1. KAPITEL

Heute.

Ich will ihn haben.“

„Wo habe ich das nur schon mal gehört? Ach ja. Am Tage des unglückseligen Zwischenfalls – den ich schwören musste, nie wieder zu erwähnen, selbst nicht, wenn man mir mit dem Tode droht. Und ich werde auch jetzt nicht darüber sprechen, also reg dich nicht unnötig auf. Ich dachte einfach, du würdest mit deinen Gefühlen heute etwas vorsichtiger umgehen.“

Kaia Skyhawk sah zu ihrer Schwester hinüber – Bianka die Hure der Himmlischen Hügel, wie Kaia sie seit Neuestem nannte. Und diesen Namen hatte ihre teure Schwester verdient. Immerhin hatte sie sich einen Engel geangelt. Einen Scheißengel. Natürlich hatte Bianka im Gegenzug Kaia einen neuen Namen verpasst: Bettwärmerin der Unterwelt, weil sie sich mit Paris eingelassen hatte, der größten männlichen Nutte, die es gab.

Dieser Name stach nicht annähernd so sehr wie der letzte. Also gut, wie der aktuelle. Harpyien hatten ein gutes Gedächtnis, und noch immer hörte sie Ausrufe wie „Seht mal her, da kommt die Enttäuschung“, wenn sie ihren Artgenossinnen über den Weg lief.

Egal. Bianka sah genauso hinreißend aus wie immer, mit den dunklen Haaren, die ihr lang über den Rücken fielen, und diesen strahlenden, bernsteinfarbenen Augen. Im Augenblick wühlte sie in einem Stapel Designerkleider, wobei sie eine Mischung aus Entschlossenheit und Sorge ausstrahlte.

„Das ist schon gefühlte Millionen Jahre her“, meinte Kaia, „und Strider ist der erste Mann, den ich … verflucht, er ist eben der erste Mann, den ich will – wirklich will“, fügte sie hinzu, bevor ihre Schwester Kommentare über ihre „Freunde“ loslassen konnte, die sie in den vergangenen Jahrhunderten so gehabt hatte.

„Wenn man es genau nimmt, ist das, wie du es nennst, erst eintausendfünfhundert Jahre her, aber wir reden ja nicht darüber. Also, was ist mit Kane, dem Hüter von Katastrophe, hm? Hattest du mit dem nicht mal irgendein Erlebnis? Etwas, das deine Sinne berührt hat oder so ähnlich?“

„Nur elektrostatische Aufladung. Sonst nichts.“

Ein amüsiertes Schnauben. „Komm, sei ehrlich.“

„Keine Ahnung. Vielleicht hat sein Dämon in mir eine verwandte Seele gespürt und in der Hoffnung, die Flammen einer Romanze zu entfachen, seine Hände danach ausgestreckt. Aber das heißt nicht, dass Kane und ich füreinander bestimmt sind. Ich fühle mich nicht zu ihm hingezogen.“

„Ist auch besser so. Okay, Kane ist also raus. Vielleicht musst du dich mal woanders nach einem Mann umsehen. Wie zum Beispiel im Himmel. Ich könnte dich mit einem Engel bekannt machen.“ Bianka hielt einen Streifen fließenden blauen Stoff hoch, der oben mit einer Reihe von Blütenapplikationen und unten mit mehreren Lagen Spitzenrüschen verziert war. „Was hältst du von dem?“

Ohne das Kleid zu beachten, presste Kaia hervor: „Keine Verkupplungsaktionen. Ich will Strider.“

„Er ist nicht gut für dich.“

Er ist perfekt für mich. „Erstens gehört er zu keiner anderen Harpyie. Zweitens ist er kein Psychopath“, sie hielt einige Sekunden inne, ehe sie einschränkte: „Na ja, jedenfalls ist er nicht immer ein Psychopath. Und drittens ist er … ist er mein Gemahl, das weiß ich.“ So. Nun hatte sie die Worte gegenüber jemand anderem als sich selbst und dem gehirngeschädigten Mann, um den es hier ging, ausgesprochen.

Mein Gemahl.

Wie Kaia inzwischen wusste, waren Gemahle extrem schwer zu finden und genau deshalb sehr kostbar. Aber sie waren notwendig. Harpyien waren von Natur aus sehr launisch, gefährlich und – wenn wütend – eine tödliche Gefahr für ihre Umwelt. Gemahle beruhigten sie. Gemahle beschwichtigten sie.

