12. KAPITEL

Ich werde nicht versagen. Ich werde nicht versagen. Ich werde verdammt noch mal nicht versagen. Das Mantra kreiste durch Kaias Kopf, als sie sich in Position begab.

Neeka war die Erste, die für das Team Kaia im Ring stand. Mit gestrafften Schultern und hoch erhobenem Kopf stapfte die Rothaarige zusammen mit den ersten Kämpferinnen der anderen Teams in die Platzmitte. Bald standen zwölf Harpyien dort und warteten auf den Startpfiff. Die restlichen Kandidatinnen warteten entlang der Seitenlinie in Hockstellung mit ausgestreckter Hand.

„Der Sieg gehört uns“, murmelte Gwen neben ihr.

„Ich weiß“, erwiderte sie. Zum Glück klang ihre Stimme fest. Strider saß oben auf der Tribüne und sah in seinem T-Shirt mit aufgebügelter Krawatte und den zerrissenen Jeans zum Anbeißen aus. Der einzige Blick, den sie sich gestattet hatte, war ein Fehler gewesen. Er stellte eine Ablenkung dar, die sie sich nicht leisten konnte, doch sie hatte sich davon überzeugen müssen, dass er dort oben war und sie nicht im Stich gelassen hatte. Nun konnte sie nur noch beten, dass er Zeuge ihres Sieges würde und nicht ihrer Niederlage.

Ich werde nicht versagen. Zu viel stand auf dem Spiel. Ihr Ruf. Striders Respekt. Zum Teufel, sein Leben.

Auch wenn er ihren Bedingungen nicht zugestimmt hatte. Er hatte nie direkt gesagt, dass er darauf warten würde, ob sie die Rute gewänne und seine diebischen Hände solange bei sich behalten würde. Das war ihr erst vor einer Stunde klar geworden, als sie sich auf den Wettkampf vorbereitet hatte. Sie hatte sich dringend von ihrer Panik ablenken müssen, dass dieses Mal ihre ganze Welt auf dem Spiel stand, und war deshalb das Gespräch mit Strider in Gedanken noch einmal durchgegangen.

Hatte er vor, während der Spiele nach der Rute zu suchen? Höchstwahrscheinlich. Sie fragte sich, ob er ihr nicht zutraute, den Ersten Preis zu ergattern, oder ob er einfach zu ungeduldig war, um abzuwarten.

Denk jetzt nicht darüber nach. Konzentrier dich.

Ich werde nicht versagen.

„Warte ab, bis du Neeka kämpfen siehst“, sagte Taliyah beinahe … grinsend? Unmöglich. Taliyah grinste nie. Sie guckte auch nie böse. Oder schrie.

„Wenn sie so gut ist, warum hat ihr Clan sie dann gehen lassen?“, wollte Kaia wissen.

„Weil sie taub ist und ihre Leute Idioten sind. Außerdem hat sie den Titel ‚Erste, die auf die Palme geht und alle um sich herum umbringt‘ gewonnen.“

Und jetzt war sie auf Kaias Seite? „Wie nett!“

Das Schrillen der Pfeife prallte von den Wänden ab und dröhnte in Kaias Ohren.

Der Wettkampf hatte begonnen.

Sofort stürzten sich die Frauen in der Platzmitte aufeinander. Kaia sah angespannt zu. Sie griffen einander mit gebleckten Zähnen und scharfen Krallen an, und binnen weniger Sekunden knallten die ersten Körper in die Wand aus wartenden Kämpferinnen. Warmes Blut spritzte. Ihre Harpyie fing den Kupfergeruch auf und verlangte kreischend nach einer Kostprobe.

Ruhig, sie musste ruhig bleiben. Die Einzigen, denen sie etwas antun durfte, waren die Harpyien im Ring. Würde sie irgendwen außerhalb verletzen, hätte das ihre Disqualifikation zur Folge. Und wenn ihre Harpyie die Kontrolle übernähme, würde sie alle verletzen.

Jedes Team konnte es sich leisten, von einer Disziplin disqualifiziert zu werden, und sich dennoch für den Ersten Preis qualifizieren. Doch wenn das geschah, musste man hoffen und beten, dass man bei den anderen drei Disziplinen eine gute Show ablieferte und jedes Mal mindestens den dritten Platz belegte. Sonst hätte man keine Chance.

