31. KAPITEL
Er war umgeben von absolutem Chaos.
Außer Atem und von lähmenden Schmerzen in die Knie gezwungen, hielt Strider die Zweiadrige Rute umklammert. Harpyien, Gemahle und Sklaven rannten in alle Richtungen. Sie versuchten zu fliehen, ehe die Polizei einträfe. Und die würde bald eintreffen, zusammen mit Reportern. Zahllose Gesetze waren gebrochen und ein nationales Kulturgut entweiht worden. Selbst jetzt bedeckte Blut den Boden und sammelte sich in einer Pfütze um Striders Füße.
Was zur Hölle sollte er machen? Und warum quälte sich sein Dämon so? Warum stöhnte und krümmte er sich in seinem Kopf? Sie hatten doch gewonnen. Oder nicht?
In dem Moment, als er Lazarus den Kopf abgeschlagen hatte, war das Artefakt erschienen. Etwas Schimmerndes war von seinem Körper aufgestiegen und in die Spitze der Rute gesaugt worden. Vermutlich der andere Teil der Seele des Kriegers, die sich wieder mit dem Stück in der Rute vereinte.
Die Illusion hatte nicht länger aufrechterhalten werden können, sodass sich die Umgebung wieder in ihren realen Zustand verwandelt hatte. Diese kleine Komplikation hatte Strider nicht bedacht, weshalb er auch nicht darauf vorbereitet war. Er hatte einzig daran gedacht, endlich an die Zweiadrige Rute zu gelangen. Nun hatte er sie zwar. Doch ihm blieben nicht viele Möglichkeiten, sie erfolgreich zu verstecken.
Juliette wusste, dass ihr Mann tot war. Wusste, dass er sonst niemals ungehorsam gewesen wäre. Dieser Schrei … Sie würde nach seiner Leiche suchen. Würde erfahren, wer für seinen Tod verantwortlich war. Sie bräuchte die Wahrheit nicht erst aufzudecken. Viel zu viele Leute hatten Strider mit einem blutverschmierten Schwert in der Hand über dem leblosen Körper kauern gesehen. Nicht, dass er versucht hätte, die Wahrheit zu verschleiern. Er hatte ein Verbrechen begangen und würde die Konsequenzen dafür tragen.
Allerdings hatte er auch Kaia in die Sache mit reingezogen. Juliette würde sich nicht länger damit zufriedengeben, sie zu erniedrigen. Juliette würde sie bestrafen wollen. Sie verletzen. Sie vernichten.
Als er die Wahrheit erkannte, hätte er sich am liebsten übergeben. Was zur Hölle hatte er getan?
Strider rappelte sich hoch; in seinem Kopf drehte sich alles. Er taumelte, während er mehr und mehr begriff. Er hatte Kaia herausgefordert, den Wettkampf zu gewinnen; anscheinend hatte sie verloren. Mist. Mist! Ging es ihr gut?
Irgendjemand rannte in ihn hinein, und er stolperte. Sein Schmerz wurde größer. Er hielt die Rute fester. Er musste sie beschützen; aber er musste auch zu Kaia. Sabin und Lysander kümmerten sich vermutlich um ihre Frauen, weshalb sie ihm keine Hilfe wären.
Mit der freien Hand zog Strider sein Handy aus der Hosentasche. Er brauchte Lucien.
Er sah so verschwommen, dass er die Ziffern nicht erkennen konnte. Trotzdem versuchte er, den Hüter von Tod anzurufen. Er hatte seine Nummer auf einem Kurzwahlplatz gespeichert, also brauchte Strider nur drei Ziffern zu drücken – nur drei –, ein Wort zu sagen – Hilfe – und schon würde sein Freund kommen.
Noch jemand lief in ihn hinein, und er stolperte heftiger. Das Telefon rutschte ihm aus der Hand und fiel klappernd auf den Boden. Verdammt! Er bückte sich, obwohl seine Knochen und Gelenke protestierend aufschrien, und tastete seine nähere Umgebung ab. Endlich fühlte er das kleine Gerät.
Mehrere Paar gestiefelte Füße stapften über seine Hand, brachen ihm die Knochen – und zerstörten das Handy. Dieselben Füße bohrten sich in seinen Rücken und brachen ihm die Rippen, die sich wie scharfe Spieße in seine Lunge bohrten und ihm die Luft raubten. Als Nächstes wurde sein Gesicht in den Dreck gedrückt.