Wenn sie ihren Gemahl doch nur aus einem Katalog hätte auswählen können und fertig. Doch stattdessen suchte der Instinkt einen aus, und der Körper folgte dieser Wahl. Was an sich nicht so schlimm gewesen wäre, wenn einer Harpyie in ihrem scheinbar endlosen Leben nicht nur ein einziger Gemahl gewährt würde. Nur einer. Und wenn sie ihn verlor, litt sie bis in alle Ewigkeit – falls sie sich nicht sofort das Leben nahm.

Dass Kaia einst versucht hatte, Juliette ihren Gemahl wegzunehmen, dass Juliette die ganze Zeit über ohne ihren Mann gewesen war, ohne zu wissen, ob er lebte oder tot war, und ihn für das hasste, was er getan hatte, ihn aber trotz allem brauchte, dass Juliette noch immer einen großen Hass auf Kaia hegte und auf Rache schwor – eine Rache, auf die diese Hexe nach wie vor aus war – beschämte sie. Und zu allem Überfluss gab es nichts, was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte.

Sie war ungehorsam gewesen. Sie hatte den Mann freigelassen. Sie hatte eine nichts ahnende Gemeinschaft seiner Raserei ausgesetzt.

Jedes Jahr schickte Kaia einen Obstkorb an Juliette, zusammen mit einer Karte, auf der stand: „Das mit deinem Gemahl tut mir leid.“ Und jedes Jahr kam der Korb mit vergammelten Apfelgehäusen, schwarzen Bananenschalen und einem Bild von Juliette zurück, wie sie ihr den Stinkefinger zeigte – und mit den Worten „Stirb, du Hure, stirb“, die irgendwo mit Blut geschrieben standen.

Der einzige Grund, weshalb Juliette noch nicht angegriffen hatte, war ihr Respekt gegenüber Tabitha. Sie galt immer noch als Größe, mit der Verbündete wie Gegner rechnen mussten.

Denk nicht über die Vergangenheit nach. Sonst fällst du nur wieder in diese Gedankenspirale.

Sie würde an ihren Gemahl denken. An Strider. Den primitiven, schlampigen, idiotischen Strider. Er war ein unsterblicher Krieger, der vor langer Zeit die Büchse der Pandora gestohlen und geöffnet hatte, um „diesen Götter-Ärschen eine Lektion zu erteilen“, weil sie es gewagt hatten, „eine läppische Frau“ dafür auszuwählen, so ein „dämliches Relikt“ zu bewachen. Und wegen seiner grenzenlosen Gedankenlosigkeit waren er und seine Freunde, die ihm geholfen hatten – die berühmten und für alle außer für die Harpyien herrlich Furcht einflößenden Herren der Unterwelt – verflucht worden, für immer die Dämonen in sich zu tragen, die sie befreit hatten.

Strider, der schöne Idiot, war vom Dämon Niederlage besessen. Er konnte keine Herausforderung verlieren, ohne unsägliche Schmerzen zu erleiden. Und das führte dazu, dass er wild entschlossen war, alles zu gewinnen, sogar so etwas Albernes wie das Computerspiel „Rock Band“. Was sie nie wieder mit ihm spielen würde, weil sie erst an der Gitarre gewonnen hatte, dann am Schlagzeug und danach am Mikrofon, woraufhin er wild zu zucken angefangen und sie angeschrien hatte, ehe er das Bewusstsein verlor und sich vor Schmerzen gekrümmt hatte.

Ganz schön melodramatisch.

Seine Gewinnsucht machte ihn auf jeden Fall dämlich, egoistisch, dämlich, zu einem riesengroßen Rindvieh und dämlich! Aber es gab keinen besser aussehenden und schärferen Mann.

Keinen Mann, der weniger mit ihr zu tun haben wollte.

Hatte sie schon erwähnt, dass er dämlich war?

„Und?“ Bianka wedelte mit dem Kleid vor Kaias Gesicht herum und angelte sich so gewaltsam ihre Aufmerksamkeit. „Deine Meinung, bitte. Und zwar am besten noch heute.“

Konzentrier dich. „Töte den Überbringer der Botschaft nicht, aber in diesem Fummel wirst du wie eine völlig fertige Ballkönigin aussehen, die nicht vorhat, nach dem großen Abend mit ihrem Freund zu schlafen – weil sie keinen Freund hat. Dafür ist sie einfach zu schräg. Tut mir leid.“

Bianka zuckte nur unbeeindruckt die Achseln. „Fertige Ballköniginnen sind vielleicht schräg, aber auch heiß.“

„Wenn heiß ein Synonym für dazu verdammt, alleine zu sein ist, hast du recht. Also nur zu. Nimm das Kleid, und ich kaufe dir hundert Katzen, die dir Gesellschaft leisten, während du den Rest der Ewigkeit darüber nachgrübelst, an welchem Punkt in der Beziehung zu deinem Engel etwas falsch gelaufen ist, ohne jemals zu begreifen, dass die Probleme an diesem Abend angefangen haben.“

„Du weißt wohl gar nichts über mich, was? Hallo, ich bin ein Hundetyp. Aber schon gut, ist ja auch egal.“ Mit geschürzten Lippen knallte ihre Zwillingsschwester den Bügel zurück auf die Stange und setzte ihre Suche nach „dem perfekten Abendkleid“ fort, das sie tragen wollte, wenn sie ihrem Gemahl Lysander eine schlechte Nachricht überbringen würde.

