26. KAPITEL

Gewinnen, gewinnen, GEWINNEN.

Während Strider gegen den stärksten Unsterblichen kämpfte, dem er je begegnet war, sang sein Dämon aufgeregt und nervös. Das wäre ja gar nicht so schlimm gewesen und hätte ihn gar nicht so abgelenkt, wenn nicht noch eine weitere Stimme in seinem Kopf gewesen wäre. Tabithas Stimme. Sie trieb ihn immer weiter auf eine tobende Dunkelheit zu, die er noch nie zuvor erfahren hatte.

Sie wollen sie umbringen. Sie werden sie umbringen.

Er wusste verdammt genau, dass die Harpyien sie umbringen wollten. Aber würden sie es auch schaffen? Hölle, nein. Doch wenn Tabitha mit ihm sprach, konnte sie sich unmöglich mit Juliette treffen. Und wenn sie sich nicht mit Juliette traf, warum zur Hölle hatte er dann eine Herausforderung angenommen, die er womöglich nicht gewinnen würde, nur um die anderen abzulenken und Kaia die Möglichkeit zu geben, ins feindliche Lager einzudringen?

GEWINNEN!

Du bist mir keine große Hilfe. Er spürte harte Knöchel an seinem Mund, und seine Zähne zerfetzten dem Bastard die Haut. So hatte er sich die Sache nicht vorgestellt. Sein Gehirn knallte gegen seinen Schädelknochen, und einen Moment lang sah er Sterne. Er hasste Sterne. Er schmeckte Blut, schluckte es runter. Lazarus rollte sich auf ihn und hielt seine Schultern mit spitzen Knien am Boden. Box, box, box.

Knochen knackten. Brachen. Zerschmetterten.

GEWINNEN!

Ich weiß, verdammt, knurrte er seinen Dämon an. Und er würde diesen Kampf gewinnen. Sobald er seine Messer in dem blutverschmierten Schnee wiederfände. Dann würde der Dreckskerl seinen Kopf einbüßen. Vielleicht. Hoffentlich.

Bestimmt.

Auf jeden Fall würde er Lazarus die Eingeweide herauszerren. Er war eine Bedrohung für Kaia. Und Kaias Bedrohungen durften nicht am Leben gelassen werden.

Sie wird sterben. Heute Nacht. Du kannst nichts tun, um sie zu retten. Schon wieder Tabitha.

Box, box, box.

Noch mehr Sterne, noch mehr Schmerzen. Die Wut raste durch seinen Körper wie ein Blitz, den man zu lange eingesperrt hatte. Mit aller Kraft bäumte er sich auf, sodass Lazarus krachend hinter ihm landete.

Augenblicklich war Strider aufgestanden. Durch geschwollene Augen sah er Lazarus fröhlich grinsen, als er sich ebenfalls hochrappelte. Strider wusste genau, dass sein Gegner ihm viel Schlimmeres hätte antun können. Er hätte Filetstücke aus ihm machen können. Doch stattdessen hatte das Kind einer Göttin und eines albtraumhaften Ungeheuers seine Fäuste benutzt. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?

Als die Harpyien jubelten, umkreisten die Krieger einander.

„Tz, tz, tz. Wie berechenbar du bist“, sagte Lazarus. Wie seltsam. Er hatte die Sprache der Götter genutzt, die vor langer, langer Zeit gesprochen worden war. Eine Sprache, die die Harpyien vermutlich nicht verstanden.

Strider antwortete in der gleichen harschen, fast vergessenen Sprache. „Wie pathetisch du bist. Lazarus der Schoßhund, Juliettes Haustier.“

Auf Wiedersehen Lächeln. Ein goldener Stern für Strider – und plötzlich mochte er Sterne. Na, so was. Niederlage lachte leise.

