8. KAPITEL
William der Lustmolch stand im Wohnzimmer eines Hauses, in dem Menschen lebten. Er war ehrenhalber Herr der Unterwelt und ein Mann von solcher körperlicher Perfektion, dass er einst zum schönsten Unsterblichen aller Zeiten gekürt worden war. Gut, das lag vielleicht auch daran, dass er in diesem Wettbewerb der einzige Richter gewesen war. Na und? Er würde bei den Überbleibseln seiner Seele schwören, dass das Ergebnis nicht schon von vornherein festgestanden hatte …
Eigentlich hätte Strider der Wortbrecher bei ihm sein sollen. Ich scheine auf ihn abzufärben. Strider hatte es versprochen, aber stattdessen verbrachte der glückliche Mistkerl seine Zeit ausgerechnet mit der Harpyie, die William in seinen Träumen schon so oft verführt hatte.
William hatte schon mit Vampiren, Menschen, Hexen, Gestaltwandlerinnen und Göttinnen geschlafen, aber noch nie mit einer Harpyie. Er wollte mit einer Harpyie schlafen. Schnief, schmoll.
Wenn er hier fertig wäre, könnte er mit Strider ja ein kleines bisschen um Kaias Gunst wetteifern. Schließlich mochte der Krieger Wettkämpfe, und William gab doch so gerne. Immer dachte er zuerst an andere statt an sich.
Genau diese Gebernatur war auch der Grund, weshalb er hier war.
„Hier“ war ein durchschnittliches Wohnhaus mit durchschnittlich vielen Zimmern, die dringend einen Innenausstatter sehen mussten. Beigefarbene Möbel, beigefarbene Wände und beigefarbener Teppich, als hätten die Bewohner Angst vor Farbe. Ach ja, und halb leere Wodkaflaschen, die im Rauchabzug, hinter Büchern und sogar in Aussparungen in den Matratzen versteckt waren.
In diesem profanen, gefängnisähnlichen Alkoholikerparadies war seine kleine Gilly Gumdrop aufgewachsen.
Gilly. Alias Gillian Shaw. Mensch, braune Augen und sinnlicher, als gut für sie war. Mit ihren siebzehn Jahren hatte sie schon mehr Grauen und Schrecken kennengelernt, als die meisten Unsterblichen in einer ganzen Ewigkeit erfuhren. Und alles wegen der Bewohner dieses Hauses im Nirgendwo von Nebraska.
William hatte nicht viele Freunde, und genau deshalb kümmerte er sich rührend um die wenigen, die er hatte. Sicher, er mochte die Herren der Unterwelt ziemlich gerne. Es machte Spaß, sie zu quälen, und besonders unterhaltsam war es, dabei zuzusehen, wie sich einer nach dem anderen verliebte. Wie Fliegen, die Bekanntschaft mit dem Gitter einer Fliegenklatsche machten. Bestes Beispiel: Strider. Natürlich nur so lange, bis William dazwischenfunkte. Irgendwann unterläge Kaia mit Sicherheit seiner reizvollen List und vergäße den Hüter von Niederlage.
Allein dieses Unterhaltungsprogramm war den Preis für sein Ticket in ihre Budapester Burg wert. Um dort ein- und ausgehen zu können, erlaubte er Anya, der verdammten (Halb-) Göttin der Anarchie, ihn mit seinem wertvollsten Eigentum zu erpressen. Nachts lag er oft wach und malte sich verschiedene Szenarien aus, wie er dieses Eigentum zurückerlangen könnte. Es war ein verschlüsseltes Buch, in dem stand, wie er sich von den Flüchen befreien konnte, welche die Götter ihm auferlegt hatten. Aber darüber würde er jetzt nicht nachdenken.
Jetzt würde er nur an seine Gilly denken. Er hatte sie vor einigen Monaten kennengelernt, als die Frau des Hüters von Schmerz sie in die Burg gebracht hatte, und war sogleich hin und weg gewesen. Nicht in sexueller Hinsicht, dafür war sie noch viel zu jung – und das würde er sich, falls nötig, auch noch tausendmal sagen –, sondern auf ritterliche Art.