Arme Bianka. Sie hatte sich nicht nur einen Engel geangelt, sondern sich auch noch an einen gebunden. Für immer. Lysander lebte und arbeitete im Himmel und war so langweilig, dass Kaia anderen Leuten lieber Bambussplitter unter die Fingernägel rammen würde, als Zeit mit ihm zu verbringen. Okay, schlechtes Beispiel. Denn sie liebte es, anderen Leuten Bambussplitter unter die Fingernägel zu rammen.

Wenn die Leute schrien und um Gnade bettelten, das hatte etwas vom besten Musical aller Zeiten – und sie hätte sich den ganzen Tag lang gute Musicals anhören können.

„Kaia?“, sagte Bianka. „Warum zur Hölle seufzt du?“

„Weil ich an Musicals denke.“

„An Musicals? Im Ernst? Während ich dringend deine Hilfe brauche? Könntest du mir vielleicht ausnahmsweise mal zuhören?“

„In einer Minute. Mein Gott. Ich muss noch kurz meinen Gedanken nachhängen. Die waren gerade so gut.“ Oder vielmehr war der Zwischenstopp vor den Musicals gut gewesen. Ein so langweiliger Mann brauchte einen ebenso langweiligen Spitznamen … wie … Papst Lysander der Erste. Das war gut. Er war ein Elitekrieger mit goldenen Flügeln und ja, er war ein Dämonenmörder erster Klasse und okay, er war verdammt sexy. Aber er war auch ein Moralapostel. Fast schon ein zwanghafter. Kaia erschauderte angewidert. Er war dabei, langsam, aber sicher den Spaß aus ihrer einst so reizenden Schwester zu saugen.

Lysanders Abneigung gegen unverblümten Ladendiebstahl war sogar der Grund, weshalb sie Budapest verlassen hatten, nach Alaska zurückgekehrt waren und mitten in der Nacht in die Anchorage 5th Avenue Mall eingebrochen hatten, anstatt sich das, wonach ihnen der Sinn stand, bei Tageslicht zu nehmen so wie sonst. Zu viele neugierige Blicke.

Ehrlich gesagt war Kaia dieses Entgegenkommen sogar peinlich. Ihrem Mann hätte sie gesagt, er solle sich seine Bitte „nicht vor den Augen der Menschen zu stehlen, weil es sie auf falsche Ideen bringen könnte“ in den Arsch schieben. Außerdem hatte ihr der Nervenkitzel gefehlt, den sie doch so dringend brauchte, um ihre dunkle Seite zu beschwichtigen, aber egal. Sie liebte ihre Schwester. Und außerdem stand sie so tief in Biankas Schuld, dass sie es wohl niemals begleichen könnte.

Sie sprachen zwar nie über den unglückseligen Zwischenfall, aber Kaia hatte ihn nie vergessen. (So viel zum Thema: Harpyien und ihr gutes Gedächtnis.) Jeden Tag sah sie das Bild von Bianka vor sich, die sich vor Schmerzen in ihrer eigenen Blutlache krümmte. Hörte das qualvolle Stöhnen, das über ihre aufgeplatzten Lippen quoll.

Bianka seufzte. „Okay, lass uns deine Probleme aus dem Weg räumen, damit wir uns auf mich konzentrieren können. Sag mir, warum du Strider zu deinem Herzbuben auserkoren hast. Ich weiß doch, dass du darauf brennst, von ihm zu schwärmen.“

Einen Augenblick lang konnte Kaia ihre Schwester nur anstarren. Sie musste sich verhört haben. „Willst du mich etwa verarschen? Herzbube? Hast du gerade Herzbube gesagt?“

Bianka kicherte. „Allerdings, und ich musste mir ein Würgen verkneifen. Lysanders Einfluss, du weißt schon. Egal, Strider ist ein Handlanger. Und eine Herausforderung.“ Noch ein Kichern. „Verstanden? Eine Herausforderung … er kann keine einzige verlieren … und gleichzeitig ist er selbst eine.“

