21. KAPITEL

Die Himmelspforte befand sich genau dort, wo sie der Kurznachricht zufolge sein sollte. Es war ein schimmerndes Luftloch zwischen zwei vereisten, mondbeschienenen Bergen. Kaias Team kauerte auf einem Felsen hoch oben und beobachtete, wartete. Bangte.

Kaia lag auf einem rutschigen Felsvorsprung. Die Kälte kroch ihr bis in die Knochen. Normalerweise machten ihr solche eisigen Temperaturen nichts aus. Aber diesmal zitterte sie, und ihre Zähne klapperten. Vermutlich hatte sich ihre Wunde entzündet, und sie hatte leichtes Fieber, aber wenigstens waren die Schmerzen weg. Die Kälte hatte die dämliche, nach wie vor klaffende Verletzung betäubt.

Um sich von so einer Verletzung zu erholen, brauchte sie Striders Blut.

Im Grunde brauchte sie einfach nur Strider. Sie hatte keine Ahnung, wie sie schon so lange ohne ihn ausgekommen war. Aber weil sie so ein ungezogenes Mädchen war, würde sie ihn nicht kriegen. Jedenfalls nicht in nächster Zeit – und vielleicht auch danach nicht. Sie konnte nur hoffen, dass er die Nachricht, die sie ihm hinterlassen hatte, bekommen hatte und bereits auf dem Weg nach Buda war. Sein Wohlergehen kam vor ihrem verständlich großen Verlangen nach ihm. Wenn auch nur ein bisschen davor!

Sie drehte an dem Rädchen ihres Fernglases, um sich die Umgebung etwas genauer anzusehen. Weiß, Weiß und noch mehr Weiß, aber bislang waren keine anderen Harpyien in Sicht. Und auch keine verräterischen Atemwölkchen. Keine hellen Flecken, die die Felsen hinunterschlichen und sich zentimeterweise der Sicherheit näherten. Kein Klicken in der Brise als Anzeichen dafür, dass irgendwer Pfeile anspitzte. Doch selbst die Stille behagte ihr nicht. Erst wenn sie den Fuß des Berges erreicht hätten und durch die Pforte träten, befänden sie sich auf neutralem Gebiet. Dann wäre niemand mehr in der Lage, sie anzugreifen.

Die Frage war nur, ob sie den Fuß erreichen würden.

„Ich finde, wir sind gut“, meinte Taliyah, als sie sich das Fernglas schnappte und es über die höheren Gipfel schwenkte. „Und wir können wirklich nicht länger warten. Du und Tedra, ihr müsst dringend versorgt werden, aber hier können wir das nicht machen.“

Bianka nahm Taliyah das Fernglas aus der Hand und sah hinunter zur Ebene. „Wenn Lysander hier wäre, könnte er über uns fliegen und …“

„Schon wieder dieser Schwachsinn?“ Kaia nahm sich das Fernglas zurück und warf es sich über die Schulter. In der letzten Stunde hatte Bianka sämtliche Gründe genannt, warum es besser wäre, wenn ihre Männer hier wären. Als ob Kaia das nicht schon längst gewusst hätte, verdammt.

„He!“, beschwerte sich Neeka. „Das tat weh.“

Kaia drehte sich um und verzog das Gesicht, als sie einen stechenden Schmerz in der Seite spürte. Die hübsche Rothaarige sah sie wütend an und rieb sich die Beule, die sich über ihrem linken Auge bildete. „Ich würde mich ja entschuldigen, aber es war absolut Biankas Schuld, weil sie …“

„Pst!“ Bianka schnitt ihr das Wort ab, indem sie ihr den Mund zuhielt. Mit der freien Hand zeigte sie auf die schimmernde Pforte. „Sieh doch.“

Sie schaute hin. Die Falconways und die Songbirds hatten soeben den Gipfel des gegenüberliegenden Berges überquert und rannten nun auf die Pforte zu. Schneller … und schneller, bis sie nur noch verschwommen zu sehen waren. Niemand versuchte sie aufzuhalten, und eine nach der anderen schlüpften sie durch das schillernde Luftloch – und waren schon nicht mehr zu sehen.

Falls ihnen Jäger auflauerten, hätten sie doch wenigstens aus ihrem Versteck hervorgelugt, um zu sehen, wer auf die Pforte zulief. Oder?