Sie hatte ihn angesehen und einen umwerfend attraktiven, unsterblichen Krieger erblickt, der ihrem Körper unsägliche Lust bereiten könnte. Natürlich. Das sahen alle in ihm. Zudem hatte sie einen unsterblichen Krieger erblickt, der ihre Drachen töten könnte.
Er wollte ihre Drachen töten. Und er würde es auch tun.
In den vergangenen Monaten war er nach verschiedenen Schlachten mehrmals verletzt in die Burg zurückgekehrt. Gilly hatte sich jedes Mal ganz zärtlich und süß um ihn gekümmert und dafür gesorgt, dass er anständig aß und sich im Bett ausruhte. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie lachte mit ihm, machte ihre Scherze mit ihm, und wenn er sie verärgerte, blieb sie und setzte sich mit ihm auseinander, statt davonzulaufen und sich vor seiner Wut zu verstecken.
Tief im Innern wusste sie, dass er ihr nie etwas antun würde. Dessen war sie sich sogar sicherer als er selbst. Denn in ihm lauerte eine Finsternis, eine rauschende Finsternis, die den abscheulichsten Winkeln der Hölle entsprungen war. Eine Finsternis, die er nie mehr geliebt hatte als in diesem Moment.
Kaum jemand bemerkte seine böse Seite. Man sah in ihm den respektlosen Schuft, als den er sich ausgab. Und dieses Bild war auch keine Lüge. William war respektlos bis ins Mark, aber es steckte noch mehr in ihm, und irgendwie konnte Gilly diesen Teil ebenfalls sehen.
Und dennoch akzeptierte sie ihn. Hatte ihn nie gebeten, sich zu ändern. Hatte immer nur seine Gesellschaft genossen und ihn beschützt. Nie zuvor hatte irgendwer versucht, ihn zu beschützen.
Jetzt würde er sie beschützen. Ihre Familie hatte ihr auf übelste Art wehgetan. Und deshalb würde ihre Familie nun auf übelste Art sterben. Immerhin war Rache eine ganz eigene Form des Beschützens. Natürlich war mittlerweile Zeit vergangen, und sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihr furchtbar wehgetan und sie schließlich auf die Straße getrieben hatten – und das könnten sie wieder tun, mit jemand anderem. Er hatte das hier schon vor langer Zeit erledigen wollen, und er wollte es noch immer. Das Bedürfnis war sogar stärker geworden.
William ging in dem Zimmer umher, hob Schnickschnack auf, ließ ihn fallen und lächelte, wenn er auf dem Boden zerbarst. Gillys Mutter und Stiefvater waren offensichtlich bei der Arbeit, und ihre Stiefbrüder wohnten nicht mehr hier, weshalb er sich keine Mühe gab, leise zu sein. Als er mit der Aufwärmübung fertig war, sah er sich die Fotos an, die auf dem Kaminsims standen.
Von Gilly war keins dabei.
Anscheinend hatten sie sie aus ihrem Leben gestrichen. Kein Gedanke an sie oder daran, was mit ihr geschehen sein mochte, nachdem sie gegangen war.
Stattdessen sah er eine wasserstoffblonde Frau in den Dreißigern mit Silikonbrüsten und einen durchschnittlich aussehenden Mann, ebenfalls in den Dreißigern.
Williams Magen zog sich zusammen, als er auf das Gesicht des Mannes tippte. Der Bastard würde für jede unsittliche Berührung und für jedes Quäntchen Scham, das er in ihr ausgelöst hatte, bezahlen. Die Mutter würde dafür bezahlen, dass sie das alles zugelassen hatte. Die Brüder würden dafür bezahlen, dass sie Gilly nicht beschützt hatten.