Kaia verdrehte die Augen. „Ich glaube, du verbringst zu viel Zeit mit den Engeln. Dein IQ ist merklich gesunken.“

„Was? Das war doch lustig.“ Mit ihren rechteckig gefeilten, knallblau lackierten Fingernägeln trommelte sie auf die Metallstange zwischen ihnen. „Und nur zu deiner Information: Die Engel sind gar nicht so schlecht.“

„Wenn es dir guttut, dir das einzureden, nur zu, meine Liebe.“

Bianka warf ihr einen giftigen Kuss zu. „Ich sage nur, dass Strider einen auf Trab hält – und zwar nicht im positiven Sinne. Er ist – Moment, warte. Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Er ist so egozentrisch, dass es ihn überhaupt nicht interessiert, ob er andere auf Trab hält. Er ist nicht gut für dich. Moment. Das trifft es auch noch nicht genau. Wie soll ich das nur ausdrücken? Er wird …“

„Schon kapiert! Er hat ein riesengroßes Päckchen zu schleppen und ist verdammt lästig. Worauf willst du hinaus?“

„Ich bin froh, dass dein Gehirn endlich wieder funktioniert. Wirklich traurig, dass ich dir so viel erklären muss.“ Das Funkeln in den Augen ihrer Schwester wurde matter. „Du hast ihm gesagt, was du für ihn empfindest, und er hat dich zurückgewiesen. Wenn du weiterhin auf ihn zugehst, wird ihn das wütend machen, und ein wütender, von einem Dämon besessener Krieger ist eine drohende globale Katastrophe.“

„Ich weiß.“ Wenn sie früher begriffen hätte, wie wichtig er ihr war, hätte sie nicht mit seinem Freund Paris, dem Hüter von Promiskuität, geschlafen. Auch bekannt als Paris der Sexorzist. Dieser Mann war so sinnlich, dass er jeder Frau im Nu den Kopf verdrehte. Und wenn sie nicht mit dem Sexorzisten geschlafen hätte, hätte Strider der Dämliche sie nicht zurückgewiesen.

Vielleicht.

Oder vielleicht auch doch. Denn zu ihrem Entsetzen – ja, Entsetzen und nicht verschlingende, brennende Eifersucht – begehrte er eine andere Frau. Haidee, eine hübsche Frau, die seinem Freund Amun gehörte, dem Hüter von Geheimnissen.

Aber wenigstens war Haidee tabu, und Kaia brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass Strider sich heimlich an sie ranmachte. Das hing mit dem Ehrenkodex unter bösen Dämonen und diesem Zeug zusammen.

Aber verflucht! Allein beim Gedanken daran, dass Strider eine andere Frau ansah, wurden Kaias Fingernägel zu langen, scharfen Krallen. Ihre Fangzähne wuchsen, und ihr Blut begann zu kochen. Meiner! rief jede Zelle ihres Körpers. Sie würde jede umbringen, die sich an ihn ranmachte – und jede, an die er sich ranmachte. Sie konnte einfach nicht anders. Ihre dunkle Seite würde die Kontrolle übernehmen, und sie würde beschützen, was ihr gehörte.

„Mal im Ernst: Er hat Glück, dass er noch lebt – und das nicht nur, weil ich ihm am liebsten seine Kronjuwelen abschneiden und sie vor seinen Augen an die Zootiere verfüttern würde“, fuhr Bianka fort. „Jeder Mann, der nicht erkennt, wie kostbar du bist, verdient es, ordentlich gefoltert zu werden.“

„Ich weiß.“ Nicht weil Kaia etwas Besonderes war – obwohl sie das natürlich war … irgendwie … vielleicht … verdammt noch mal, früher war sie es mal gewesen –, sondern weil niemand eine Harpyie zurückwies, ohne die schwerwiegenden Konsequenzen zu ertragen.

Die meisten Harpyien hätten sich Strider einfach genommen, ungeachtet dessen, was er wollte. Vielleicht war sie also die Dämliche, weil sie es zugelassen hatte, dass er sie wegstieß. Aber sie wollte einfach, dass er sie freiwillig nahm. Sich heimlich mit ihm davonzustehlen, hieße, ihn zu besiegen, und ihn zu besiegen, hieße, ihn zu verletzen.

Und sie konnte ihn einfach nicht verletzen. Auch nicht, wenn es sie um den Verstand brachte.

„Du bist sowieso zu gut für ihn“, meinte Bianka so loyal wie immer.

„Ich weiß“, sagte sie einmal mehr, doch diesmal log sie. Sie würde auf ewig eine Schande für ihren Clan sein. Er hatte etwas Besseres verdient.

