziele an, warf den ersten Dolch, dann den zweiten. Es ertönte ein Grunzen, ein Schrei. „Lass mir einen übrig, ja?“, bat Kaia, als sie ihre Tasche neben die ihrer Zwillingsschwester warf.

„Nein, verdammt. Du musst mir einen übrig lassen.“

„Wenn du es trotzdem machst, nenne ich dich auch nicht mehr Hure der Himmlischen Hügel.“ Kaia warf ihr einen Luftkuss zu, ehe sie sprang … fiel … und mit einem kaum zu vernehmenden Geräusch in Hockstellung landete. Kleine Schneeflocken flogen um sie herum, während sie blitzschnell ihre Umgebung scannte. Sie zählte dreiundfünfzig Jäger. Die meisten von ihnen befanden sich am Boden, die gespannten Bögen im Anschlag.

„Du kämpfst mit miesen Tricks, Kye“, rief Bianka von hinten. „Aber der Deal steht.“

Sie kicherte und freute sich, dass sie sich nicht würde beherrschen müssen. Weitere Pfeile perforierten die Bäume. Noch immer schlugen sie viel zu dicht ein, als dass man sich hätte wohlfühlen können. Ihre Harpyie bettelte kreischend, herausgelassen zu werden. Kaia versuchte nicht mal, den kleinen Liebling zurückzuhalten. Ihre Schwestern wussten, was sie zu tun hatten, wie sie sich aus der Schusslinie hielten. Augenblicklich verwandelte sich ihr Sichtfeld in einen schwarzen Tunnel, in dem kleine rote Punkte tanzten. Körperwärme.

Ihr Appetit auf Blut wurde so stark, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

Wenn diese Männer die Gelegenheit bekämen, würden sie Strider etwas antun, und deshalb würden diese Männer sterben. Qualvoll. Grinsend stand sie auf.

„Da, sie ist da drüben!“, rief jemand.

„Ich sehe sie!“

In der nächsten Sekunde rauschten Pfeile auf sie zu. Sie sah sie. Es waren sechs an der Zahl, und sie bewegten sich ganz langsam. Einen nach dem anderen fing sie sie auf, betrachtete sie und warf sie zu Boden.

„Habt ihr das gesehen? Unmöglich!“

Mit einem Sprung setzte Kaia sich in Bewegung. Binnen eines Augenblicks befand sie sich inmitten der Menschen. Mit reißenden Klauen und Zähnen tänzelte sie durch die Menge. Süßes Blut rann ihre Kehle hinunter. Schon bald erklangen rings um sie Schmerzensschreie und verzweifelte Gnadengesuche.

Gnade? Was war das? Dieses Wort kannte sie nicht. Das einzige Wort, das sie kannte, war „mehr“. Sie brauchte mehr. Mehr Schreie, mehr Blut. Sie riss noch inbrünstiger, biss noch enthusiastischer. La, la, la, das machte ja so viel Spaß. Oho! Sie kannte doch noch andere Wörter: so viel Spaß. Brechende Knochen machten das schönste Geräusch. Und wenn Haut zerriss, entstand das bezauberndste Schlaflied. Schrei, Schrei, Flehen. Schrei, Schrei, Flehen. La, la, la.

Viel zu schnell hörten die Körper auf, sich zu bewegen. Die Schreie und das Flehen erstarben. Keine Knochen mehr zu brechen. Keine Haut mehr zu zerreißen. Keine Schlaflieder mehr. Kaia hielt inne. Ihr Blick war finster. Aber … aber … sie wollte noch mehr. Warum konnte sie nicht noch mehr haben?

Sie atmete ein und aus – und der Duft von Zimt stieg ihr in die Nase. Und Zimt war gleich Strider.

Strider.

Ihr Strider.

Ihr unwiderstehlicher, sexy Gemahl, der sie Baby Doll nannte.

Die Harpyie kreischte und zog sich, gesättigt und auf Strider konzentriert, zurück.

Kaia blinzelte mehrmals, bis sich ihre Sicht klärte. Sie atmete schwer und merkte, dass ihre Haut von Schweiß bedeckt war. Nein, das war kein Schweiß. Das war Blut. Blut und … andere Sachen.