Ein gottloses Kreischen riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah zu Neeka hinüber. Die rothaarige Frau mit dem niedlichen Gesicht … gütige Götter. Neeka sprang hoch und schwebte in Matrix-Manier über den kämpfenden Frauen – in Zeitlupe, die Arme ausgestreckt, die Knie angezogen. Sie ließ den Blick über die Köpfe rasen und nahm Bestand auf, ehe sie sich für ihr nächstes Opfer entschied und blitzschnell hinunterschnellte. Sie landete auf zwei breiten Schultern, legte die Hände um den darauf sitzenden Kopf und drehte ihn kräftig herum. Man hörte ein Knacken, dann brach die arme Frau zusammen.

Autsch! Halsverletzungen waren besonders fies.

Neeka grinste zufrieden. In dem Moment rannte eine muskelbepackte Brünette in sie hinein und warf sie um. Neekas Kopf prallte krachend auf den Boden. Blitzschnell bildete sich eine Blutlache. Sie war benommen und unfähig, aufzustehen, was ihre Gegnerin zu ihrem Vorteil nutzte. Ein Fausthieb nach dem anderen prasselte einem giftigen Hagel gleich auf sie hinab.

Verdammt. Wenn Neeka bewusstlos geschlagen würde, könnte vorerst keine aus dem Team Kaia den Ring betreten. Und auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Schließlich musste jede Auswechselkämpferin abgeklatscht werden.

Einige andere bemerkten, dass Neeka am Boden lag. Sie drängelten sich um ihren hilflosen, angreifbaren Körper und prügelten auf sie ein.

„Komm schon, Neeka!“, rief Bianka von der Tribüne. Kaia hätte die Stimme ihrer geliebten Schwester überall und in jedem Lärm erkannt. Sie betete, dass Neeka die Anfeuerung irgendwie wahrnehmen konnte. Mit ihren tauben Ohren ging es ja nicht. „Zeig ihnen, dass du Eier aus Titan hast!“

„Töte sie!“, schrie eine andere. „Und hack ihr diese Eier ab!“

„Wie wär’s, wenn ich stattdessen dich töte, Miststück?“, keifte Bianka. Dann waren stampfende Schritte und ein gequältes Hmpf zu hören.

Ohne ihre Aufmerksamkeit vom Kampfgeschehen zu nehmen, wusste Kaia, dass ihre Zwillingsschwester die ungebetene Sprecherin soeben angegriffen hatte.

Irgendwie schaffte Neeka es, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Körper flogen in sämtliche Richtungen, als sie sich abermals in Matrix-Manier über ihre Konkurrentinnen in Position brachte. Doch dieses Mal setzte sie nicht zum Angriff an, sondern flog zu Gwen und klatschte mit ihr ab.

Gwen schoss in den Ring, und Kaia atmete erleichtert auf. „Gut gemacht“, sagte sie. Sie hätte Neeka gern auf den Rücken geklopft, hatte aber Angst, das arme, zitternde Ding dadurch in die Knie zu zwingen.

„Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen!“, schimpfte Neeka undeutlich durch geschwollene Lippen.

„Du wirst noch Zeit haben, dich zu rächen“, versicherte Taliyah ihr.

Was Juliette der Menge nicht erklärt hatte, war, dass sich jedes Teammitglied mindestens drei Mal in den Kampf stürzen musste. Falls eine Teilnehmerin das nicht schaffte, weil sie zum Beispiel tot war, wurde das betroffene Team disqualifiziert. Und um als Sieger eines Wettkampfes gekürt zu werden, mussten alle Mitglieder des jeweiligen Teams in der letzten Runde bei Bewusstsein sein.

Offenbar hatte es diese Disziplin auch schon bei den letzten drei Harpyienspielen gegeben. Gerüchten zufolge konnte sich das „Abklatschen“ über mehrere Tage erstrecken. Doch selbst dann waren keine Unterbrechungen erlaubt. Weder um zu trinken noch um zu heilen noch um aufs Klo zu gehen.

Außerdem hieß es, dass manchmal gewartet werden musste, bis das erste Team wieder vollständig bei Bewusstsein war, um die Siegerinnen zu küren.