„Denkst du, dir wird es anders ergehen? Dein kleiner Rotschopf wird dich genauso versklaven, wie Juliette mich versklavt hat. Was meinst du eigentlich, worum es bei diesem Turnier wirklich geht? Nicht etwa um die idiotischen Wettkämpfe, die diese Frauen so gern bestreiten. Hier geht es einzig darum, den Rotschopf zu bestrafen.“

„Für das, was du getan hast – nach allem, was ich gehört habe.“

Lazarus zuckte unbeeindruckt die Achseln. „Sie hat mich befreit. Deshalb trägt sie die Schuld.“

„Sie war noch ein Kind.“

Wieder ein Achselzucken. „Und ich war stinkwütend über meine Situation. Ich kann mich nicht kontrollieren, wenn ich wütend bin.“

Was bedeutete, dass er im Augenblick nicht stinkwütend war. Oder falls doch, hielten ihn die eintätowierten Ketten an Hals und Handgelenken davon ab, diese Wut rauszulassen.

„Nun kämpft schon weiter“, rief eine Harpyie.

„Aber echt. Wie laaaangweilig!“, beschwerte sich eine andere und warf ihre leere Bierflasche nach Strider. Sie zerschellte an seinem Bauch.

GEWINNEN!

Dämlicher Dämon.

Während du plauderst, stirbt sie gerade. Und wieder die sympathische Stimme von Tabitha.

Er presste die Backenzähne aufeinander. Er wusste, dass die alte Hexe ihn nur verhöhnte. Dass sie versuchte ihn abzulenken, ihn zu provozieren, ihn dazu zu bringen, sich der Auseinandersetzung zu entziehen und absichtlich zu verlieren. Dann wäre er außer Gefecht gesetzt, und Kaia wäre verwundbar.

„Wenn Juliette so mächtig ist, warum hat sie dann nicht schon längst versucht, mich zu versklaven?“, wollte Strider wissen. Zuerst die Antworten, dann die Prügel. „Wie du mir, so ich dir.“

Lazarus sah ihn mitleidig an. „Hast du denn gar nichts gelernt? Die Harpyien genießen Drama und Theatralik mehr als jede andere Rasse.“

Kein Zweifel. „Wie hat sie es eigentlich geschafft? Du bist ein ziemlich tougher Kerl – für ein Weichei. Wie hat sie dich zu ihrem Sklaven gemacht?“

Seine geschwollenen Lippen zuckten. Vor Belustigung? „Genau wie du. Ich kann dir nur eins verraten: Hüte dich vor dem ersten Preis.“

Vor der Rute? Die Rute hatte Lazarus zum Sklaven gemacht. „Dann ist es also die echte?“ Da ging sie dahin – seine Theorie von der falschen Rute. Obwohl er sich so sehr gewünscht hatte, dass sie stimmte. Keine Hände waren besser als die falschen Hände.

„Kann ich nicht sagen.“

„Willst du nicht sagen, meinst du.“

In den onyxfarbenen Augen funkelten tausend Geheimnisse. „Nein. Ich kann nicht. Schon mit dem bisher Gesagten bewege ich mich am Rande des Gehorsams.“

„Und was passiert, wenn du ungehorsam bist?“

„Schmerzen. Tod. Die üblichen Verdächtigen. Und jetzt muss ich dir leider sagen, dass ich dich weiter ablenken muss.“

Strider zog eine Augenbraue hoch. „Das findest du schade?“

Ein überzeugendes Nicken. „Du bist kein schlechter Kerl, und ich mag den Rotschopf. Sie ist so herrlich kratzbürstig.“

Sie gehört mir.

Ein Grinsen – so langsam und dick wie herabtropfender Honig. „Zuerst musst du überleben.“ Eine weitere Warnung gab es nicht. Lazarus schoss so schnell nach vorn, dass er mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erkennen war.

Wieder hämmerten Fäuste auf Strider ein, und er stürzte unter Schmerzen zu Boden. Während die Schläge auf ihn niederprasselten, drehte er sich. Es war ihm egal, dass er keine Luft mehr bekam, Hauptsache er konnte sein Gesicht schützen.