„Schön, dich wiederzuhaben, Schwesterchen“, sagte Bianka und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Wie versprochen habe ich einen beiseitegenommen und ihn für dich aufgehoben.“

Kaia schaute sich um. Sie sah roten Schnee und reglose Körper – oder vielmehr das, was davon übrig war. Die Menschen hatten ein Sprichwort: Wer sich mit einer Kugel anlegt, zieht den Kürzeren. Tja, die Harpyien hatten ebenfalls ein Sprichwort: Wer sich mit einer Harpyie anlegt, stirbt.

Der einzige noch lebende Mensch war an einen Baum genagelt. Pfeile ragten aus seinen Schultern und Fußgelenken hervor, und er zitterte, als Kaia auf ihn zuging. Jeder Schritt tat weh, sodass sie auf halber Strecke stehen blieb, um sich zu begutachten. Als sie nichts Ungewöhnliches sah, abgesehen von dem vielen Blut, zog sie den nun roten Mantel aus. Sie hatte Schnittwunden an Armen, Beinen und am Bauch – und eine Pfeilspitze in der Seite stecken. Mist.

„Mist“, sagte Bianka laut, als sie den Pfeil bemerkte. „Wir müssen das Ding rausholen, ehe es noch mehr Schaden anrichtet.“ Ihre Zwillingsschwester schnappte sich ihre Tasche, holte eine Zange heraus, drückte Kaia in Sitzposition hinunter und machte sich an die Arbeit. Jeden noch so kleinen Splitter zog sie heraus.

Wie das brannte … Am liebsten hätte Kaia geschrien und die Hand ihrer Schwester weggeschlagen, aber sie riss sich zusammen. Sie zwang sich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf ihr Team. Sie musterte Gwen, die zwar blass war, aber unversehrt. Neben ihr standen zwei weitere Teammitglieder: Juno und Tedra. Eine hatte ein paar Kratzer, aber die andere war mit Einstichstellen übersät und schwankte stark. Sie würde definitiv nicht am nächsten Wettkampf teilnehmen. Verflucht noch mal!

Und hatte Kaia vor Kurzem nicht den Duft von Zimt wahrgenommen? War es nicht das gewesen, was sie beruhigt hatte? Also wo war Strider jetzt?

„Fertig“, sagte Bianka und stand auf. Sie klang besorgt. Sie beide wussten, dass Kaia das Blut von Strider brauchte. Sonst wäre sie später in extrem schlechter Verfassung.

„Danke.“ Kaia stand auf und legte den restlichen Weg zu dem Jäger zurück. Er war mindestens zwölf Zentimeter größer als sie und bestimmt fünfzig Kilo schwerer, und dennoch verströmte er den Geruch von Angst – säuerlich und intensiv. Immerhin hatte er die Show aus der ersten Reihe mitverfolgen können.

„Bitte … töte mich nicht …“, heulte er. „Nicht so. Nicht so wie sie.“

„Keine Sorge“, versprach sie und lächelte kalt. „Und im Gegenzug wirst du mir einen Gefallen tun. Ja?“

„Ja.“ Tränen der Erleichterung liefen ihm die Wangen hinab. „Bitte, ja.“

„Gut. Das ist gut. Jetzt hör gut zu. Ich werde es nämlich nicht zweimal sagen.“ Sie zog den Dolch aus dem Knöchelhalfter und riss einen Streifen Pelz von ihrem Mantel ab.

„W…was machst du denn da? Du hast gesagt, du wirst mir nichts tun.“

„Nein. Ich habe gesagt, ich werde dich nicht töten, und das mache ich auch nicht.“ Mit flinken Bewegungen legte sie ihm den blutroten Streifen um den Hals. „Hörst du zu? Gut. Ich sage dir jetzt, was du tun sollst …“

Strider roch das Blut schon lange, bevor er die Lachen sah.

Er war Kaia schon seit Stunden auf den Fersen, und sein Dämon wurde immer wahnsinniger. Gewinnen, gewinnen, gewinnen. Wenn er das Wort noch ein Mal hörte, würde er jemanden umbringen. Nämlich sich selbst. Und dann Kaia. Das schien zwar unmöglich, aber er würde es schon irgendwie hinkriegen. Er war fest entschlossen. Und sie war die Einzige, die die Schuld an diesem Schlamassel trug.