Ihre Schwester seufzte. „Aber du willst ihn trotzdem.“ Eine Feststellung, keine Frage.

„Ja.“

„Und was willst du unternehmen, um ihn dir zu angeln?“

„Nichts“, erwiderte sie und kämpfte die aufkeimende Depression nieder. „Ich habe ihn einmal aufgespürt.“ Und er hatte sie für unzureichend befunden. „Das werde ich bestimmt kein zweites Mal tun.“

„Vielleicht …“

„Nein. Vor ein paar Wochen habe ich ihn herausgefordert, mehr Jäger zu töten als ich.“ Die Jäger – die Feinde, die alles Dämonische vernichten wollten. Die Fanatiker, die mit Vorliebe auf Unschuldige losgingen, die ihnen in die Quere zu kommen wagten. Die zum Tode verurteilten Menschen, die Bekanntschaft mit ihren Krallen machen würden, wenn sie sich Strider noch einmal näherten.

Na ja, wenn sie es wagten, sich ihm mit einer Waffe in der Hand zu nähern. Dass sie auf Knien zu ihm krabbelten, um sich für den Ärger zu entschuldigen, den sie seit Jahrhunderten verursachten, würde sie vielleicht noch tolerieren. Die Herren foltern – dieses Privileg stand allein ihr zu. Gebäude in die Luft sprengen – gähn. Ging es noch zweitklassiger? Mann, war das lästig. Den Hüter von Misstrauen enthaupten – okay, das war schon etwas mehr als nur lästig, denn immerhin hatte Strider die Sache noch immer nicht verarbeitet.

Apropos Mord an Misstrauen: Haidee hatte dabei geholfen. Ja, die Haidee. Die Frau, auf die Strider so scharf war.

Das ging nicht in Kaias Kopf. Wenn er Haidee trotz ihrer Verbrechen wollte, warum wollte er dann Kaia nicht?

„Ich wollte ihm helfen, die Männer zu töten, die hinter ihm her waren. Er sollte sehen, wie tüchtig ich bin“, fügte sie hinzu. „Er sollte meine Fähigkeiten bewundern. Aber hat er das getan? Neeeeein. Er war wütend. Er regte sich über die Schmerzen auf, die ich ihm bereiten würde. Deshalb ließ ich ihn gewinnen. Und du weißt genau, dass ich noch nie auf einen Sieg verzichtet habe.“ Das schmeckte so widerlich nach Schwäche, und es gab schon viel zu viele Leute, die sie als schwach betrachteten. „Und wie hat er es mir gedankt? Indem er mir gesagt hat, dass ich verschwinden soll.“ Er-nie-dri-gend. „Lass uns bitte das Thema wechseln.“ Bevor sie noch einen Tobsuchtsanfall bekäme und das Einkaufszentrum dem Erdboden gleichmachte. „Nach was für einem Look suchst du denn?“, fragte sie, während sie selbst die Regale durchforstete.

„Schlampig und zugleich elegant“, erwiderte ihre Schwester, ohne den Themenwechsel zu kommentieren.

„Gute Wahl.“ Sie rieb mit der Zunge über ihren Gaumen, während sie sich die bunte Sammlung von Abendkleidern ansah. „Glaubst du, es wird die Situation leichter machen, wenn du dich in Schale wirfst?“

„Bei den Göttern, das hoffe ich. Mein Plan ist, dass Lysander mir das Kleid vom Leib reißt und auf die dreckigste Art Sex mit mir hat. Und dann, während er nach Luft schnappt, werde ich die große, böse Bombe platzen lassen und blitzschnell wegrennen.“

Das hätte Kaia mit Strider auch gern gemacht – jedenfalls den Teil mit dem dreckigen Sex –, aber ihm war es ja ohnehin schnurz, was sie sagte. Das hatte er schließlich schon bewiesen. „Was willst du Lysandi denn eigentlich sagen? Was genau, meine ich.“

Bianka zuckte die scheinbar zierlichen Schultern. „Genau … weiß ich das noch gar nicht.“

„Versuch’s bei mir. Stell dir vor, ich wäre dein ekelhaft verliebter Engels-Gemahl und gestehe.“

„Okay.“ Bianka seufzte, setzte sich gerade hin und sah Kaia ängstlich aus ihren bernsteinfarbenen Augen an. „In Ordnung. Es geht los.“ Eine Pause. Ein Schlucken. „Liebling, ich, äh, muss dir was sagen.“

„Und was?“, erwiderte Kaia mit tiefer Stimme. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf die Kleiderstange, sodass sich die Bügel in ihre Haut bohrten. „Schnell raus damit. Ich muss nämlich meinen Feenstaub versprühen und meinen Zauberstab schwingen, wenn …“

„Er versprüht keinen Feenstaub! Er ist ein Killer, verflucht.“ Die Empörung verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. „Aber was diesen Zauberstab angeht …“ Bianka erschauderte und grinste frech. „Der ist wirklich groß. Wahrscheinlich größer als Striders.“

Kaia sah sie nur erwartungsvoll an.