Ihre Familie hatte ihr keine andere Wahl gelassen, als im Alter von fünfzehn Jahren abzuhauen. Fünfzehn. Über ein Jahr lang hatte sie sich mutterseelenallein durchgeschlagen, bis Danika sie gefunden und nach Budapest gebracht hatte. Doch nach allem, was man ihr angetan hatte und was sie hatte tun müssen, um etwas zu essen zu bekommen, hatte sie jegliche Selbstachtung verloren. Sie fühlte sich benutzt, schmutzig und wertlos. Zwar sagte sie das nie, doch er wusste es. Als sie in der Burg der Herren gewohnt hatte, hatte sie im Zimmer neben seinem geschlafen, und er hatte oft gehört, wie sie nachts aufschrie. Er wusste, dass sie von Albträumen geplagt wurde.
Auch für jeden einzelnen dieser düsteren Träume würde ihre Familie bezahlen.
Plötzlich vernahm er das Geräusch eines Garagentors, das langsam aufging. Er grinste. Prima. Der erste Kandidat des Wettbewerbs „Verletzen, Leiden und Sterben“ war zu Hause.
Nach seiner Ankunft hatte er die Tasche mit den „Spielzeugen“ auf dem Boden abgestellt. Nun bückte er sich und hob sie hoch. Oh nein, nie zuvor hatte er seine Finsternis mehr geliebt.
Das würde ein Heidenspaß.
Kane, Hüter des Dämons Katastrophe, ging den langen, gewundenen Korridor in dem ihm unbekannten Himmelspalast entlang. Die Wände sahen seltsam aus. Sie bestanden aus Abertausenden Fäden, die miteinander verwoben waren. Dicke, bunte Fäden, auf denen bewegte Bilder liefen. Es war, als wären die Menschen, die er sah, echte, atmende Wesen und als bräuchte er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Das war das Faszinierendste, was er je gesehen hatte – und waren das da nicht Strider und Kaia, wie sie im Mondlicht an einem Hügel vorbeikrochen, während sich von hinten mehrere Frauen anschlichen und die Waffen auf ihre Köpfe richteten?
Er blieb stehen, kniff leicht die Augen zusammen, um das Bild genauer zu fixieren, und ballte die Fäuste. In seinen Schläfen explodierte ein unbeschreiblicher Schmerz. Erst als er geradeaus blickte und das Bild, das er gesehen hatte, aus seinem Kopf verbannte, ließ der Schmerz nach.
Er atmete ein und aus. Seine Gedanken wurden nebulös und wieder klar. Dann konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was ihn überhaupt so aufgewühlt hatte. Na ja. Ein und aus. Ein, aus. Klarer und klarer. In der Luft lag der süße Duft von Ambrosia. Damit die Besucher gefügig blieben?
Wenn das doch nur bei ihm funktionieren würde. Doch die Göttinnen, die hier lebten, hätten Benzin durch die Lüftung pumpen können, und es hätte ihn nicht beeinflusst. Sein Dämon liebte alles Unaufrichtige, Verstohlene und potenziell Lebensbedrohliche. Und vielleicht, nur vielleicht, würde diese Liebe den Bastard davon abhalten, den Boden aufzubrechen, auf dem Kane stand. Oder die Decke über ihm aufzureißen. Vielleicht war sein Durst nach Unglück noch eine kleine Weile gestillt.
Ein Mann konnte doch wenigstens hoffen.
Kane setzte sich wieder in Bewegung. Er hatte ein Ziel, nicht wahr? Oh ja. Die Moiren hatten ihn gerufen. Warum zum Teufel hatten sie ihn gerufen?
Was auch immer der Grund sein mochte, er lächelte wie ein braver kleiner Junge. Er wollte die Moiren nämlich auf keinen Fall verärgern, und bei seiner momentanen Was-verdammt-noch-mal-geht-hier-vor-Stimmung musste er besonders vorsichtig sein. Sie waren weder Griechinnen noch Titanen – er wusste nicht, was sie waren – und dennoch hatte kein Göttergeschlecht je die Hand gegen die drei Frauen erhoben, die hier lebten, und das würde auch nie geschehen. Denn die Moiren waren Schicksalsgöttinnen. Sie spannen und sie webten, und die Szenen, die sie erschufen, geschahen immer. Ohne Ausnahme.