Man hat mich überrannt, dachte er benommen. Wie erniedrigend. Hastig legte er die Rute unter seinen Körper, um sie zu beschützen. Obwohl sie so zerbrechlich aussah, bezweifelte er, dass irgendetwas sie zerstören konnte. Auf beiden Seiten befanden sich Sanduhren, und der Stab selbst war dünn und hölzern, aber das Ding war von den Göttern gefertigt. Und er war der lebende Beweis dafür, dass die Götter keine minderwertigen Produkte herstellten. Allerdings könnte man ihm die Rute stehlen, und das würde er nicht zulassen.
Er konnte es kaum glauben, dass er das vierte Artefakt in den Händen hielt. Nach der ganzen Zeit war ihm das vierte Puzzleteil direkt in den Schoß gefallen. Zu einem schrecklichen Preis, ja, aber er hatte es.
Schließlich lichtete sich das Getrampel, und Strider zwang sich aufzustehen. Ihm war schwindelig und er taumelte. Noch ein paar Harpyien rempelten ihn an, als sie an ihm vorbeiliefen, doch sie warfen ihn nicht zu Boden. Vielleicht weil sie es gar nicht versuchten. Sie waren viel zu sehr in Eile.
Wieder erfüllte der Schrei einer Frau die Luft, diesmal aus größerer Nähe. Wie gequält das klang … gequält und wütend, die perfekte Harmonie des Bösen.
„Ich. Werde. Dich. Töten“, ertönten Juliettes Worte. Jedes einzelne troff geradezu vor Hass.
Obwohl er nicht das Geringste sah, drehte Strider sich um und ließ sich von der dünner werdenden Menge mitreißen. Ein paarmal drohten seine Knie nachzugeben, doch er benutzte die Rute als Gehstock und lief weiter.
Wie dicht war Juliette ihm auf den Fersen?
Kaia! rief er in Gedanken. Sie hatten noch nie eine telepathische Verbindung gehabt, aber er hatte auch noch nie so verzweifelt versucht, zu ihr zu gelangen. Er konnte nur hoffen, dass ihre Heirat ihre Verbindung vertieft hatte. Wo bist du?
„Ich bin hier.“ Ein vertrauter Duft stieg ihm in die Nase. Kurz darauf spürte er, wie ihm jemand einen warmen Arm um die Taille legte und ihn nach links zog. „Ist es das, was ich denke?“
Den Göttern war Dank. Sie lebte, sie war hier und sie konnten tatsächlich per Telepathie miteinander reden. Diesen Vorteil würde er schamlos ausnutzen, sobald sie in Sicherheit wären. Im Augenblick spürte er, wie ihr Herz neben ihm schlug. Es schlug schnell, aber es schlug, und das war alles, was zählte. „Ja. Tut mir leid, Baby Doll. Ich musste sie mir nehmen. Ich konnte die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Und fass sie nicht an, okay?“ Er wusste nicht genau, wie die Rute funktionierte. Wusste nicht, wie sie die darin gefangenen Seelen und Fähigkeiten an jemand anderen weitergab oder wie sie die Seelen und Fähigkeiten von den Lebenden stahl, und er wollte nicht riskieren, bei Kaia einen irreparablen Schaden anzurichten. „Bist du okay?“
„Kannst du das nicht sehen?“
„Nein. Meine Hornhaut ist verletzt.“
„Das erklärt, warum du fast gegen die Wand gerannt wärst“, erwiderte sie trocken. „Hör zu: Obwohl ich am liebsten deinen Kopf dagegen schmettern würde – also wirklich, denkst du allen Ernstes, ich würde dir die Rute wegnehmen? – tut es mir sehr leid, dass ich verloren habe. Es tut mir leid, dass du meinetwegen Schmerzen hast. Ich hätte gewinnen und alle töten können, aber dann wären meine Schwestern ebenfalls gestorben, und ich konnte nicht …“
„Du brauchst nichts zu erklären. Ich bin einfach nur froh, dass du hier bist. Und nein, ich denke nicht, dass du mir die Rute wegnehmen würdest. Aber sie ist gefährlich, und ich weiß nicht, wie man richtig damit umgeht.“ Das müsste er sich dringend erklären lassen.