Gewinnen!

Zumindest schrie sein Dämon nicht mehr. Mit dem Blick suchte Strider den Schnee und die Harpyien nach Waffen ab, schoss dabei nach links und rechts, raste um die Harpyien herum in der Hoffnung, sein Gegner würde nicht sie schlagen, um ihn zu treffen. Der Typ erinnerte Strider an Sabin, der Männer und Frauen im Kampf als gleichberechtigt betrachtete und niemanden diskriminierte, wenn es ums Töten ging. Aber Juliette war seine Gebieterin und hatte ihm wahrscheinlich verboten, ihren Schwestern etwas anzutun.

Endlich. Er erspähte Breitschwerter. Nicht seine, sondern die einer Harpyie. Er zog sie aus den Scheiden auf ihrem Rücken.

„He!“, kreischte sie, als sie ihn bemerkte.

Strider schoss davon, ehe sie ihm eins verpassen konnte. Auf dem Eis geriet er ins Schliddern. Er rang um Balance, lief jedoch weiter und lauschte dabei nach irgendwelchen verräterischen Geräuschen, die vielleicht Lazarus’ Position preisgaben.

Er vernahm das empörte Schnaufen von Frauen direkt hinter ihm. Das hieß, dass irgendwer die Harpyien rücksichtslos zur Seite schob, statt um sie herumzutänzeln. So ein Anfängerfehler, dachte er. Für so was war Lazarus ein viel zu guter Kämpfer. Wollte er etwa verlieren?

Verflucht, Strider wollte ihn nicht mögen.

Als er eine freie Strecke erreichte, wirbelte Strider herum, duckte sich und streckte die Arme – die Schwerter fest in den Händen – zu den Seiten aus. Treffer. Lazarus sprang zwar hoch, allerdings zu spät. Das scharfe Metall schnitt ihm in die Knöchel, brachte ihn zu Fall. Und als er fiel, fiel er hart. Das Eis wich bei seinem Aufprall keinen Millimeter zurück.

Während Niederlage in Striders Kopf jubelte – gewonnen, gewonnen, gewonnen – nagelte er den Krieger genauso fest, wie es ihm zuvor ergangen war, mit den Knien auf den Schultern. Lazarus leistete keinen Widerstand.

„Das tat weh.“

„’Tschuldigung.“ Strider rammte die Schwertspitzen neben den Schläfen des Mannes in den gefrorenen Boden. „Und vielen Dank auch“, sagte er, während er sich bemühte, das Glücksgefühl niederzuringen, das der Sieg mit sich gebracht hatte. Er durfte sich nicht ablenken lassen.

Überrascht sah Lazarus ihn an.

„Denkst du etwa, ich hätte nicht gemerkt, dass du absichtlich verloren hast? Du hältst mich wohl für total bescheuert.“ Wieder benutzte er die antike Sprache der Götter.

Im nächsten Moment riss sich das Glücksgefühl von seinen Ketten los … er konnte es keine Sekunde länger unterdrücken. Zusammen mit Niederlage zitterte und stöhnte er.

Funken der Ekstase entzündeten sich in seinen Adern und heizten ihn auf. Nicht so sehr wie beim Sex mit Kaia, aber genug, dass er eine astreine und extrem peinliche Erektion bekam.

Noch ehe Lazarus etwas sagen konnte, verwandelte sich seine Verwunderung in Belustigung, und er zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Ist nicht deinetwegen“, sagte Strider und wurde rot.

„Den Göttern sei Dank.“

„Und?“ Lass uns den Rest schnell hinter uns bringen. „Erholst du dich schnell?“

„Ja.“

„Dann entschuldige ich mich schon mal im Voraus, aber ich brauche fünf Minuten alleine und darf nicht riskieren, dass du mir folgst.“ Er riss die Schwerter aus dem Eis und rammte sie Lazarus in die Schultern. „Tu mir einen Gefallen und bleib liegen.“

Ein Grunzen, als der massige Körper verkrampfte. Buhrufe aus allen Richtungen.