Der Kampf ging weiter, und eine Gegnerin nach der anderen wechselte sich aus. So wie sich die erste Gruppe auf Neeka gestürzt hatte, machte es die zweite Besetzung mit Gwen. Aber sie war schnell und bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer Pistolenkugel.

„Du schaffst es, Baby!“, donnerte Sabins stolzerfüllte Stimme übers Spielfeld – lauter als jede andere zuvor.

Das Megafon, dachte Kaia.

Ein Mitglied vom Team Skyhawk packte Gwen beim Arm, als sie vorbeisauste, und wirbelte sie in die entgegengesetzte Richtung herum. Gwen nutzte den Angriff zu ihrem Vorteil, indem sie mehrere Gegnerinnen im Bowling-Stil umwarf. Die Unterlegenen vibrierten, so stark war ihr Drang, sich zu rächen. Im Nu waren sie wieder auf den Beinen und setzten zum nächsten Angriff an. Als sie realisierten, wer vor ihnen stand, stürzten sie sich auf sie. Einen Moment lang sah Kaia nur noch die fliegenden Beine ihrer Schwester.

Funken der Wut erhitzten Kaias Körper. Und wer war es wohl, die zu einem Schlag unterhalb der Gürtellinie ansetzte, indem sie Gwens Flügel packte? Dieselbe Harpyie aus dem Team Skyhawk. Aber was noch schlimmer war: Die Schlampe lachte dabei. Die Funken wurden heißer … flogen weiter …

„Runter von ihr!“, rief Sabin jetzt. „Ich schwöre bei den Göttern, dass ich sonst … Gut so, Baby! Ja! Weiter so!“

Gwen brüllte vor Wut und Schmerzen, als sie ein paar Frauen mit Tritten abschüttelte.

„Genau so“, rief er arrogant durch das übersteuerte Megafon.

Natürlich kamen die Frauen wieder.

Kaia brannte und vibrierte vor lauter Lust, in den Ring zu springen und irgendwen fertigzumachen.

Noch ein Brüllen, und dann bahnte sich Gwen unter Einsatz ihrer Krallen den Weg nach draußen. Vor Anspannung war ihr Gesicht kreidebleich, wodurch die Blutspritzer auf ihrer Haut irgendwie obszön wirkten. Es gelang ihr, sich bis zur Seitenlinie vorzukämpfen und mit Taliyah abzuklatschen, die mit voller Kraft in den Ring sprang.

Ihr erster Angriff galt der Soldatin ihrer Mutter. Sie warf die Frau zu Boden und drückte ihr Gesicht in die Holzplanken.

„Bist du okay?“, fragte Kaia ihre jüngere Schwester.

„Sie … haben mir … den … Flügel gebrochen“, erwiderte Gwen keuchend.

Oh verdammt. Kaias Hoffnungen stürzten in sich zusammen, ihr Körper kühlte ab. Die Flügel einer Harypie waren die Quelle ihrer Kraft. Wenn diese Flügel untauglich gemacht wurden, wurde sie unfassbar schwach. Gwen müsste mindestens noch zweimal in den Ring und kämpfen. Doch wie erfolgreich wäre sie noch, wenn sie so kraftlos agierte wie ein Mensch?

Noch ehe sie die Frage zu Ende gedacht hatte, hatte Kaia bereits mit dem Entwurf einer Strategie begonnen. Sie waren Kriegerinnen; sie konnten mit der Situation umgehen. Gwen würde gegen Ende des Wettkampfs ein zweites Mal in den Ring steigen und sich nach wenigen Sekunden auswechseln. Wenn schließlich alle anderen Teams kampfunfähig wären, könnte sie ein drittes und letztes Mal antreten. Zack, fertig. Ganz einfach.

Gewinnen.

Kaia blinzelte verblüfft. Das war nicht ihre innere Stimme gewesen, sondern die eines Mannes. Vertraut und zugleich … auch nicht. Nur eine Person – oder Kreatur? – sehnte sich genauso nach dem Sieg wie sie. Automatisch blickte sie nach oben. Strider saß nicht mehr zwischen dem kreidebleichen Sabin und dem stoischen Lysander. Er war überhaupt nicht mehr auf der Tribüne.