Sie zog ihn nach rechts. „Verstehe. Ich verzeihe dir, dass du mich angeblafft hast, aber zurück zum eigentlichen Thema: Du hasst es, zu verlieren. Ehrlich gesagt – ich glaube, du würdest deine eigene Mutter umbringen, um einen Kampf zu gewinnen. Wenn du eine hättest. Und du hast an meine Fähigkeiten geglaubt, aber ich …“
„Kaia“, unterbrach er sie abermals. „Du bist wirklich ein unverbesserlicher Sturkopf. Mir ist alles egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass du am Leben bist, das schwöre ich. Und außerdem bist nicht du diejenige, die sich entschuldigen muss. Du hast mich gebeten, die Rute nicht zu nehmen, damit du sie gewinnen kannst. Aber ich habe sie mir trotzdem genommen.“
„Diesbezüglich habe ich meine Meinung längst geändert.“
Sie zog ihn nach links.
„Ich weiß. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich …“
„Du wusstest es? Woher? Ach, egal. Lass uns später darüber reden. Aber wer von uns beiden ist jetzt eigentlich der Sturkopf?“
Trotz seiner Schmerzen musste er grinsen.
„Verdammt“, fluchte sie plötzlich. „Juliette ist immer noch hinter uns her, und ich kann sie irgendwie nicht abschütteln.“
Seine Belustigung verschwand.
Kaia schob ihn eine Treppe hinunter und um eine Ecke herum. „Sie kommt näher, und wenn ich nichts unternehme, ist sie bald bei uns.“ Ohne auch nur eine kleine Verschnaufpause einzulegen, drückte sie ihn gegen eine harte, kühle Mauer. „Du bleibst hier.“
Er hatte keine Zeit, sie auszufragen. Sie ließ ihn los, und im nächsten Moment spürte er eine unbeschreibliche Hitze. Sie hat sich soeben in Brand gesetzt, begriff er.
Strider hörte Frauen schreien.
„Du wirst dafür bezahlen, dass …“, begann Juliette, doch die Worte wurden von einem gequälten Keuchen abgeschnitten.
Zu gern hätte er gesehen, was da vor sich ging.
Der Schweiß lief an seinem Körper hinab. Seine Schmerzen waren keinen Deut schwächer geworden, und ohne Kaia an seiner Seite, die ihn ablenkte und führte, spürte er jeden einzelnen Stich mit voller Wucht. Er krümmte sich, übergab sich. Er hätte an Kaias Seite kämpfen sollen, doch stattdessen stand er hier herum und ließ sie alles alleine machen. Er war ihr ein Klotz am Bein. Wäre er nicht gewesen, hätte sie schon längst ohne Probleme fliehen können.
„Das sollte die Hexe eine Zeit lang aufhalten“, sagte sie zufrieden, während sie ihm erneut einen Arm um die Taille legte und ihn vorwärts zerrte. Obwohl sie im Augenblick nicht brannte, war ihre Körpertemperatur merklich gestiegen.
„Du wirst langsam richtig gut darin.“ Er biss die Zähne zusammen, um die schmerzhafte Hitze auszuhalten.
„Vielleicht weil sie mich permanent vor Wut zum Kochen bringt.“
Der Geruch von verbrannter Baumwolle stieg ihm in die Nase. Mein Hemd, merkte er. Dann traf ihn ein weiterer Gedanke. Sie hatte am ganzen Körper gebrannt. Ihre Kleidung war mit Sicherheit vollständig verbrannt.
„Du bist nackt, nicht wahr?“ Die Vorstellung, dass irgendjemand außer ihm sie so sah, war ihm zuwider. Doch zugleich amüsierte ihn das Bild, das er und sie abgeben mussten.
„Ja“, bestätigte sie ohne jegliche Scham. „Schon eine ganze Weile. Aber jetzt erzähl mir endlich, wie du an die Rute gekommen bist.“
Schuldgefühle überkamen ihn, als er von Lazarus, Juliette und der Macht berichtete, um die es ging. Die ganze Zeit über führte Kaia ihn um Ecken, treppab und treppauf.
„Dann ist Lazarus also tot?“
Er spürte eine angenehm kühle Brise. „Ja. Er war kein schlechter Kerl. Ich wünschte, es hätte eine andere Lösung gegeben.“ Und vielleicht gab es die auch. Lazarus hatte gesagt „soweit ich weiß“ – was bedeutete, dass er sich womöglich geirrt hatte. Eventuell konnte er überleben, was Strider ihm angetan hatte. Zumindest seine Seele. Vielleicht war sie jetzt in der Rute gefangen.