„Okay“, meinte Kaia nickend. „Die Pforte liegt direkt vor uns. Wir werden es also wie folgt machen: Da zwei von uns zu verletzt sind, um zu rennen, wir an Geschwindigkeit verlieren, wenn ihr uns tragt, und ich nicht will, dass wir uns trennen, setzen wir uns gleich alle auf unsere Rucksäcke und rutschen über diesen Vorsprung bis nach unten. Wie auf Schlitten. Und dann, ta-da, sind wir gesund und munter im Himmel, bevor wir es überhaupt merken.“

Sie hörte zustimmendes Gemurmel.

Nach wenigen Minuten hatten sie sich aufgestellt und waren bereit zum Schlittenfahren. Kaia führte die Truppe an. Sie saß auf ihrem Rucksack, ihre Beine baumelten bereits über der Felskante. Das Herz schlug hart in ihrer Brust. Sie war schon tausendmal von diesem Berg gesprungen, wenn sie mit Bianka „Wer schafft es, sich weniger Knochen zu brechen“ gespielt hatte. Meistens hatte sie gewonnen – Bianka hatte sich immer nur die Hände vors Gesicht gehalten und ihren Körper quasi ungeschützt aufs Eis knallen lassen. Aber das spielt jetzt keine Rolle, dachte sie. Konzentrier dich. Nur – wenn eins ihrer Mädchen verletzt würde …

Sie biss fest die Zähne aufeinander. Das würde nicht passieren, nicht noch mal.

Als sie ausatmete, bildete sich ein Wölkchen vor ihrem Gesicht. „Und“, sie rutschte, „los“, sie schlingerte, „geht’s!“ Sie sauste los. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, während sie schneller und schneller wurde, genauso wie die anderen Teams vor ihr. Der Stoff ihres Rucksacks scheuerte schnell durch. Als Nächstes wäre ihr Mantel dran, dann ihre Haut. Sie war fast da …

Eine Pfeilspitze bohrte sich in ihren Oberschenkelmuskel. Noch ehe sie reagieren konnte, traf sie ein zweiter. Sie schrie vor Schmerzen auf. Verdammt! Wie? Wo waren … da! Jäger kamen aus Miniaturluftlöchern heraus, als hätten sie zwischen den Reichen gekauert, sie beobachtet und abgewartet. Am liebsten wäre sie von ihrem Rucksack geflogen und hätte sie einen nach dem anderen in Stücke gerissen, aber … sie sauste durch die Pforte, und die Jäger verschwanden aus ihrem Sichtfeld.

Ein Schwindelanfall. Ein viel zu grelles Licht. Dann lief ihr Rucksack auf die dicken Wurzeln eines Baums auf und blieb stehen. Sie blinzelte, um einen freien Kopf zu bekommen, und griff nach dem Pfeil, der noch immer aus ihrem Bein ragte. Gwen raste mit einem Hmpf in sie hinein und schlug ihr versehentlich die Hand weg.

Noch ein Schrei entfuhr ihr, noch ein Schmerz zuckte durch ihren Körper.

„Alles okay?“, fragte Gwen, die bereits aufgestanden war und Kaia aus der Rutschbahn zog.

„Ja, sicher.“ Sie suchte die Umgebung nach den Falconways und den Songbirds ab. Kein Zeichen von ihnen, den Göttern war Dank. Jedenfalls allen außer Rhea, dieser Schlampe. Ihr würde Kaia für gar nichts danken, selbst in Gedanken nicht. „Und bei dir?“

„Bei mir auch. Aber ich glaube, sie haben Bianka erwischt. Ich habe sie schreien gehört.“

Nein! Lieber würde sie selbst tausend Verletzungen ertragen, als zuzulassen, dass Bianka auch nur eine einzige bekam. „Ich werde sie umbringen …“ Die Drohung blieb ihr in der Kehle stecken. Ein Ast des Baumes bewegte sich verstohlen nach unten, die Blätter – es waren zwei an der Zahl, eins oben und eins unten – waren an den Rändern überraschend scharf gezackt und gingen auf und zu wie ein Maul.

Sie lebten. Die Bäume lebten. Kaia riss die Augen auf, als sie gegen die riesigen, maulartigen Blätter schlug, und rollte sich außer Reichweite. Noch ein stechender Schmerz. „Hast du das gesehen?“, fragte sie keuchend.