Sie sah rote Punkte aufflackern, als sie den Blick wieder auf das Kampfgeschehen richtete. Die Wölfinnen hatten sich gemeinsam auf Taliyah geworfen. Sie prügelten und traten auf sie ein, während sie sie zu Boden warfen. Nur konnten sie sie nicht unten halten. In einem Moment war sie da, war sie der Mittelpunkt ihrer Wut, und im nächsten war sie verschwunden und ließ nur noch eine schwarze Rauchwolke zurück.

Die Gegnerinnen tauschten irritierte Blicke. Hinter ihnen erschien noch eine Rauchwolke, und aus ihrer Mitte trat Taliyah. Sie wirbelte um ihre eigene Achse, wodurch sie eine unaufhaltsame Stoßkraft entwickelte, und schlug aus. Köpfe knallten zusammen, Körper fielen um.

Als die noch Stehenden begriffen, was da vor sich ging, stürzten sie sich abermals auf die große, schlanke Taliyah. Und abermals verschwand Kaias ältere Schwester in einer Rauchwolke, nur um danach an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen.

Dasselbe wiederholte sich mehrere Male. Gnadenlos schlug und biss Taliyah um sich, bevor sie davontänzelte. Doch die Harpyien, die sie auf die Bretter schickte, rappelten sich schnell wieder auf und klatschten mit ihren Teamschwestern ab.

Wie Kaia hatten auch sie Taliyah beobachtet und gelernt, ihre Bewegungen zu antizipieren, indem sie nach dem Rauch Ausschau hielten. Und als Taliyah das nächste Mal Gestalt annahm, warteten sie bereits auf sie. Sofort traf sie eine Faust am Kinn, sodass sie nach hinten geschleudert wurde. Doch niemand näherte sich ihr, weil alle wussten, was gleich geschähe. Und richtig – als sie sich wieder gesammelt hatte, verschwand sie erneut. Von Neuem wurde sie von einer Faust getroffen, als sie wieder erschien, und von Neuem flog sie quer durch die Luft.

Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich sah sie Sterne. Auch dieses Mal stürzten sie sich nicht auf sie, sondern warteten einfach ab.

Taliyah sah Kaia aus ihren eisblauen Augen an.

Jetzt bin ich an der Reihe, dachte sie und streckte eifrig die Hand aus. Komm schon.

Taliyah raste nach vorn und trotzte hämmernden Fäusten und Stiefeln, um zu … Neeka zu gelangen.

Einen Moment lang war Kaia vor Schreck wie erstarrt. Dann traf die Realität sie wie ein rechter Haken, und sie knurrte gekränkt: „Was soll das, Tal?“

„Ist besser so“, erwiderte ihre Schwester keuchend.

Was? Ihre Schwester zweifelte an ihren Fähigkeiten? Oh, das tat weh. „Du weißt doch, dass ich dreimal rein muss.“

„Ja, aber es ist besser, wenn du am Ende reingehst.“

Wenn alle geschunden, ramponiert und am Ende ihre Kräfte waren. Oh, das schmerzte noch mehr. „Gwens Flügel sind kaputt. Sie muss am Ende rein, nicht ich.“

„Das wird sie auch. Sie wird kurz vor dir reingehen.“

Diesmal tat es nicht nur weh. Diesmal zerstörte es sie. Ihre Familie liebte sie, ja, aber wie ihre Mutter – und wie Strider – hatten sie kein Vertrauen in sie. „Du bist nicht die Anführerin unseres Teams. Dieses Recht hast du an mich abgetreten.“

„Siehst du denn nicht, was die mit uns machen, kleine Schwester? Verfeindete Teams verbünden sich, um uns zu schlagen. Aber dich, dich werden sie versuchen zu massakrieren.“

„Ich weiß.“ Sie hob das Kinn. „Und ich bin darauf vorbereitet.“

Gewinnen.

Wieder diese tiefe, heisere Stimme. Aber entgegen ihrer Hoffnung war es weder Strider noch sein Dämon, denn schließlich war der Krieger überhaupt nicht in Sichtweite. Aber … wer war es dann?

Taliyah seufzte. „Na schön. In Ordnung. Wenn du als Nächste rein willst, dann geh. Aber dann wird die Niederlage auf deinen Schultern lasten.“

Die Niederlage. Als wäre es klar, dass sie verlieren würde.