Ihre Schwester atmete tief ein und langsam wieder aus. „Also gut. Weiter im Text. Liebling, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wurde meine Familie eingeladen, an den Harpyienspielen teilzunehmen. Warum zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, fragst du dich bestimmt. Tja, das ist eine lustige Geschichte. Weißt du, meine Zwillingsschwester hat etwas Saublödes gemacht und …“

„Ich bin mir sicher, dass du bei diesem Teil übertreibst“, unterbrach sie Bianka, noch immer mit der tiefen Lysander-Stimme. „Deine Schwester ist die stärkste, intelligenteste Frau, der ich je begegnet bin. Und jetzt erzähl mir etwas Wichtiges.“

„Wie dem auch sei“, fuhr Bianka in sanftem Ton fort. „Ich weiß nicht genau, warum wir eingeladen wurden, aber vor ein paar Tagen kam eine Karte mit geprägter Goldschrift via Harpyien-Express, die nach unserer Aufmerksamkeit verlangte. Wir können die Einladung nicht ablehnen, ohne große Schande über unseren gesamten Clan zu bringen. Wir würden als Feiglinge abgestempelt, und wie du weißt, bin ich kein Feigling. Deshalb … breche ich in einer Woche auf und werde für vier Wochen weg sein. Ach ja, die vier Disziplinen, auf die man sich geeinigt hat, sind ziemlich blutrünstig – möglicher Verlust von Gliedmaßen und definitive Folter inklusive. Also, bis dann.“ Sie winkte mit dem kleinen Finger, hielt inne und wartete auf Kaias Reaktion.

Kaia nickte. „Gefällt mir. Knackig, informativ und selbstbewusst. Er wird keine andere Wahl haben, als dich ohne große Aufregung gehen zu lassen.“

Bianka sah schon ein wenig unbesorgter aus. „Denkst du das wirklich?“

„Bei den Göttern, nein. Auf keinen Fall. Er wird total ausflippen. Du kennst ihn doch. Beschützer über alle Maßen.“ Bianka hatte wirklich Glück. „Was hältst du davon?“ Sie hielt ein kaum sichtbares Kleidchen hoch, das an den Seiten von dünnen Silberketten zusammengehalten wurde.

„Das ist toll. Perfekt. Und du bist eine alte Ziege.“

Kaia lächelte reuelos. „Aber du liebst mich trotzdem.“

„Wie du selbst gesagt hast: Mein IQ ist gesunken.“ Bianka kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Okay pass auf. Ich denke, so wird es nach meinem Geständnis ablaufen. Zuerst wird er versuchen, mich aufzuhalten.“

„Du hast es erfasst.“

„Dann, wenn er merkt, dass ihm das nicht gelingt, wird er darauf bestehen, mich zu begleiten.“

„Wieder richtig. Ist das okay für dich?“ Alle würden sich darüber lustig machen, dass sie sich an einen Wohltäter gebunden hatte. Sogar ihre Mutter. Insbesondere ihre Mutter. Tabitha hasste Engel mehr als die meisten anderen, da sie immer gedacht hatte, der Vater ihrer jüngsten Halbschwester sei ein Engel, und dem Mann die Schuld an Gwens vermeintlicher Schwäche gegeben hatte.

„Ja.“ Bianka lächelte verträumt. „Das ist okay für mich. Ich bin nicht gerne von ihm getrennt. Außerdem werde ich jeden töten, der schlecht von ihm spricht, was die Turniertage für mich noch interessanter machen wird.“

„Ganz zu schweigen davon, dass das die Konkurrenz ausdünnen wird, weil ich dich bei dieser Aufgabe unterstützen werde.“ Wie sehr sie sich doch wünschte, sie könnte Strider mitnehmen.

Nein, lieber doch nicht, dachte sie im nächsten Moment. Den Göttern war Dank, dass er sie nicht begleitete. Sie wurde von den Angehörigen sämtlicher Harpyien-Clans verschmäht und würde vor lauter Demütigung sterben, wenn er sähe, dass ihre Artgenossinnen ihr den Rücken kehrten. Außerdem würde sie sich in Grund und Boden schämen, wenn er ihren verhassten Spitznamen zu hören bekäme.