„Ja, mir ist er auch immer sympathischer geworden. Vielleicht … Blödsinn. Lass uns später darüber reden.“ Sie ließ ihn los. „Ich hole schnell meine Sachen und ziehe mir etwas über. Warte hier.“
Dann sind wir also in unserem Zelt, dachte er schwankend. Er spitzte die Ohren und lauschte nach ihren Schwestern, doch er hörte nichts außer Kaias Bewegungen. Dann packte sie ihn auch schon wieder und schob ihn durch ein Labyrinth. Zumindest fühlte es sich so an. Langsam erholte sich sein Sehsinn und er ahnte, dass sie vor einem Zaun standen.
„Klettern“, sagte sie, womit sie seine Vorstellung bestätigte.
Sein ramponierter Körper protestierte den gesamten Weg über, doch er riss sich zusammen und kletterte.
„Jetzt spring.“
Noch ein Zaun, auch wenn dieser nicht mehr war als eine Hürde. Als er landete, ächzte er vor Schmerzen.
„Felsblock“, meinte sie und zog ihn zur Seite.
Als sie ihn umrundet hatten, rannten sie. Rannten einfach. Mit kontrollierten Atemzügen inhalierte er den Geruch von Kiefern, Schmutz und Autoabgasen. Seine Stiefel donnerten zuerst auf Felsboden, dann auf Gras und schließlich auf Asphalt. Ein paarmal hörte er das überraschte – und vielleicht entsetzte – Gemurmel von Menschen.
Kaia wurde langsamer, blieb stehen und entfernte sich wieder von ihm. „Bleib hier.“
Mehrere Sekunden verstrichen. Es war ihm zuwider, hilflos herumzustehen und die Rute so ungeschützt zu präsentieren. „Bargeld“, murmelte sie, als sie wieder neben ihm stand.
„Schlaues Mädchen.“
Ein goldener Schimmer durchbrach die Dunkelheit vor seinen Augen, und er blinzelte. Noch ein Blinzeln. Keine Veränderung. Nur dieses schwache kleine Licht, aber das war genug. Er fing an, zu heilen.
Eine gefühlte Ewigkeit später mietete Kaia ein Motelzimmer und brachte sie darin in Sicherheit. Sie half ihm ins Bett, und er ließ sich auf die Matratze fallen, ohne die Rute loszulassen.
„Nur zu deiner Info: Du siehst scheiße aus, Bonin’.“ Sie legte sich neben ihn und strich ihm vorsichtig die Haare aus der Stirn.
Er genoss die Berührung. „Danke, Rotschopf. Ich muss sagen, es ging mir auch schon mal besser.“
„Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Nein. Ich brauche nur etwas Zeit.“
„Also, was kann dieses Ding denn nun alles? Du hast die Sache mit den Seelen erwähnt, ja. Aber ich bin verwirrt.“
„Hast du ein Handy?“, fragte er, statt zu antworten. Das Wichtige zuerst. Er musste das Artefakt aus Rom und aus Juliettes Reichweite schaffen.
„Ja. Hab ich mitgenommen, als ich mich angezogen habe.“
„Ruf Lucien an und bitte ihn, herzukommen.“
Während sie seinen Anweisungen folgte, wurde das Licht vor seinen Augen heller und größer. Allmählich konnte er kleine Details erkennen. Die Decke über ihm war ein Mix aus Weiß und Gelb. Die Wände waren aus weißem Putz. Das Fenster war von dickem, rotem Stoff umgeben. Neben ihm stand ein zerkratzter Nachttisch, auf dem eine blaue Lampe stand. Er ließ den Blick zu Kaia wandern, die beim Telefonieren auf und ab ging. Als sie fertig war, begann sie hektisch auf der Tastatur herumzutippen.
Noch ein paar Minuten verstrichen, und er konnte sie deutlich erkennen. Blutergüsse färbten ihr linkes Auge und die linke Wange bläulich, und ihre Oberlippe war aufgeplatzt und geschwollen. Die Haare waren verknotet. Sie trug ein sauberes T-Shirt und frische Jeans, aber keine Schuhe. Sie war barfuß durch die Straßen gerannt, und das sah man auch. Ihre Zehen waren schwarz vom Schmutz und bei jedem Schritt hinterließ sie einen blutigen Abdruck auf dem gefliesten Boden.