Strider sprang auf und begab sich außer Reichweite, wobei er bereits mit fieberhaftem Blick die Umgebung scannte. Die Harpyien sahen ihn mit offen stehenden Mündern an, wichen sogar zurück. Ein paar von der mutigen Sorte winkten ihm auffordernd zu oder lächelten ihn verführerisch an – unverblümte Angebote, mit ihnen ins Bett zu steigen.

Er fing Sabins Blick auf. Lysander stand neben ihm. Hinter seinen Schultern ragten die Bögen seiner goldenen Flügel auf. Trotz der Kälte schwitzten die zwei. Anscheinend hatten sie von dem Tumult Wind bekommen und waren herbeigeeilt.

Mit einer kurzen Kopfbewegung zeigte er zu dem Berg zu seiner Linken, und sie nickten. Während Lazarus ihm ins Gesicht geschlagen hatte, hatte er Kaia nicht aus den Augen gelassen. Sie war auf diesen Berg geklettert und in einer Höhle verschwunden.

Entschlossen stapfte er los. Nach wenigen Schritten flankierten die zwei Gemahle seine Seiten. Auf dem Weg meinte er, Rauch zu riechen. Und brennendes Fleisch. Von einer plötzlichen Panik gepackt, blickte er nach oben. Unter die Panik mischte sich Furcht. Aus der Höhle kam dunkler Rauch.

Verdammt! Keine Zeit zu klettern. „Bring mich da rauf!“, verlangte er. „Sofort.“

Lysander erfasste die Dringlichkeit der Lage. Er packte Strider unter den Armen, streckte die Flügel aus und ging in die Knie, um sie abzustoßen. Sie schossen in die Luft, und der Engel setzte ihn auf dem Felsvorsprung ab, ehe er wieder nach unten flog, um das Gleiche mit Sabin zu wiederholen.

„Kaia!“ Strider rannte hinein und hustete, als der dichter werdende Rauch in seiner Kehle brannte. Mit der Hand wedelte er vor seinen Augen herum, um irgendetwas erkennen zu können. Dann stand er im Mittelpunkt der Verwüstung, und es gab keinen Grund mehr, die Dunkelheit wegzuwischen. Er konnte alles sehen.

Mindestens fünfundzwanzig Körper brannten. Die Flammen, die auf ihnen züngelten, beleuchteten die Umgebung. Die Leichen waren so verbrannt, dass er nicht sagen konnte, ob es Männer oder Frauen waren. Das Herz sprang ihm beinahe aus der Brust, als sich mit einer neuen Panikwelle sein Blut erhitzte. Sie konnte nicht unter den Toten sein. Sie konnte einfach nicht.

Dann hätte er sie im Stich gelassen. Er konnte sie nicht im Stich gelassen haben. Er brauchte sie. Er liebte sie. „Kaia“, sagte er trotz des Kloßes in seiner Kehle. „Kaia, Baby Doll. Wo bist du, Liebes?“

„Was zur Hölle ist denn hier los?“, sagte Sabin hinter ihm.

„Große Gottheit!“, keuchte Lysander.

Strider ignorierte sie, während er sich runterbeugte, um die Leichen zu inspizieren, die am nächsten lagen. Zitternd streckte er die Hand aus und nahm den Dolch, der in der schwarzen Hand lag. Der Griff war so heiß, dass er sofort Brandblasen bekam, doch er ließ ihn nicht los. Aber er kannte ihn auch nicht. Okay. Gut. Das war sie schon mal nicht.

Wenige Meter vor ihm erklang ein Wimmern. Von einer Frau. Gequält. Vertraut. Das süßeste Geräusch. Im Nu war er auf den Füßen und rannte los. Dann sah er sie und blieb abrupt stehen. Sein Magen verkrampfte sich.

Sie hing an der Wand.