Noch nie hatte sich ihnen irgendwer genähert, wenn sie ihn nicht gerufen hatten. Nicht mal Cronus, der Götterkönig. Und in all den Jahrhunderten seines langen Lebens war Kane niemals jemandem begegnet, den dieser Ruf ereilt hatte. Bis heute. Und er, Katastrophe, war der glückliche Empfänger.
Er war gerade aus der Stadt zurückgekommen, wo er die ganze Nacht nach Jägern gesucht hatte. Nachdem er keinen gefunden hatte – anscheinend hatte Strider, dieser gierige Kerl, vor seiner Abreise alle abgemurkst –, war er sogleich ins Bett gefallen, ohne sich seiner Waffen oder Stiefel zu entledigen. Noch ehe er das Licht ausgeschaltet hatte, entfaltete sich eine leuchtende Schnur von seiner Decke, an dessen Ende eine vergilbte Schriftrolle hing.
Er hatte das Pergament gelesen und war genauso verwirrt gewesen wie jetzt. Das Ding war eine Kreuzung zwischen Hochzeitseinladung und Arzneimittelpackungsbeilage und zudem in Altgriechisch verfasst.
Sie sind herzlich in den Schicksalstempel eingeladen.
Bei Nichterscheinen möglicherweise Enthauptung oder Tod.
Enthauptung oder Tod? Wirklich? Im nächsten Moment war seine Umgebung verschwunden, und er hatte sich in besagtem Tempel wiedergefunden, um ihn herum diese Fadenwände. Er hatte sich in Bewegung gesetzt, da er dachte, jegliches Zögern seinerseits hätte besagte Enthauptung zur Folge. Oder besagten Tod.
Während er also wusste, wo er sich befand, wusste er noch immer nicht, warum er hier war. Warum er? Warum jetzt?
Das würde er vermutlich noch erfahren.
Der Bilderteppich an der Wand schien endlos weiterzugehen, aber plötzlich – leider? – erreichte Kane das Ende und betrat ein … Webzimmer? Drei Frauen – oder besser: drei alte Weiber – saßen vornübergebeugt auf Holzpfeilern. Die fisseligen, weißen Haare fielen ihnen über die Schultern. Alle drei trugen makellose, weiße Roben, die kein bisschen zerknittert waren.
Die mit den Altersflecken auf den Händen – dank der Legenden, die sich um die drei rankten, wusste er, dass sie Klotho hieß – spann die Fäden. Die mit den knorrigen Fingern, Lachesis, webte die Fäden zusammen, und die mit den pupillenlosen Augen, Atropos, schnitt die Enden ab.
Schweigend presste Kane die Lippen zusammen. Aus Respekt vor einer Macht, die weit größer war als seine eigene, wartete er, bis man ihn bemerkte. Vielleicht haben sie mich deshalb auserwählt, dachte er. Keiner der anderen Herren hätte sie mit der gebotenen Achtung behandelt, weshalb sie bestraft worden wären.
Wenn er doch nur die Wahrheit gekannt hätte. Er mochte wissen, wie man andere respektvoll behandelte, aber im Grunde war er der größte Chaot der Truppe. Derjenige, der nichts richtig machte. Derjenige, der meist zurückgelassen wurde, weil er dazu neigte, mehr Schaden anzurichten als zu helfen. Dennoch hörte er nicht ein Mal auf zu lächeln. Weder hier noch in Gegenwart seiner Freunde. Er wollte nicht, dass sie die Wahrheit erfuhren. Sie sollten nicht erfahren, dass er in seinem Innern nichts weiter war als ein großer qualmender Chaoshaufen.
Meistens funktionierte er via Autopilot. Wenn sein Dämon ihm zu viel wurde – wenn ihn das Verlangen erfüllte, etwas auszulöschen, zu vergessen, loszulassen, sich zu verstellen –, tat er … Dinge. Zerstörte er Sachen.