Nur … als er schnüffelte, um sicherzugehen, dass er sich nicht getäuscht hatte, vergaß er seine Wut auf Niederlage und auf Kaia und dachte nur noch an ihre Sicherheit. Es roch definitiv nach Blut.

Er und Sabin tauschten einen Blick und rasten in Turbogeschwindigkeit durch die schneebeladenen Äste, die ihnen zum Dank für ihren Einsatz hart ins Gesicht klatschten. Strider hielt seine Sig Sauer in der einen Hand und einen Dolch in der anderen. Er war auf alles vorbereitet, außer darauf, Kaia verletzt vorzufinden. Oder gar …

Gewinnen, gewinnen, gewinnen.

Sie finden? Ja, das würde er. Sie retten? Ja, auch das. Lysander und Zacharel flogen über ihnen. Anscheinend hatten sie den Duft des Todes ebenfalls wahrgenommen, denn sie fingen an, wild mit ihren langen, eleganten Flügeln zu schlagen, als sie zum Sinkflug ansetzten.

Alle vier Männer erreichten den Schauplatz des Geschehens gleichzeitig.

Leichen lagen auf dem Boden. Alle männlich. Blut sickerte in den Schnee. Ein Beweis dafür, dass die Menschen keinen leichten Tod gestorben waren – aber am Ende hatten sie wahrscheinlich darum gebettelt, sterben zu dürfen.

Lysander ging zwischen den Leichnamen umher, schnüffelte, berührte sie. „Einige Harpyien sind verletzt.“

„Kaia auch?“, krächzte er, und ihm blieb das Herz stehen.

Eine schreckliche Pause. „Ja, aber sie ist weitergezogen. Sie sind alle weitergezogen.“

Den Göttern sei Dank. Sein Herz fing wieder an, einigermaßen regelmäßig zu schlagen.

„Diese Menschen waren vom Dämon Unfriede verseucht“, fügte Lysander hinzu. „Ihr Verstand war einzig auf Zwietracht aus.“

Rhea war vom Dämon Unfriede besessen. Und Rhea hatte allen Harpyien ihren Garten des Abschieds geöffnet. Um die Frauen ihrer Feinde besser vernichten zu können? „Nicht vom Dämon Hoffnung?“, fragte er.

„Nein. Hier war Unfriede am Werk, ohne Frage.“

Mist. Striders Aufgabe – Kaia zu beschützen – war jetzt tausendmal schwieriger. Aber das war ihm egal. Er täte, was getan werden müsste, selbst sich mit der Götterkönigin persönlich anlegen. „Woher weißt du das?“

„Jeder Dämon gibt einen charakteristischen Geruch ab.“ Er sprach die Worte voller Ekel. „Und aus diesem Mann sickert noch immer der beißende Geruch der Zwietracht.“

„Dann sind unsere Frauen in Gefahr“, meinte Sabin.

„Das wissen wir.“ Aber das war typisch Sabin – Captain Jackass der USS Offensichtlich. Strider rieb sich übers Gesicht. Er war gereizt. Auch das war Kaias Schuld. Die verletzt war und nicht an sein Blut kam, welches sie zum Heilen brauchte.

„Ich werde meine Engel rufen, damit sie das Chaos hier beseitigen“, sagte Zacharel.

Seine Engel? „Noch nicht.“ Inmitten des Todes stieg auch ihm ein Duft in die Nase. Kaias Duft, um genau zu sein. Zwar mochte sein Geruchssinn nicht so hoch entwickelt sein wie Lysanders, aber wenn es um Kaia ging, nahm er die kleinsten Dinge wahr.

Schnüffel. Er folgte dem kupferähnlichen Geruch, und Sabin folgte Strider. Schnüffel. Strider hockte sich hin und hob eine zerbrochene Pfeilspitze hoch. Die Spitze war mit Blut bedeckt. Er führte die Spitze zur Nase und schnüffelte noch mal, diesmal tiefer. Eindeutig erkannte er Kaias Duft. Sie war verletzt, wie Lysander gesagt hatte.

Nun, da der Beweis unmittelbar vor ihm lag, geschah etwas mit ihm. Ein roter Schleier der Wut legte sich über sein Sichtfeld. Der dünne Schaft zerbrach in seiner Hand. Ich muss sie halten. Muss mich davon überzeugen, dass es ihr gut geht. Und ich muss denjenigen verletzen, der sie verletzt hat.