Der Ast zog sich zurück, weg von ihnen.

„Ja, und ich taumle immer noch. Sei vorsichtig.“ Gwen wirbelte hin und her, in jeder Hand einen Dolch, beobachtete die Bäume und forderte sie heraus, sich noch einmal zu bewegen.

Plötzlich tauchte Bianka auf und kam abrupt zum Stehen. In Schulter, Unterarm und Bauch steckten Pfeile. Schon jetzt war ihre Kleidung blutverschmiert. „Mist! Sie haben mich erwischt.“

Bei ihrem Anblick musste Kaia ein Wimmern herunterschlucken.

Rhea hat tatsächlich nicht gewollt, dass wir es bis hierher schaffen, dachte sie finster. Tja, dann würde Rhea schon bald eine unangenehme Überraschung erleben. „Ich helfe dir sofort, Schwesterchen. Ich muss zuerst nur etwas erledigen.“ Die Wut gab Kaia die nötige Kraft, um sich den Pfeil aus dem Bein zu ziehen. Als sie fertig war, humpelte sie zu ihrer Schwester und zog sie aus der Rutschbahn – und wieder griffen die bissigen Äste an.

Gwen half ihr, sie abzuwehren. Sie trat und schlug auf sie ein, bis sie sich wieder zurückzogen.

„Diese Dreckschweine!“, keuchte Bianka, die vor Schmerzen und durch den Blutverlust ganz blass war.

„Über die Jäger müssen wir uns später Gedanken machen.“ Und über unsere Rache. „Ich glaube, diese Bäume sind verdammte Vampire.“ Zitternd kniete Kaia sich hin und zog sanft – na ja, so sanft wie möglich – die Pfeilspitzen aus dem Fleisch ihrer Schwester.

Bianka beschwerte sich unentwegt. Zuerst schrie sie Kaia an, dann Taliyah, Neeka und die anderen, die nacheinander eintrudelten. Neeka war die einzige andere, die in dieser Runde etwas abbekommen hatte, und Taliyah verarztete sie. Keiner von beiden gab auch nur den leisesten Mucks von sich.

„Was ist, wenn unsere Jungs durch die Pforte kommen, hm?“, fragte Kaia. „Sie sind auf nichts vorbereitet.“

„Wenn sie so dumm sind herzukommen, verdienen sie, was sie bekommen werden. Und jetzt kommt“, erwiderte Taliyah. „Wir mögen uns zwar auf neutralem Boden befinden, aber es liegt immer noch ein einstündiger Fußmarsch vor uns, ehe wir unser Ziel erreichen. Wir dürfen nicht zu spät kommen.“

Ja, und in einer Stunde konnte eine Menge passieren. „Du bist doch nur eifersüchtig, weil du keinen Ritter auf einem weißen Pferd hast, der kommt, um dich zu retten.“

Taliyah verdrehte die babyblauen Augen. „Deine Verletzungen haben ja schon zu Wahnvorstellungen geführt. Wenn ich meinen Gemahl finde, werde ich ihm direkt ins Herz stechen, bevor er mir auch nur einen Moment des Unbehagens bereiten kann.“

„Verstehe. Dein Gemahl kann mit meinem ohnehin nicht mithalten. Das kann keiner. Also bist du ohne sowieso besser dran.“

„Meiner ist besser als deiner“, widersprach Bianka.

„Auf keinen Fall.“

„Auf jeden Fall.“

„Mädels.“ Taliyah klatschte in die Hände, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Genauso wie sie es gemacht hatte, als sie noch Kinder waren und sich um ein Spielzeug gestritten hatten. „Eure Gemahle sind beide ätzend. Und jetzt haltet die Klappe und bewegt euch.“

„Aber meiner ist besser ätzend als deiner.“ Im Davonhumpeln behielt Kaia die Pforte im Auge und war zugleich erleichtert und besorgt, als die Männer nicht hereinkamen.

Dreimal Hurra. Einmal nichts. Alle Teams waren rechtzeitig angekommen. Natürlich überquerte das Team Kaia die Grenze zum Schlachtfeld als Letztes, aber egal. Auf dem Weg hatten sie ein paar Beulen und Schrammen abbekommen, aber immerhin waren sie in keinen Hinterhalt mehr geraten, und deshalb beschwerte Kaia sich nicht (ganz im Gegensatz zu Bianka).