Nicht ein Mal hatte sie sich beklagt oder einen Schmerzenslaut von sich gegeben. Sie war durch und durch Kriegerin, und sein Herz schwoll vor Liebe und Stolz. Es hatte ihr nichts ausgemacht, dass er die Rute genommen hatte. Nein, sie hatte ihn dafür gelobt. Obwohl er ihr dadurch nichts als Ärger bereitete.
Seine Kaia war wirklich einmalig.
Sie hatte das Beste verdient. Deshalb würde er ein besserer Mann werden. Für sie.
Mit finsterem Blick steckte sie sich das Handy in die hintere Hosentasche. „Lucien hat gesagt, er ist jeden Moment hier. Ich habe gerade noch meinen Schwestern geschrieben, um ihnen mitzuteilen, wo wir sind. Taliyah und Neeka sind ganz in der Nähe und werden auch gleich hier sein. Von den anderen habe ich noch nichts gehört.“
Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, klopfte es an der Tür. Taliyah wartete nicht, bis Kaia sie hereinbat, sondern kam einfach hereingestürmt, Neeka direkt hinter sich. Die Schwestern umarmten sich.
„Tut mir leid, dass wir verloren haben“, sagte Taliyah und tätschelte ihr den Rücken.
Kaia zuckte die Schultern. „Dazu habe ich ja auch meinen Anteil beigetragen.“
„Du bist also ein Phönix, hm?“, meinte Neeka.
„Ja.“ Sie rieb sich mit blutverschmierten Fingern durchs Gesicht, was ihre Erschöpfung umso sichtbarer machte. „Ich war auch ziemlich überrascht.“
Taliyah schüttelte den Kopf, sodass die blonden Haare mit weiblicher Anmut um ihre Schultern tanzten. „Ach, Neeka und ich waren gar nicht so überrascht.“
Kaia zog die Augenbrauen zusammen. „Warum nicht?“
„Weil du schon seit mehreren Wochen Anzeichen dafür zeigst. Außerdem bist du schon am Tag deiner Geburt in Flammen aufgegangen. Mutter wollte dich vor deinem Vater beschützen. Deshalb gab sie dir etwas, das über die Jahrhunderte verhinderte, dass es wieder geschah, und das zudem auf das Phönix-Gift reagiert, falls du gekratzt oder gebissen werden solltest.“ Noch ein Tätscheln, dann ging Taliyah langsam zu Neeka. „Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis du wieder Feuer fangen würdest.“
Strider konnte Kaias Gedanken hören. Sie waren so intensiv, dass sie wie Blitze durch ihre telepathische Verbindung zuckten. Wie krass ist das denn? Mutter hat sich tatsächlich mütterlich verhalten und mir geholfen. Ich möchte die Frau umarmen und dann schütteln. Aber ich darf nicht weich werden. Wir befinden uns schließlich im Krieg. „Das hättest du mir sagen müssen!“, rief sie laut.
„Aber wirklich“, pflichtete Strider ihr bei. Er hätte sich gern aufgesetzt, einen finsteren Blick aufgelegt, irgendetwas getan, aber verflucht – die Schmerzen wurden immer stärker, und sein Dämon stöhnte und ächzte.
Taliyah beachtete ihn nicht. „Und dir unnötige Sorgen bereiten? Wozu? Nun, da es passiert ist, brauchst du dir noch immer keine Sorgen zu machen. Okay? Dein Vater wird nicht versuchen, dich mitzunehmen, das verspreche ich dir.“
„Denkst du das wirklich?“ In jeder einzelnen Silbe klang Verletzlichkeit mit.
Am liebsten hätte er sie zu sich gerufen und festgehalten. Wenn ihr Dad – sein Schwiegervater, wie ihm plötzlich klar wurde – sich als Problem erweisen sollte, würde ihr Dad den Zorn eines von einem Dämon besessenen Kriegers zu spüren bekommen.
„Ich weiß es sogar“, versicherte Taliyah ihr. „Er ist tot. Ich habe ihn mit eigenen Händen umgebracht. Und ich weiß, ich weiß. Seine Leute hätten dich gewollt, wenn sie davon erfahren hätten, dass du ihr Feuer aushalten kannst, denn es gibt nicht viele Frauen, die dazu in der Lage sind.“
„Hätten gewollt?“, fragten Kaia und Strider wie aus einem Mund. Ihm fiel auf, dass der Tod ihres Vaters sie offenbar nicht berührte. Denn in ihrer mentalen Verbindung war keine Spur von Trauer zu erkennen.