„Sie ist in Ordnung“, meinte Sabin. „Sie ist weitergezogen. Der Engel kann nicht lügen.“

Er vernahm ein ersticktes Wimmern, und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an. Irgendwer lebte noch. Er und Sabin teilten sich auf und gingen von beiden Seiten um einen dicken Baumstamm herum. Ein Mann – ein Mensch, ein Jäger, dessen Arme seitlich festgenagelt waren, um sein tätowiertes Handgelenk zu präsentieren – war dort gefangen. Er trug nicht mehr als einen blutverschmierten Bogen um den Hals. Er war mit Fell bedeckt, das aussah wie von Kaias Mantel.

Ein Geschenk also.

Als der Jäger die Krieger erblickte, fing er an zu weinen.

Strider stob auf ihn zu, packte ihn am Kinn und drückte ihm seinen Dolch gegen die Wange. „Dass du noch am Leben bist, hat einen Grund. Welchen?“ Halt. Zuerst eine Vorsichtsmaßnahme. „Falls du es wagen solltest, mich auch nur mit einem Wort herauszufordern, werde ich dir die Kehle durchschneiden, bevor du zu Ende sprechen kannst. Kapiert?“ So etwas würde er seiner Harpyie durchaus zutrauen. Sie war ein gerissenes, kleines Ding und fest entschlossen, ihn abzuschütteln.

Tja, Pech gehabt. Rhea würde ihn in dem Augenblick angreifen, wenn sie ihn erblickte, aber das interessierte ihn nicht. Er durfte ihr nichts antun, weil ihr wehzutun bedeutete, Cronus wehzutun – und zwar buchstäblich –, und Cronus würden ihn anschließend zum Mittagessen verspeisen. Doch auch das interessierte ihn nicht. Er würde für Kaia da sein. Er würde sie um jeden Preis vor der Götterkönigin beschützen.

Wegen der Zweiadrigen Rute, ja. Wegen seines Dämons, das auch. Aber vor allem, weil er unbedingt zu Ende bringen wollte, womit sie in der Bar angefangen hatten. Wenn er nicht bald diesen geschmeidigen kleinen Körper unter sich spürte, würde er implodieren.

Was ist denn mit dem Vorsatz, bis nach dem Turnier zu warten?

Der dämliche Vorsatz wurde fallen gelassen. Ich will sie sofort.

„B…bist du St…Strider?“, fragte der Mensch.

Er nickte steif.

„I…ich soll dir sagen, d…dass du dir keine S…Sorgen machen sollst. Die F…Frauen haben alles im G…Griff.“

Sabin stellte sich neben Strider. „Ist das alles?“

Der Mensch zuckte zusammen. „N…nein. W…wenn ihr ihnen f…folgt, wenn sie euch s…sehen, lassen sie sich d…disqualifizieren.“

Strider und Sabin tauschten wieder einen Blick, der weit über „So ein Mist“ hinausging und eher nach „Verdammte Scheiße“ aussah. Wenn irgendwer gewillt war, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, waren das die Zwillinge.

„Danke, dass du die Nachricht überbracht hast“, sagte er zu dem Jäger – kurz bevor er ihn tötete.

Er rechnete damit, dass die Engel ihn rügten, aber sie schwiegen, als der Kopf des Menschen, dessen wertloses Leben nun ausgelöscht war, nach vorn fiel.

Manchmal ließ Strider seine Feinde davonkommen, in der Hoffnung, sie hätten ihre Lektion über die Grauabstufungen zwischen Gut und Böse gelernt. Aber diesmal nicht. Der Mann hatte Kaia angegriffen. Sein Schicksal war bereits besiegelt gewesen.

Der Sieg war winzig, und Niederlage reagierte kaum.

„Kommt“, sagte Strider, während er die Klinge seines Dolches an seiner Jeans abwischte und die Waffe zurück in die Scheide steckte. „Wir sind schon viel zu weit hinter ihnen zurückgefallen.“

Zacharel neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Du willst wirklich das Risiko eingehen, dass …“

Strider brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen. „Wir gehen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass uns niemand sieht.“