Ein Soldat wie Strider schätzte Stärke. Das wusste sie genau, weil sie ein Soldat wie Strider war.

Der Gedanke, der ihr als Nächstes in den Sinn kam, traf sie hart in die Magengrube – Haidee war stark. Diese Schlampe. Obwohl sie (zum Großteil) ein Mensch war, hatte diese Frau es geschafft, dem Tod wieder und wieder von der Schippe zu springen und wiederaufzuerstehen, um gegen die Herren zu kämpfen. Bis sie sich in Amun verliebt hatte.

Wenn ich Amun nicht so verehren würde, ich würde diese Frau zurück ins Grab schicken – und zwar zum letzten Mal, verflucht! Niemand erregte Striders Aufmerksamkeit, ohne unvorstellbar dafür zu leiden.

Vielleicht würde Kaia vor ihrer Abreise zu dem Turnier noch dafür sorgen, dass die Frau von einer Horde Kopfläuse heimgesucht würde oder so ähnlich. Niemand würde verletzt, Strider würde verprellt und Kaia hätte das Gefühl, sich irgendwie gerächt zu haben. Also eine absolute Win-win-Situation.

„Hörst du mir zu, oder habe ich dich wieder an deine Gedanken verloren?“, fragte Bianka genervt.

Sie riss sich zusammen. „Ja, ich höre zu. Du hast von … großen Konsequenzen gesprochen.“

„Du hast ja wirklich zugehört“, sagte ihre Schwester und legte sich eine Hand aufs Herz. „Danke für dein Angebot, mir zu helfen, jeden zu bestrafen, der Lysander beleidigt. Du bist von allen auf der Welt meine Lieblingsverbündete, Kye.“

„Und du meine, Bee.“ Für Bianka würde sich alles zum Guten wenden. Lysander würde sie blind unterstützen, und die Harpyien würden sehen, wie hartnäckig er sein konnte, und klein beigeben. Für Kaia hingegen … Nein, für sie würde sich gar nichts zum Guten wenden.

„Unsere geliebte Mutter wird auch da sein“, meinte Bianka und bemühte sich um eine Gleichgültigkeit, die keine von beiden bei dem Thema verspürte, „und sie wird ihn hassen, nicht wahr?“

„Mit Sicherheit. Aber andererseits hat sie einen lausigen Männergeschmack. Sieh dir unseren Vater an: ein Phönix-Gestaltwandler alias die schlechteste von allen schlechten unsterblichen Rassen. Immerzu plündern sie irgendwelche Städte und brennen alles nieder. Ehrlich, man muss schon eine ziemlich dumme Nuss sein, um sich mit so einem einzulassen. Und das bedeutet was? Dass Mutter eine ziemlich dumme Nuss ist. Ich würde mir Sorgen machen, wenn sie Lysander mögen würde.“

Aber was würde Tabitha von Strider halten?

Bianka kicherte tief und leise. „Du hast recht. Mit beidem.“

„Und soll ich dir noch was sagen? Sie kann mich mal.“ Starke Worte. Doch im Innern war Kaia noch immer das kleine Mädchen, das sich nach der Anerkennung seiner Mutter sehnte. „Aber vielleicht … ich weiß nicht … vielleicht wird sie das Kriegsbeil mit mir ja endlich begraben.“ Götter kam dieser sehnsüchtige Ton wirklich aus ihrem Mund?

Bianka beugte sich über das Regal und tätschelte ihre Schulter. „Ich zerstöre wirklich nur ungern deine Hoffnungen, Schwesterchen, aber das Kriegsbeil wird sie nur dann begraben, wenn sie es in deinem Rücken vergraben kann.“

Sie bemühte sich, nicht in sich zusammenzusacken. „Du hast ja so recht.“ Und es wäre ihr egal. Egal. Wirklich. Aber warum, warum, warum hielt niemand außer ihrer Schwester sie für gut genug?

Ein Fehler, nur ein einziger – und das auch noch, als sie ein Kind gewesen war – und ihre Mutter hatte sie abgeschrieben. Ein Fehler, nur ein einziger, und Strider wollte sich nicht mit ihr einlassen. Dabei war es ja nicht so, dass sie ihn betrogen hatte. Sie waren beide seit Jahren Single und noch nicht mal miteinander aus gewesen. Sie hatten sich noch nie geküsst. Sich noch nicht mal richtig unterhalten. Und die Nacht, als sie mit Paris geschlafen hatte? Da hatte sie nicht gewusst, dass sie Strider einmal sexuell attraktiv finden würde. Oder überhaupt attraktiv.