Die schlimmste „Schramme“ hatte sie abbekommen. Einer der fleischfressenden Bäume hatte sie erwischt, bevor sie ihn hatte verscheuchen können. Scharfe, blätterige Zähne hatten ihr tief ins Handgelenk gebissen. Bei ihrem Aufschrei schien der Baum, nun ja, gewürgt zu haben. Er hatte gezittert und geschwankt und war vor ihren Augen verkümmert. Er war schwarz geworden, hatte gänzlich aufgehört, sich zu bewegen, und Bianka hatte den Ast mit einem einzigen Stoß ihres Dolchs entfernen können.

Danach hatten die Bäume sie in Frieden gelassen. Vielleicht hatte ihr Fieber den einen, der sie gebissen hatte, vergiftet, und die anderen waren schlau genug, um mit demselben Schicksal zu rechnen. Ja, sie hatte definitiv Fieber, und von „leicht“ konnte nicht mehr die Rede sein. Obwohl weit und breit kein Eis zu sehen war, zitterte sie vor Kälte.

Reiß dich zusammen. Auch für Strider.

Die konkurrierenden Harpyien versammelten sich auf der einzigen Lichtung, die von dichten (nicht bissigen?) Pflanzen umgeben war. Die Luft war warm, die Sonne golden und hell mit kleinen violetten, blauen und pinkfarbenen Farbstichen. Es waren keine Gemahle oder Sklaven anwesend, und Kaia fragte sich, warum die anderen Frauen ihre Männer zurückgelassen hatten. Bestimmt nicht aus denselben Gründen wie sie.

Rhea war nirgendwo zu sehen. Dafür stand Juliette auf dem ausgestreckten Ast eines Baumes und blickte über die Menge. Die schwarzen Haare wehten in einer perfekten Brise hinter ihr – nicht zu wenig und nicht zu heftig.

„Willkommen, liebe Schwestern“, verkündete sie. „Ich freue mich, euch mitteilen zu dürfen, dass alle teilnehmenden Teams die Deadline eingehalten haben.“ Ihr lavendelfarbener Blick wanderte zu Kaia. Da sie ihr Aussehen im Spiegel ihrer Puderdose kontrolliert hatte – ja, das Aussehen zählte, selbst hier draußen –, wusste Kaia, was Juliette sah. Dunkle Halbmonde unter ihren Augen, bleiche Haut, abgesehen von den viel zu roten Wangen. „Zum Glück wurde unterwegs niemandem aufgelauert.“

Die Hexe wusste von den Jägern. Woher? Es gab nur eine Antwort, die einen Sinn ergab. War es möglich … Arbeitete sie mit Rhea zusammen? Kaia drehte sich der Magen um, die Säure brannte, dass es schäumte.

Juliette fuhr fröhlich fort: „Wie ihr vermutlich geahnt habt, seid ihr hier, um zu kämpfen.“ Jubelrufe erklangen. Als der Jubel wenig später verebbte, fügte sie hinzu: „Die Zeit für die zweite Disziplin ist gekommen – Todesstoß.“

Jetzt waren „Ooohs“ und „Aaahs“ zu hören.

Juliette hielt die Hände hoch und bat um Ruhe. „Zuerst ein paar Worte zum Spiel. Ihr werden vier Mitglieder auswählen, die kämpfen. Diese vier müssen gleichzeitig in den Bäumen und in der Luft kämpfen. Euer einziges Ziel besteht darin, eure Gegnerinnen zu Boden zu werfen. Sobald eine Harpyie den Boden berührt, scheidet sie aus. Und es wird euch besonders freuen, dass es keine Regeln gibt, die eure Methoden in irgendeiner Form einschränken. Also fühlt euch frei, auch mal unter die Gürtellinie zu schlagen, wie es die Menschen so gern formulieren.“

Eifriges Geschnatter, Fäuste, die zusammenschlugen. Kaia blieb unbeweglich und mit hämmerndem Herzen am selben Fleck stehen.

„Das erste Team, das alle vier Mitglieder verliert, scheidet aus“, erklärte Juliette weiter. „Um den heutigen Sieg einzufahren, muss ein Mitglied eures Teams den Boden als Letzte berühren. So einfach sind die Regeln.“

Ja. Richtig. Bei Juliette war doch nichts einfach.