In Kaias Augen brannten Tränen, als sie sich wieder auf den Kampf konzentrierte. Die Schwellung in Neekas Gesicht war zurückgegangen, sodass ihre Sicht nicht länger eingeschränkt war. Dennoch wussten alle ihre Gegnerinnen, dass sie taub war, und nutzten diese Schwäche schamlos aus. Sie riefen einander Anweisungen zu, die Neeka nicht hören konnte, und planten Angriffe, gegen die sie sich nicht wehren konnte.

„Du gehst von rechts an sie ran und ich von links.“

„Ich bin in der Mitte.“

„Und ich hinten.“

Neeka sprang in die Luft.

„Pack sie am Knöchel!“

Die Frau in der Mitte befolgte das Kommando, wirbelte Neeka herum und warf sie in die entgegengesetzte Richtung ihrer Teamkolleginnen, sodass sie nicht abklatschen konnte. Die Luft rauschte durch ihre aufgeplatzten Lippen, als sie auf dem Boden aufschlug. Eine Gegnerin wartete bereits auf sie und trat sie in den Magen. Sie krümmte sich, versuchte einzuatmen.

Das Rot in Kaias Blickfeld verdunkelte sich zu Schwarz. Soweit ihr bekannt war, hatten gegnerische Teams noch nie zusammengearbeitet. Dass sie es nun taten … dass Kaias Niedergang das Ziel war, welches sie einte … dass sie sie immer noch so hassten … hinterließ ein wundes Gefühl in ihrem Innern.

Sie war noch ein Kind gewesen, als sie ihre Familien unabsichtlich zerstört hatte, Götter noch mal!

Aber jetzt war sie kein Kind mehr, und es war höchste Zeit, diesen Frauen zu zeigen, dass sie sich nicht einfach hinlegen und alles über sich ergehen lassen würde. Mit wachsender Entschlossenheit verschmolzen die schwarzen Punkte miteinander. Ihr Blickfeld war fast vollständig verdunkelt, und sie sah nur noch die Wärme der Körper, die vor ihr kämpften.

Beruhig dich, bevor du vergisst, wo du bist und was du tun darfst.

Tief einatmen … kräftig ausatmen … Das half nicht. Kaia rief sich Striders Bild ins Gedächtnis. Seine blonden Haare, die marineblauen Augen, das freche Grinsen. Endlich löste sich das Schwarz auf, und sie konnte wieder normal sehen. Sie sah zu, wie Neeka sich aus der Mitte der Gewalt ihren Weg zu Taliyah bahnte.

Wie versprochen behielt ihre Schwester die Hände an den Seiten. Kaia streckte eine Hand aus und berührte vorsichtig Neekas Finger, die offenbar gebrochen waren. Die Ärmste brach auf der Seitenlinie zusammen, als Kaia in den Ring trat. Zuerst verharrten alle in ihren Bewegungen und funkelten sie einfach nur wütend an. Ihre Gegnerinnen bluteten, schwitzten und atmeten schwer. Und ganz offensichtlich hatten sie auf sie gewartet.

„Deinetwegen ist meine Schwester gestorben.“

„Ich habe eine Tochter verloren.“

„Aus Respekt vor deiner Mutter haben wir uns nie an dir gerächt. Aber nun hat sie dich endlich verleugnet.“

Keine Reaktion. Wieder stieg das Brennen in ihrer Brust hoch, doch sie kämpfte es nieder. Und sperrte es weg. Nur nicht zur Harpyie werden. „Gut. Dann wollen wir doch mal sehen, was ich für euch tun kann.“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass deine Fähigkeiten mich enttäuschen werden.“

Die Frauen kicherten boshaft, während Kaia errötete. Im nächsten Moment drehten sich alle gleichzeitig um und wechselten sich gegen ein anderes Teammitglied aus. Sie erkannte die Frau aus dem Team ihrer Mutter. Hatte einst mit ihr trainiert.

Wie Kaia hatten auch diese Frauen noch nicht gekämpft. Sie waren bei vollen Kräften und fest entschlossen, sie einzusetzen. Und zwar ohne Zweifel allein gegen sie.

Du bist stark. Du kannst sie besiegen.