Ein steifes Nicken, als hätte ihre Überraschung sie gekränkt. „Strider hat dir doch bestimmt erzählt, dass Neeka und ich uns weggeschlichen und eine Gruppe Männer getroffen haben. Also: Neeka war mir einen großen Gefallen schuldig und hat sich bereit erklärt, an deiner Stelle einen Phönix-Krieger zu heiraten.“
Das musste ja ein riesiger Gefallen sein, wenn die Hochzeit mit einem Fremden eine adäquate Revanche war. Und was zur Hölle hatte sie gemeint? „An ihrer Stelle?“ Strider hatte nicht vorgehabt zu schreien, aber verdammt noch mal. „Die denken, sie wird außer mir noch jemanden heiraten? Darüber sollten sie lieber noch mal nachdenken! Sie gehört zu mir.“
„Ich verstehe das nicht“, sagte Kaia leise. „Und er hat recht. Ich gehöre zu ihm.“
Ihre Liebeserklärung machte ihn genauso heiß wie ihr inneres Feuer, aber gleichzeitig besänftigte sie ihn – was sie vermutlich beabsichtigt hatte.
Taliyah erwiderte: „Sie hätten dich geholt und ihn getötet. Und da ich wusste, dass dich das traurig machen würde, habe ich anderweitige Vorkehrungen getroffen.“
Einfach so? „Jetzt werden sie bloß versuchen, sich beide zu holen.“
„Nein“, versicherte Taliyah ihm. „Ich werde dir zwar keine Details über die Abmachung verraten – das obliegt allein Neeka –, aber sie werden nicht kommen, um sich Kaia zu holen.“
„Neeka“, sagte er und ließ den Blick zu der anderen Rothaarigen schweifen.
Sie beobachtete mit einem leicht traurigen Ausdruck im Gesicht die Schwestern, weshalb sie nicht mitbekommen hatte, dass er mit ihr sprach. Kaia sah sie ebenfalls an, und die Harpyie nickte.
„Warum?“, fragte Kaia.
„Ich habe ihr das Leben gerettet“, antwortete Taliyah anstelle der Eagleshield. „Wie gesagt: Sie war mir etwas schuldig.“
„Kann sie ihr Feuer aushalten?“, fragte Strider. Denn falls nicht, würden die Krieger trotzdem zu Kaia kommen.
„Noch nicht“, sagte Neeka.
Jetzt erwiderte sie seinen Blick. „Dann ist das, was du tust …“ „Aber ich werde es können. Eines Tages. Doch momentan habe ich etwas, das sie genauso schätzen.“
„Und jetzt müssen wir wirklich gehen“, meinte Taliyah und zerrte ihre Freundin zur Tür, ehe Neeka ihre Worte näher erläutern konnte. Nicht, dass sie das getan hätte. Ihre Lippen waren ziemlich fest verschlossen. „Wir sind Tabitha auf den Fersen, um sicherzugehen, dass ihre Leute sie in Sicherheit bringen. Du hast sie verdammt gut fertiggemacht. Ich war ganz schön beeindruckt, Baby Girl.“
„Danke“, erwiderte Kaia nicht ganz ohne Schuldgefühl.
Taliyah lächelte sie flüchtig an. „Sobald ich sicher bin, dass man sich um sie kümmert, komme ich wieder.“
Die Tür ging zu, und die Frauen waren fort.
Strider beobachtete, wie das schlechte Gewissen Kaias Gesicht verdunkelte.
„Wegen deiner Mutter?“, fragte er.
„Ja. Ich wünschte, unsere Beziehung wäre nie an so einen entsetzlichen Punkt gelangt, aber …“
In diesem Moment nahm Lucien vor ihren Augen Gestalt an, und Kaia presste die Lippen aufeinander. Der große Krieger sah von einem zum anderen und fluchte. „Was zur Hölle ist denn mit euch passiert?“
Strider schaute seinen Freund an. Schwarze Haare, verschiedenfarbige Augen – eins blau, eins braun – und ein Gesicht, das genauso vernarbt war wie der Nachttisch. „Was passiert ist, spielt keine Rolle. Nur das Endergebnis zählt. Das hier“, sagte er und hielt ihm die Zweiadrige Rute entgegen, „ist das vierte Artefakt.“
Lucien riss die Augen auf, als er die Rute an sich nahm. „Du nimmst mich auf den Arm, stimmt’s?“ Er ließ den Blick über den fraglichen Gegenstand schweifen.