So erleichtert er auch war, dass sie lebte, wäre er am liebsten gestorben. Man hatte ihr Schwerter durch die Schultern gebohrt und an die Felswand genagelt. Das Blut lief über ihren nackten Körper und zeichnete rote Linien auf ihre Haut. Wenn sie sie vergewaltigt hatten …

Allein bei dem Gedanken war Strider bereit, sich seinem Dämon zu öffnen, seine böse Hälfte regieren und jeden Erdenbürger zu Brei schlagen zu lassen.

Verschieb die Wut auf später. Jetzt musst du dich um sie kümmern. Ein schwerer Schritt, dann noch einer.

Auf seinem Hemd knisterten Flammen, die den Stoff verbrannten und seine Haut versengten. Er blieb stehen und versuchte, sie auszuklopfen. Als das nicht klappte, zerrte er sich den Stoff über den Kopf und warf ihn weg. Erst da erlosch das Feuer.

„Was ist mit ihr …“

„Raus hier“, knurrte Strider und schnitt Sabin das Wort ab. „Beide. Sofort.“ Sie würde nicht wollen, dass irgendwer sie so sah.

Schweigen. Zögerliche Schritte. Strider sah seine Frau unentwegt an. Ihre Augen waren pechschwarz. Nicht ein weißer Punkt war darin zu sehen. Dafür waren sie durchsetzt mit denselben Flammen, die ihn gezeichnet hatten. Sie knisterten wütend.

„Kaia“, sagte er sanft.

Sie kämpfte gegen die Schwerter an und wimmerte erneut.

„Halt still, Baby Doll. Okay?“ Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Ein Fehler. Seine Jeans fing Feuer. Wieder blieb er stehen. Diesmal hielt er sich gar nicht erst damit auf, die Flammen auszuklopfen, sondern schnitt sich den störenden Stoff vom Körper. Nun stand er nur noch in Unterwäsche und Stiefeln da.

„Hör mir zu, Baby Doll. Ja?“, sagte er in einem neuen Versuch. Er ließ das Messer sinken, damit sie nicht glaubte, er wollte sie angreifen. „Bitte hör mir zu. Ich will dir helfen. Und ich werde dir helfen, ob du willst oder nicht. Bitte töte mich nicht, bis ich dich hier rausgebracht habe.“

Er rechnete damit, dass Niederlage gegen das viele „Bitte“ protestieren würde. Es vielleicht sogar als Herausforderung verstünde. Doch der Dämon schwieg. Fürchtete er sich immer noch vor Kaia? Oder bedauerte er, was man ihr angetan hatte, nachdem sie in seinen Armen so viel Lust erfahren hatten?

„Ich komme jetzt.“ Strider atmete die dicke Luft ein … hielt den Atem an … und weiter an … und ging nach vorn. Seine Haut wurde immer wärmer, doch er fing nicht noch mal Feuer, und endlich war er bei ihr. Unendlich vorsichtig nahm er ihr Gesicht in die Hände und fuhr ihr mit den Daumen über die zarten Knochen, die unter dieser seidigen Haut lagen. Überrascht stellte er fest, dass seine Krallen herausgekommen waren. Die Krallen des Dämons. Doch er verletzte sie nicht, sondern war sanft, ganz sanft.

„Oh Baby“, stöhnte er, und seine Brust schmerzte. „Es tut mir so leid.“

Aus den Winkeln dieser mitternachtsschwarzen Augen liefen Tränen, und er wusste, dass er die Frau in ihr erreichte. Er hatte sie nicht vor dieser Untat beschützt und wusste nicht, warum er sich deshalb nicht vor Schmerzen krümmte. Weil sie wieder heilen würde? Bitte lasst sie wieder heilen. Weil nicht die Harpyien ihr das angetan hatten, sondern jemand anderes? Wenn dem so war – wer war es dann gewesen? Wieder mal die Jäger?