Sie grinste und zeigte ihre strahlend weißen Zähne. „Ach ja, bevor ihr fragt: Es gibt kein Zeitlimit. Diese Disziplin dauert so lange wie nötig. Allerdings habt ihr nur fünf Minuten, um zu entscheiden, wer kämpft und wer am Boden bleibt – und darauf wartet, die dringend notwendige medizinische Hilfe zu leisten.“ Sie blickte auf die Stoppuhr, die um ihren Hals baumelte – gleich neben ihrem Skyhawk-Krieger-Medaillon. Ein Medaillon, das Tabitha ihr gegeben haben musste – Kaias Medaillon –, obwohl sie verschiedenen Clans angehörten. „Diese fünf Minuten beginnen … jetzt.“

Binnen Sekunden hatten sich die Teams in Grüppchen versammelt, und das Gemurmel von Frauenstimmen vermischte sich mit dem Tageslicht.

„Ich will“, sagte Kaia und gab damit den Anstoß. Sie hatte eine Menge zu beweisen.

Bianka küsste sie auf die Wange. „Ich liebe dich, Kye, das weißt du. Und du weißt auch, dass ich dich in Sachen Brachialgewalt und Rache für einsame Spitzenklasse halte. Aber zu fliegen, nach allem, was man dir beim letzten Mal angetan hat, ist nicht besonders klug. Ganz zu schweigen davon, dass du immer noch verletzt bist!“

„Danke“, erwiderte sie trocken. „Wirklich nett, dass du die Verletzung nicht erwähnt hast. Und nur fürs Protokoll, Himmlischer Hügel: Du wurdest auch gerade angeschossen.“

„He! Du hast versprochen, mich nie wieder mit diesem affigen Namen anzusprechen.“

„Als ob das ein Versprechen wäre, das ich tatsächlich halten kann.“

„Bee hat recht“, mischte sich Taliyah ein, ohne weiter auf ihren Konflikt einzugehen. „Es sind ohnehin schon alle auf unser Blut aus. Sie werden sich wieder gegen uns verschwören, und deshalb müssen unsere schnellsten Spielerinnen in die Luft.“

Kaia keuchte empört. „Ich weiß genau, dass du nicht das vorschlägst, was ich denke. Ich bin schnell. Wie der Blitz.“

„Ja, aber Gwen ist schneller. Ich übrigens auch. Und Neeka. Und Bianka. Zur Hölle noch mal, Juno und Tedra sind schneller als wir alle zusammen“, sagte Taliyah mit einer ausladenden Handbewegung auf die anderen Teammitglieder. „Deshalb habe ich sie schließlich angeheuert. Außerdem hat Juno bislang noch gar nicht gekämpft, und Tedra hat sich schon von den Pfeilen erholt.“

Alle außer Kaia nickten. Sie presste die Zunge gegen den Gaumen. Das wirkte beinahe … einstudiert. Eines war klar: Die anderen wollten nicht, dass sie kämpfte. Sie glaubten nicht, dass sie ihnen helfen könnte, sondern sie nur behindern würde.

Götter, wie weh das tat … wie erniedrigend das war … beide Emotionen zogen ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg. Am liebsten hätte sie sich auf Striders Schoß gekuschelt und geweint. Er würde seine starken Arme um sie legen und sie trösten. Und dann würde er ihr sagen, wie gut sie war.

Oder auch nicht.

Das letzte Mal, als sie zusammen gewesen waren, hatte er von ihr verlangt, dass sie mit seinen Freunden trainierte. Selbst er zweifelte an ihren Fähigkeiten.

Der Magen … verkrampft … schon wieder.

Sie hätte sich mit ihren Schwestern anlegen können. Hätte ihre Position ausspielen und auf ihrer Teilnahme bestehen können. Stattdessen nickte sie zustimmend. So wie sie es bei Strider gemacht hatte. Erstens hätten sie sonst nur mit ihr diskutiert, und sie hatte keine überzeugenden Argumente. Zweitens – wie die anderen so ruppig betont hatten – war sie nicht in Bestform. Und drittens hatte nicht ihr Stolz oberste Priorität, sondern der Sieg.