„Nein. Da draußen rast eine sehr wütende Harpyie umher, die sie zurückhaben will, und sie wird alles tun, um sie sich zu holen.“
Der Hüter von Tod knackte mit dem Kiefer. Er war ein Krieger mit Leib und Seele. „Wie hat sie sie denn überhaupt in die Finger gekriegt?“
„Das erzähle ich dir ein andermal.“ Striders Stimme … so schwach, so fern. Wieder versuchte er, sich aufzusetzen, versuchte er, sich zu konzentrieren und dazubleiben. Allmählich saugten die quälenden Schmerzen und die Erschöpfung das letzte bisschen Kraft aus ihm heraus. Er lag da, rang um Luft und sprach angestrengt weiter: „Zumindest wissen wir endlich, was dieses Artefakt alles kann. Irgendwie kann es Seelen und übernatürliche Fähigkeiten in seiner Spitze einfangen. Diese Spitze kann die Seelen und Fähigkeiten außerdem an andere weitergeben.“
Angespannte, schwere Stille, während Lucien die Neuigkeiten verarbeitete.
Dann ertönte ein Piep.
„Eine SMS.“ Kaia holte ihr Handy heraus, starrte auf das Display und seufzte erleichtert. „Gwen und Sabin sind in Sicherheit. Ich habe ihnen gesagt, wo wir sind, und sie sind auf dem Weg.“
Strider war ebenfalls erleichtert. Schnell sprach er weiter. Er wollte alle Fakten auf den Tisch gelegt haben, bevor er ohnmächtig würde. „Ich weiß nicht, wie ich das verdammte Teil benutzen muss. Ich weiß nur, dass derjenige, der es in der Hand hält, sich nicht nehmen kann, was in der Rute gefangen ist, sondern es nur an andere weitergeben kann.“
Piep.
Eine Pause. „Lysander kann Bianka nicht finden“, sagte Kaia jetzt, und in ihrer Stimme schwang Panik mit. „Er macht sich Sorgen und fragt, ob irgendwer sie gesehen hat.“
„Ich bin sicher, dass sie …“, begann Lucien.
Noch ein Piep.
Noch eine Pause. „Oh meine Götter.“ Kaia schluckte ein Schluchzen herunter. „Nein, nein, nein. Nein!“
Endlich fand Strider die Kraft, sich aufzusetzen. Ihre Sorge übertrug sich sofort auf ihn. „Was ist los, Baby Doll?“
Die Tränen sprangen ihr in die Augen, als sie ihm das Display hinhielt. Ihre Hand zitterte, während er las: Deine Schwester soll überleben? Dann lass uns verhandeln.
Es schnürte ihm die Kehle zu, als er das Zeichen sah, das auf einen Anhang hinwies. „Was ist das für ein Anhang?“
„Ein Anhang? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Ihr Zittern wurde stärker, als sie genauer hinsah. Sie drückte ein paar Tasten und unterdrückte wieder ein Schluchzen. „Ein Video. Ich sehe Bianka. Sie ist gefesselt. Und sie blutet.“
Nach einigen Sekunden statischen Rauschens hörte er Bianka schreien: „Sag ihr, sie soll sich ins Knie ficken, Kye!“ Dann hörte man Juliettes Stimme: „Bring mir in einer Stunde die Zweiadrige Rute, sonst werde ich deiner Zwillingsschwester genauso den Kopf abschlagen, wie dein Bastard von Gemahl ihn Lazarus abgeschlagen hat, das schwöre ich dir. Und wenn du es wagen solltest, die Sache mit dem Feuer zu machen …“
Ein wütendes Kreischen. „Weißt du was? Bring deinen Gemahl auch her. Entweder deine Schwester stirbt oder er. Du hast die Wahl. Für jede Minute, die du zu spät kommst, wird deine Schwester leiden.“ Eine Pause. „Ach, und … Kaia? Ich hoffe inständig, dass du zu spät kommst. Viel Glück dabei, uns zu finden.“