Sabin, der Hüter von Zweifel und zugleich der Krieger, dem Kane geradewegs in die Hölle gefolgt wäre, wusste das. Aber Sabin war auch der Einzige. Er profitierte sogar von Kanes Gewalt – was nicht weiter verwunderlich war – und half ihm, sie zu kanalisieren. Bevor er mit seiner Frau abgereist war, hatte Sabin ihm ein kleines Geschenk dagelassen. Ein Teil von ihm wollte unbedingt zurück zur Burg, um zu tun, was getan werden musste. Der andere Teil zeigte sich zufrieden damit, hierzubleiben und abzuwarten. Immerhin hatte er das Geschenk links liegen lassen und war stattdessen in die Stadt geeilt, weil er dachte, der Versuchung auf diese Art widerstehen zu können. Er hatte sogar vorgehabt, nach seiner Rückkehr ein Schläfchen zu machen. Alles, um seine Seele vor weiterem Schaden zu bewahren. Doch wie lange wäre er stark geblieben?
Eine, vielleicht zwei Stunden stand er da und wartete darauf, dass man ihn bemerkte. Für gewöhnlich bewirkte mangelnde Aktivität, dass sein Dämon handeln musste und irgendeine Katastrophe heraufbeschwor. Oder mehrere. Vielleicht lag es am Ambrosia, oder vielleicht hatte sein Dämon genauso große Angst vor den Weibern wie alle anderen. Zumindest benahm Katastrophe sich wie ein Musterschüler. Er summte nicht mal in Kanes Kopf, obwohl das Geräusch normalerweise nur selten verstummte.
„Warum bist du hier, Junge?“, fragte Klotho endlich mit rauchiger Stimme und ohne von der Arbeit aufzusehen.
Äh, wie jetzt? „Ich habe Eure Einladung erhalten“, erwiderte er und fügte schnell hinzu: „My Lady.“ Götter, was war er nur für ein Arschkriecher. Aber ein Mann musste tun, was ein Mann tun musste. Zwar trug er seinen Tiefschutz, doch hieß das noch lange nicht, dass er sich ein Schild mit der Aufforderung, ihn zu treten, an die Eier hängen musste.
„Dich eingeladen? Das ist schon Abertausende von Jahren her“, entgegnete Lachesis. „Da bin ich mir sicher.“
„Sicher“, wiederholte Atropos wie ein Echo. „Dennoch bist du nie gekommen.“
„Weshalb deine Einladung für ungültig erklärt wurde.“
„Du darfst auf demselben Weg gehen, auf dem du gekommen bist.“
Er sah sie mit offenem Mund an. Sie hatten ihn vor Abertausenden von Jahren eingeladen? Warum hatten sie ihn als Bestrafung für sein Nichterscheinen dann nicht enthauptet? „Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber ich habe eben gerade erst Eure freundliche Einladung erhalten.“
„Nicht unsere Schuld.“
„Wahrscheinlich warst du unaufmerksam.“
„Vielleicht lernst du nun, aufmerksamer zu sein.“
„Du darfst auf demselben Weg gehen, auf dem du gekommen bist.“
Achtung war eine Sache. Unbefriedigte Neugier eine andere. Außerdem – wenn sie ihn hergebracht hatten, um ihm weise Worte mitzuteilen, die ihm und seinen Freunden das Leben retten könnten, oder um ihn zu warnen, wollte er diese Worte verdammt noch mal auch hören. Deshalb ginge er auch nicht ohne sie.
„Darf ich Euch die Informationen abkaufen?“, fragte er.
„Welche Informationen?“
„Wer hat etwas von Informationen gesagt?“
„Du bist verrückt, nicht wahr?“
„Du darfst auf demselben Weg gehen, auf dem du gekommen bist.“
Er presste die Zunge gegen seine Schneidezähne. „Wenn Ihr mir vor Abertausenden von Jahren keine Information zuteil werden lassen wolltet …“, er bemühte sich, nicht wütend zu klingen, „… warum habt Ihr mich dann gerufen?“ Dieselbe Frage, nur andersrum gestellt. Na los, schluckt den Köder. Sagt es mir.