„In Ordnung“, sagte sie und zwang sich zu einem souveränen Ton. „Bianka, Juno und Tedra. Ihr macht mit. Wenn du wirklich in Ordnung bist, Bee. Du wurdest schwer getroffen.“

„Mir geht’s gut.“ Sie schenkte Kaia ein erleichtertes Lächeln. Sie wusste genau, was in Kaias Kopf vorging. „Ich hatte ein Reagenzglas mit Lysanders Blut dabei und habe es auf dem Weg hierher ausgetrunken.“

Clever. Und, zum Teufel, warum hatte sie nicht daran gedacht, Strider um ein Reagenzglas mit seinem Blut zu bitten? Auch wenn er ihr keins gegeben hätte. Nicht nach allem, was sie ihm angetan hatte. Außerdem hätte er sich dann um sie sorgen müssen. Hätte sich mehr Gedanken um ihre Gesundheit machen müssen, als wenn er an ihrer Seite blieb.

„Ihr könnt die vierte Teilnehmerin aussuchen“, meinte sie, wohl wissend, dass sie es ohnehin täten.

Die anderen akzeptierten den Entscheid ohne symbolische Diskussion – Überraschung, Überraschung – und beschlossen schnell, dass Gwen die Vierte im Bunde sein sollte. Sabins Blut hatte ihr nach dem Fangen beim Heilen geholfen, und sie war von den Pfeilen verschont geblieben. Gegen Neeka sprach ihre Gehörlosigkeit, und Taliyah war für Luftspiele nicht so gut ausgerüstet wie die jüngste Skyhawk.

Der schrille Ton einer Pfeife ertönte, und die Gruppen wurden still.

„Die Zeit ist um“, verkündete Juliette. „Alle auf die Plätze.“

Ein großes Herumlaufen begann. Während die ausgewählten Teammitglieder auf die Baumwipfel kletterten, blieb Kaia am Boden und beobachtete die Szene. Es fühlte sich an, als läge eine Eisenschelle um ihr Herz. Eine Schelle, die noch fester zugedrückt wurde, als sie Juliettes Blick auffing und die Harpyie sie mit der für sie typischen selbstgefälligen Genugtuung anlächelte.

Ich wusste, dass du es nicht bringst, schien dieses Lächeln zu sagen.

Kaia gab sich Mühe, nicht rot zu werden oder in Tränen auszubrechen.

„Ignorier die Hexe einfach“, riet Taliyah ihr und klopfte ihr auf die Schulter. „Du bist in jeder Hinsicht besser als die.“

„Danke, Tal.“

Neeka kramte die Verbandsachen aus ihren Rucksäcken – die hoffentlich ungebraucht bleiben würden – und gesellte sich zu ihnen. Keine Sekunde zu früh.

Juliette richtete eine Pistole gen Himmel, hielt inne, während alle voller Spannung warteten, und drückte schließlich den Abzug.

Bumm!

Hoch über ihnen setzten sich die Harpyien explosionsartig in Bewegung. Blätter raschelten, Körper knallten zusammen. Angestrengtes Stöhnen, schmerzerfülltes Ächzen und wütende Schreie erklangen, zeugten von Verletzung und Genugtuung. Kaia versuchte, ihre Schwestern im Blick zu behalten, doch die Mädels waren zu weit oben und bewegten sich zu schnell, verschwanden hinter Blättern und Wolken, sodass sie schon bald aufgab. Stattdessen sah sie auf den Boden und wartete darauf, dass die ersten Körper herunterfielen.

Nach wenigen Minuten spürte sie einen Luftzug und verkrampfte, als sie einen Aufprall hörte. Die Anspannung wuchs, als sie wenige Meter vor sich eine reglose … Songbird erblickte. Rings um sie bildete sich eine Blutlache, während eines ihrer Teammitglieder zu ihr eilte, um Hilfe zu leisten.

Den Göttern sei Dank. Kaias Magen entkrampfte sich, doch das Brennen blieb. Würde Gwen auch so enden? Und Bianka?

Sie ballte die Fäuste und zitterte am ganzen Körper, als sie den Blick von dem Grüppchen Songbirds losriss. Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung sah sie Blätter wackeln und dunkle Haare aufblitzen. Eine unschuldige Harpyie, die einfach einen Moment für sich brauchte? Eine hinterhältige Harpyie, die jemanden angreifen wollte, obwohl sie sich auf neutralem Boden befanden? Ein Jäger, den nichts anderes interessierte, als sein Ziel zu zerstören? Oder vielleicht Rhea höchstpersönlich?