Verzweifelt, wie er war, hätte er sich am liebsten die Halsschlagader aufgeschnitten und sie so viel heilendes Blut trinken lassen, wie sie brauchte. Doch das ging nicht. Noch nicht. Er konnte nicht riskieren, dass ihre Knochen und ihre Haut um das Metall herum heilten, das sie festnagelte.

„Ich werde jetzt die Schwerter herausziehen, okay?“ Er durfte nicht zulassen, dass so was noch einmal mit ihr geschah. Niemals. Es war einfach unerträglich. Das ist eine Herausforderung, sagte er zu Niederlage. Und zwar eine, die du annehmen wirst. Wir müssen sie beschützen, und wenn wir noch mal versagen, werden wir leiden. Auch wenn sie später wieder heilt. Verstanden?

Eine Pause. Dann ein leises: Gewinnen.

Obwohl Strider sie am liebsten nicht losgelassen hätte, tat er es, und packte die Schwerter. Sie waren heißer als der Dolch, mit dem er sich die Hose aufgeschlitzt hatte, und seine verbrannten Hände pochten vor Schmerzen. Es war ihm egal. Sein Schmerz war unwichtig. Es zählten einzig ihre Schmerzen. Er wusste, dass die kleine Bewegung ihr wehtat, weil die Tränen schneller zu laufen begannen.

Um sie nicht länger als unbedingt nötig zu quälen, zog er mit aller Kraft. Einige Sekunden lang blieb das Metall in den Knochen stecken. Er musste noch kräftiger ziehen. Sie gab keinen Mucks von sich. Dann war sie endlich frei und sackte nach vorn. Er warf die Schwerter weg, fing Kaia auf und legte sie sanft am Boden ab. In ihren Knöcheln hatte sie ebenfalls Wunden. Da sie aber nicht gefesselt waren, ignorierte er sie.

Wieder wollte er sie halten. Und wieder versagte er sich diesen Luxus. Mit einer seiner Krallen schnitt er sich tief in den Hals, beugte sie runter und legte die Wunde direkt auf ihren Mund.

„Trink, Baby Doll. Dann wird es dir besser gehen, das schwöre ich. Und danach erzählst du mir, was passiert ist, und ich werde alle Beteiligten bestrafen. Auch das schwöre ich.“

Zuerst reagierte sie nicht. Dann leckte sie einmal mit der Zunge, die genauso heiß war wie die Schwertgriffe, über den Schnitt. Er musste keuchen, wich aber nicht zurück. Endlich schloss sie die Lippen um seine Wunde, brandmarkte ihn für jetzt und alle Zeiten und saugte. Sie saugte und saugte und, oh ja, das gefiel ihm.

„So ist es gut“, lobte er sie. „Braves Mädchen. Nimm dir so viel, wie du brauchst. Nimm dir alles.“

Sie nahm ihm beim Wort und trank sich satt. Als sie fertig war, überkam ihn der Schwindel, doch es war ihm egal. Er war nur froh, dass Niederlage auch das nicht als Herausforderung betrachtete. Er setzte sich auf und sah sie an.

Kaia hatte die Augen geschlossen, ihr Atem ging schnell und flach. Ihre Temperatur war ein bisschen gesunken, und ihr Gesicht sah nicht mehr ganz so blass aus. Das hieß doch, dass sie dabei war zu heilen, nicht wahr?

Er musste sie unbedingt aus dieser verqualmten Höhle bringen. Sein durchlöchertes Hemd lag nur wenige Zentimeter entfernt. Er schnappte es sich und wickelte das, was von dem Stoff übrig war, um Kaias Körper. So sanft wie möglich nahm er sie auf den Arm. Er schwankte, ließ sich davon jedoch nicht beeinträchtigen.

Am Höhlenausgang rief er nach Lysander. Der Engel erschien nur eine Sekunde später. Er schwebte vor Strider, und seine Flügel bewegten sich elegant durch die Luft.

„Bring uns zu unserem Zelt“, krächzte Strider. Er durfte seine Frau nicht verlieren.