„Klotho, erinnerst du dich noch an das letzte Mal, als jemand versucht hat, uns schwindelig zu reden?“
„Oh ja, Lachesis. Wir haben sie in das Endlose eingewebt.“
In das endlose was?
„Vielleicht hat sie ihre Lektion gelernt.“
„Vielleicht hat sie ihre Lektion nicht gelernt.“
„Sie ist nicht auf demselben Weg gegangen, auf dem sie gekommen ist.“
„Wer ist ‚sie‘?“, fragte er, um seine Stellung zu behaupten. Vielleicht war das ein dämlicher Schachzug, aber er konnte nicht auf demselben Weg gehen, auf dem er gekommen war. Also was hatte er schon für eine Wahl? Sich allein mit der Kraft der Gedanken von einem Ort zum nächsten zu beamen gehörte nämlich nicht zu seinen Fähigkeiten.
„Sie? ‚Sie‘ ist natürlich dein Mädchen“, antwortete Atropos.
Er blinzelte. „Mein Mädchen? Was?“
„Die im Endlosen.“
„Nein, nein“, widersprach Klotho. „Die gehört nicht ihm, sondern die andere. Oder ist es andersrum?“
„Womöglich gehören sie beide ihm?“, entgegnete Lachesis.
„Sie gehört mir? Sie gehören mir?“, fragte er atemlos. Inwiefern? Waren sie seine Geliebten? Falls ja, dann nein danke. Das hatte er schon ausprobiert und viel zu viel Unheil angerichtet. Seine Frauen litten immer. Dafür sorgte sein Dämon ganz von selbst. Kane war alleine besser dran.
„Natürlich gehört sie dir, wenn auch nicht die im Endlosen. Die gehört niemandem. Außer natürlich, sie gehört dir.“
Die drei gackerten.
„Guter Witz, Schwester. Den muss ich mir für die nächste Einladung des Kriegers merken.“
„Wer gehört mir oder gehört mir nicht?“, fragte er, und sein Blick schoss von einem Weib zum anderen. Die nächste Einladung?
„Verantwortungslosigkeit natürlich.“
„Verantwortungslosigkeit“, wiederholte er. Etwa die Hüterin von Verantwortungslosigkeit? Kane wusste, dass der böse Geist irgendwo da draußen war. In der Büchse der Pandora waren mehr Dämonen gefangen gewesen, als es ungehorsame Krieger gegeben hatte, weshalb die Götter sie auf die Gefangenen im Tartaros verteilt hatten, um sie einigermaßen im Zaum zu halten. Verantwortungslosigkeit war ein solches Überbleibsel.
Er hatte sogar nach ihm … ihr gesucht. Verdammt. Er war immer davon ausgegangen, dass der Hüter ein Mann wäre. Sein Fehler und einer, den er bestimmt nicht noch einmal machen würde. Er und seine Freunde wollten alle von Dämonen besessenen Krieger auf ihrer Seite wissen. Und das hieß, sie mussten sie finden, bevor die Jäger es taten.
Schließlich konnte Galen, der Hüter von Hoffnung und Anführer der Jäger, jeden von allem überzeugen. Und das Letzte, was die Jäger brauchten, war, dass er ihre Brüder und Schwestern überzeugte, sie zu töten.
„Habe ich das nicht gerade gesagt?“, fragte eine von ihnen.
„Das hast du gerade gesagt.“
„Du bist nicht besonders helle, nicht wahr, Junge?“
„Wie kann ich sie aus dem Endlosen herausholen?“, fragte er, ohne auf die Frage einzugehen. Er wollte vielleicht keine feste Freundin haben, aber er wollte diese Dämonenhüterin finden. Wozu war sie in der Lage? Wie mächtig war sie? „Was ist das ‚Endlose‘ überhaupt?“
„Wieso kennt er die Antworten auf diese Fragen nicht?“
„Haben wir sie ihm nicht schon längst gegeben?“
„Vielleicht ist unsere Zeitachse wieder kaputt“, meinte Klotho.
Wieder? Wie oft geschah das denn? Oder anders gefragt: Was hatte es zur Folge, wenn das geschah?