Nein, zur Hölle. Soweit Kaia wusste, gehörten diese dunklen Haare zu Sabin. Oder sogar zu Lazarus. Wie er sie in der Bar beobachtet hatte, wie er sie verhöhnt hatte … Er war noch nicht fertig mit ihr. Da war sie sich absolut sicher.

Um kein Risiko einzugehen, beugte sie sich zu Taliyah hinüber und flüsterte: „Ich hab was gesehen. Bin gleich zurück.“

Ihre ältere Schwester ließ das Kampfgeschehen nicht aus den Augen. „Sei vorsichtig. Und ruf, wenn du mich brauchst.“

Sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie nur einen Witz machte. Hätte sie wirklich geglaubt, es gäbe irgendeine Bedrohung, hätte Taliyah die Kaltherzige darauf bestanden, Kaia zu begleiten. Wieder spürte sie einen stechenden Schmerz der Kränkung in ihrer Brust, schüttelte ihn jedoch ab.

Sie verschmolz mit dem dichten grünen Laub. Die Bäume und Pflanzen schienen sich nun regelrecht von ihr abzuwenden, als hätte sich die Erfahrung des Baumes herumgesprochen und als fürchteten sich nun alle vor ihr. Schade, dass man dasselbe nicht von ihren Harpyiengefährtinnen sagen konnte.

Sie hielt in jeder Hand einen Dolch, während sie in geduckter Haltung um die Lichtung herumschlich. Sie war noch etwas wacklig auf den Beinen, weshalb ihre Schritte schlurften. Sie war lauter als beabsichtigt, aber es ging nicht anders. Wenn der Eindringling ihr Trampeln nicht bemerkte, so hörte er mit Sicherheit ihr Herz. Es schlug wie ein Presslufthammer auf höchster Stufe und hämmerte hart gegen ihr Rippen.

Schließlich entdeckte sie Fußspuren, die nicht von einer Harpyie stammten. Die hier waren groß, breit und tief. Wer auch immer sie hinterlassen hatte, brachte mindestens einhundert Kilo feste Muskelmasse auf die Waage.

Das schränkte die Möglichkeiten schon ein wenig ein. Sie hatte es entweder mit einem Jäger, mit Sabin oder mit Lazarus zu tun. Ihre Gedanken rasten, während sie einen Verdächtigen nach dem anderen ausschloss. Wenn es ein Jäger wäre, gäbe es noch weitere Fußspuren. Schließlich waren die Jäger wie Kakerlaken – wo sich eine versteckte, fand man auch noch tausend andere. Wenn es Sabin wäre, würde sie auch Strider wittern. Die beiden waren nie weit voneinander entfernt.

Blieb Lazarus der Tampon.

Ja, ja. Vielleicht würden sie sich endlich das längst überfällige Gefecht auf Leben und Tod liefern. Und das ausgerechnet jetzt, wo sie nicht bei vollen Kräften war. Na super!

Etwas Schweres krachte auf ihren Rücken und warf sie mit dem Gesicht voran auf den Boden. Dasselbe Gewicht drückte sich so gewaltsam gegen sie, dass ihre Flügel in ihre Schlitze gequetscht wurden, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte und ihre Kräfte noch weiter schwanden. Die Luft rauschte so schnell aus ihrem plötzlich dreckverschmierten Mund, dass ihr schwindelig wurde.

Sie war so fest entschlossen gewesen, sich an ihr Opfer anzuschleichen, dass sie nicht sorgfältig genug auf ihre Rückendeckung geachtet hatte. So ein Anfängerfehler! Verdammt noch mal, was war nur mit ihr los?

Das hier war noch ein Beweis für ihre Schwäche. Kein Wunder, dass ihre Schwestern sie nicht in der Luft hatten sehen wollen.

Aber trotzdem, nichts hielte sie davon ab, zu kämpfen. Sie fuhr Krallen und Fangzähne aus, doch als sie gerade versuchte, sich umzudrehen und ein Knie zwischen sich und den Angreifer zu bringen, flüsterte eine Männerstimme: „Nicht. Ich habe gewonnen und fertig.“ Befriedigung und Freude lagen in der vertrauten – geliebten – Stimme.