Er hätte ihre Anziehungskraft von Anfang an registrieren und versuchen müssen, sie zu verführen. Wenn man also darüber nachdachte, lag die Schuld ganz allein bei ihm. Oder vielleicht bei seinem Dämon. Niederlage musste erst noch begreifen, dass sie zu verlieren viel schlimmer wäre, als eine Herausforderung zu verlieren. Sonst würde Strider ohne sie schrecklich leiden.

Sie wollte, dass er ohne sie furchtbar litt.

Der Dämon war fest an Strider gebunden. Ohne ihn konnte der Krieger nicht überleben. Vielleicht also … könnte sie irgendetwas unternehmen, um den kleinen Teufel auf ihre Seite zu ziehen. Falls sie sich überhaupt entschlösse, noch einen Angriff zu wagen. Was sie nicht täte. Denn wie sie bereits ihrer Schwester gesagt hatte: Sie hatte ihre Chance bei ihm verspielt. Außerdem würde es ziemlich verzweifelt rüberkommen, wenn sie sich ihm noch einmal näherte. Es reichte, dass sie verzweifelt war, das musste sie nicht auch noch offen zur Schau stellen.

Götter, das war vielleicht deprimierend. Und ärgerlich! Zwar war sie es gewohnt, Widerstände zu zerstören, aber wie sollte sie gegen einen Mann kämpfen, den sie zugleich beschützen wollte?

„Woran denkst du gerade?“, wollte Bianka wissen. „Deine Augen sind fast pechschwarz, was mir verrät, dass jeden Moment deine Harpyie die Kontrolle übernimmt, und …“

„Hey. Hey Sie! Was machen Sie hier?“, rief jemand.

Während sie sich zwang, ruhig zu atmen und sich zu beruhigen, warf sie einen kurzen Blick über die Schulter. Na super. Der Sicherheitsdienst des Einkaufszentrums war eingetroffen. „Mir geht’s gut, wirklich. Treffen wir uns zu Hause?“, fragte sie und warf ihrer Schwester das ausgesuchte Kleid zu.

„Ja.“ Bianka fing das Kleid auf und stopfte es sich unters T-Shirt. „Hab dich lieb.“

„Ich dich auch.“

Dann flitzten sie in unterschiedliche Richtungen davon.

„Stehen bleiben! Oder ich schieße!“

Da Kaias rote Haare in der Dunkelheit förmlich leuchteten und sie zum leichteren Ziel machten, entschied sich der Wachmann – der im Übrigen nicht schoss, der Lügner – ihr zu folgen, während er über Funk Verstärkung anforderte. Dass sie ihm den Stinkefinger gezeigt hatte, ehe sie um die erste Ecke gebogen war, hatte damit sicher nichts zu tun.

Fast alle Lichter in dem Geschäft waren ausgeschaltet, und auch im restlichen Einkaufszentrum war die Beleuchtung eher spärlich. Doch dank ihrer überdurchschnittlich guten Harpyienaugen spielte das keine Rolle. Routiniert blickte sie durch die Dunkelheit, während sie sich blitzschnell den Weg in Richtung Ausgang bahnte. Nur leider kannte der Mensch die Umgebung besser als sie und schaffte es, ihr auf den Fersen zu bleiben.

Zeit für die nächste Stufe.

Ihre Flügel begannen zu flattern … machten sich bereit … Doch kurz bevor sie in Hypergeschwindigkeit davonsausen konnte, tat der Wachmann das Undenkbare und verpasste ihr eins mit seiner Elektroschockpistole. Also doch kein Lügner. Kaia fiel aufs Gesicht, während sich der Sauerstoff in ihrer Lunge in Feuer verwandelte. Sie war nur noch wenige Zentimeter vom Ausgang entfernt, doch ihre verkrampften Muskeln hinderten sie daran, ihre Flucht fortzusetzen.

Sie hätte sich die Klemmen der Waffe vom Rücken reißen können. Sie hätte sich umdrehen, einen der vielen Dolche an ihrem Körper packen und dem Schmerz ein Ende bereiten können. Oder dem Menschen. Aber das hier war ihre Heimatstadt, und sie wollte die Einwohner nicht umbringen. Oder besser gesagt: Nicht mehr als einen Einwohner pro Tag, und dieses Limit hatte sie heute schon erreicht.

Eine Lüge, aber das war jetzt egal.

Außerdem fiel ihr keine Rechtfertigung ein, weshalb sie den Wachmann töten sollte, nachdem sie bei der Verfolgungsjagd nicht alles gegeben hatte – in dem Wissen, dass er ihr geben konnte, wonach sie sich insgeheim sehnte: einen Grund, Strider zu rufen.

Irgendjemand würde sie schließlich aus dem Gefängnis befreien müssen.