„Sollen wir zurückspulen?“
„Sollen wir vorspulen?“
Gütige Götter. Keine der beiden Optionen erschien ihm klug.
„Ja“, sagten sie im Chor und schüttelten den Wandteppich, an dem sie gerade arbeiteten. Ein Moment verstrich in Stille, dann noch einer.
Dann: „Was machst du hier, Junge?“
Kane ertappte sich dabei, wie er wieder nur blinzelte. Nichts hatte sich verändert. Weder seine Umgebung noch die Frauen. Alles war genauso wie beim ersten Betreten des Raumes, und dennoch hatten sie vergessen, dass er hier war?
Hatten sie zurückgespult? Oder vorgespult? Mist. Falls ja, was bedeutete das für ihn? „Ihr habt mich gerufen“, krächzte er.
„Ja, ja. Wir haben dich gerufen.“
„Erst heute Morgen. Gut, dass du so schnell gekommen bist.“
„Beeindruckend.“
Offenbar hatten sie Abertausende von Jahren zurückgespult. Wenn er diesen Tempel wieder verließe, würde er dann ins antike Griechenland zurückkehren? Sein Magen verkrampfte sich.
„Was bist du nur für ein Sensibelchen.“
Konnten sie etwa nicht nur die Zeit manipulieren, sondern auch seine Gedanken lesen? Er hätte wirklich ihren Rat befolgen und auf demselben Weg gehen sollen, auf dem er gekommen war. Das hier war … Das hier war genauso verrückt wie er.
„Als ob wir deinetwegen das Zeitgewebe zerstören würden.“
„Du wirst auf demselben Weg gehen, auf dem du gekommen bist.“
Den Göttern war Dank. „Ihr habt eine Frau erwähnt.“
„Ich habe keine Frau erwähnt. Habt ihr eine Frau erwähnt?“
„Ich nicht. Ich erwähne dem Hüter von Katastrophe gegenüber viele Tausend Jahre lang keine Frau.“
„Vielleicht ist unsere Zeitachse wieder kaputt.“
Wieder schüttelten sie den Wandteppich. Mit trockenem Mund und schlotternden Knien wartete er mehrere stille Sekunden ab.
„I…ich denke, ich gehe jetzt auf demselben Weg zurück, auf dem ich gekommen bin“, sagte Kane und zog sich zentimeterweise zurück. Er hielt es einfach nicht länger aus. Sie waren scheinbar nicht in der Lage, ihm auch nur eine klare Antwort zu geben, da ihr Verstand nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden konnte. „Ich danke Euch dennoch für Eure Einladung und Gastfreundschaft. Wenn Ihr mir vielleicht noch den Weg nach draußen zeigen könntet …“
Atropos, deren Augen so weiß waren, dass sie wie eine Schneedecke aussahen, hob den Kopf von ihrer Schere und schien – unmöglich! – ihn anzuschauen. „Endlich zeigst du dich uns. Nach der ganzen Zeit hatten wir schon aufgegeben.“
Er massierte sich den Nacken. Machte das jeder durch, der hierher gerufen wurde? „Ja, endlich.“ Er machte einen Schritt, dann noch einen. „Ich entschuldige mich dafür, dass Ihr warten musstet, und möchte mich noch einmal für Eure Zeit bedanken, aber ich muss wirklich …“
„Still.“ Lachesis sah ebenfalls auf, doch ihre knorrigen Finger arbeiteten weiter. „Wir wissen immer, was passiert, aber niemals warum. Deinetwegen haben wir uns wieder und wieder den Kopf zerbrochen, und nun hätten wir endlich gerne eine Antwort.“
„Eine Antwort worauf?“, fragte er. Was wollten sie nur von ihm wissen?
Das dritte Weib, Klotho, folgte nicht dem Beispiel der anderen, ihn anzusehen. Sie sagte einfach nur: „Wir möchten wissen, warum du mit der Apokalypse begonnen hast“, und fuhr unbeeindruckt damit fort, ihre Fäden zu spinnen.