Strider. Im Gegensatz zu Juliettes Süffisanz störte seine sie nicht im Geringsten. Sie genoss sie sogar. Er war hier. Er war bei ihr, quicklebendig und wohlauf. Natürlich war er in Gefahr, doch im Augenblick war ihr das egal. Er war hier!

„Vertragen wir uns wieder?“, fragte er in demselben seidigen Flüsterton. Sein warmer Atem liebkoste ihr Ohr, und die pure Erleichterung durchflutete sie. Bis er hinzufügte: „Warte. Nicht antworten. Lazarus, dieser Dreckskerl, ist direkt vor uns und wartet auf dich. Er hat dir eine Falle gestellt.“

Als sie wieder bei Atem war, keuchte sie: „Was für eine Falle?“

„Eine mit Blumen, Kerzen und einem juwelenbesetzten Kelch, der vermutlich mit seinem kranken Blut gefüllt ist.“

Sie riss die Augen auf. Lazarus wollte versuchen … sie zu verführen? Warum? „Ich weiß zwar nicht, ob sein Blut krank ist, aber vergiftet ist es wahrscheinlich schon.“ Nicht wahr? Er wollte sie reinlegen. Ihr vormachen, dass er sie mochte, und sie dann umbringen.

„Wenn wir Glück haben, stirbt er vor Enttäuschung, wenn du nicht auftauchst.“

„Es muss heißen: wenn er Glück hat.“

„Guter Einwand. Ich muss mich nur noch entscheiden, ob ich ihn jetzt umbringe oder später.“

„Option Nummer zwei?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Den gleichen Gedanken hatte ich auch. Jetzt habe ich nämlich etwas Besseres zu tun.“ Strider wich ein Stück zurück, und sie konnte sich endlich auf den Rücken drehen. Er saß mit gespreizten Beinen auf ihrer Hüfte und sah sie mit glühendem Blick an. Seine gebräunte Haut war schmutzig, und in seinen Haaren klebte getrocknetes Blut. „Aber keine Sorge. Er bekommt noch, was er verdient hat.“

„Bist du verletzt?“ Wenn ihn irgendwer verletzt hatte, würde sie ihre Harpyie von der Leine lassen. Sie könnte gar nicht anders. Sie würde …

„Mir geht es gut.“ Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter und, Götter, er war so schön. „Erinnerst du dich an die Jäger, die dich zuletzt angegriffen haben? Tja, sie haben danach noch richtig gelitten. War mir ein Vergnügen.“

Die Erleichterung wurde noch intensiver, mischte sich mit einem Gefühl von Stolz. Das war ihr Mann, ihr Krieger. Niemand war stärker. Niemand war so rachedurstig oder so tüchtig. „Danke. Aber jetzt musst du verschwinden“, sagte sie und gab ihm einen sanften Stoß. „Rhea könnte in der Nähe sein, und du bist …“

„Nein.“ Er bewegte sich keinen Millimeter. „Sabin und die Engel halten nach ihr Ausschau. Bislang haben sie noch keinen Hinweis auf ihre Anwesenheit entdeckt.“

„Das bedeutet nicht …“

„Ruhe, Kaia“, unterbrach er sie zum zweiten Mal. „Du steckst in Schwierigkeiten und manövrierst dich nur noch tiefer hinein.“ Er stand auf, bückte sich und fasste sie am Handgelenk. Dann zog er sie ebenfalls hoch und führte sie weg von Lazarus.

Blätter und Zweige schlugen ihr entgegen, und Insekten summten, machten sogar Anstalten, sie zu stechen.

„Ich darf nicht zu weit weggehen“, sagte sie keuchend vor Anstrengung. Verflucht. Ihre Seite und ihr Bein pochten, da die Wunden bei ihrem Sturz wieder aufgegangen waren. Jetzt lief das Blut heraus und sammelte sich in ihren Stiefeln.

„Du gehst so weit, wie ich es dir sage“, erwiderte er harsch, nicht ahnend, welche Schmerzen sie hatte.

„Strider, hör mir zu. Meine Schwestern kämpfen gerade. Ich muss …“

„Es ist mir egal, was sie machen. Du und ich werden jetzt reden. Und jetzt sei still, während ich uns einen geeigneten Platz suche. Sonst muss ich dich mundtot machen. Und, Kaia? Ich kann es kaum erwarten, dich mundtot zu machen.“

Sie presste die Lippen aufeinander und schwieg, während er sie immer tiefer in den Wald führte.