Gewinnen!

Ja. Das würde sie.

Das war ihr letzter Gedanke, bevor ihre Gegnerinnen zum Angriff ansetzten. Kaia duckte sich und wirbelte herum, verteilte Tiefschläge und heftige Kratzer. Irgendwer schaffte es, sie mit einem harten Faustschlag an der Schläfe zu treffen, doch das hielt sie nicht davon ab, mit ihren Krallen mehrere Achillessehnen durchzuschneiden. Schmerzerfüllte Grunzlaute erklangen, gefolgt von dem krachenden Geräusch von Knien, die auf Holz knallten.

„Gut so!“, rief Strider.

Er war hier. Er war immer noch hier. Schwindelerregende Freude durchflutete sie, aber sie hatte keine Zeit, das Gefühl zu genießen. Denn schon wieder stürzten sich die Harpyien auf sie. Diesmal ließ sie sich von ihnen einkreisen. Als sie zuschlugen, bog sie den Rücken durch, schwang die Ellbogen vor und zurück und trat um sich, wobei ihre Bewegungen fließend ineinander übergingen.

GEWINNEN!

„Rupf ihnen die Augen raus!“, schrie Bianka.

Nicht ein Mal wurde ihr Tanz langsamer, obwohl sie nicht unversehrt blieb. Sie wurde überall geschlagen. Sie wurde überall getreten. Schon bald verknoteten sich ihre geschundenen Muskeln, und ihre Gliedmaßen zitterten. Doch das Wissen, dass Strider da oben war und ihr zusah, gab ihr Kraft. Mehrere Male versuchte das Brennen, aus seinem Käfig zu entkommen, doch ihr eiserner Griff hielt es unerbittlich fest.

Mit einem Ellbogencheck gegen die Luftröhre schaltete sie eine ihrer Konkurrentinnen ein für alle Mal aus. Blieben noch zehn. Eine weitere ging zu Boden, als Kaia sich Neekas Trick bediente und ein Genick brach.

Das machte die neun Verbleibenden noch wütender, und ihre Angriffe wurden umso wilder.

Kaia schoss aus der Horde hervor. Ihr Plan war es, loszurennen und so viel Schwung zu bekommen, dass sie irgendwem die Zähne bis ins Gehirn treten konnte. Doch sie wurde an den Haaren gepackt und nach hinten gerissen. Sie knallte gegen eine harte Wand, und im nächsten Moment prasselten unzählige Fäuste auf sie nieder.

„Komm schon!“, brüllte Strider. „Du hast doch viel mehr drauf! Wehr dich!“

„Friss ihre Zungen zum Abendessen!“, schrie Bianka.

Obwohl sie mit aller Kraft kämpfte, gelang es den anderen ohne große Mühe, sie festzuhalten. Diejenigen, die nicht ihre Arme oder Beine festnagelten, flogen in die Luft und schlugen heftig auf sie ein. Sie spürte, wie Knochen brachen und Organe rissen.

Die anderen lachten. Dann konnte sie ihre selbstgefälligen Gesichter nicht mehr sehen – ein Glück! Die Welt um sie herum versank in einem tiefen Schwarz. Aber nicht in dem guten Schwarz, das sie vielleicht hätte retten können. Bevor sich ihre Harpyie aus dem Käfig befreien konnte, drehte man sie auf den Bauch und ließ ihren Flügeln die gleiche brutale Behandlung zukommen.

Dieser Schmerz … diese Qual … die Niederlage … das Versagen …

„Verdammt, Kaia!“ Strider.

„Nein! Neeeeeiiiin!“ Bianka.

„Befrei dich.“ Taliyah.

„Beweg dich, Kye. Komm zu mir.“ Gwen.

Gewinnen! Gewinnen!

Ein warmer Schwall in ihrer Kehle, in ihrem Mund. Ein warmes Rinnsal an ihrer Wange. Vielleicht füllte das Blut auch ihre Ohren, denn der Lärmpegel wurde leiser … immer leiser … bis sie nur noch Stille wahrnahm. Dann hämmerte ihr eine Faust in die Schläfe, wieder und wieder, und sie war sich auch der Stille nicht länger bewusst.

ES GAB NUR NOCH VERGESSEN. SÜSSES VERGESSEN.