15. KAPITEL

Kaia hatte gewusst, dass Strider eine brutale Ader hatte, und sie hatte geglaubt, genau das an ihm zu mögen. Jetzt war sie sich ziemlich sicher, dass diese Ader ihn das Leben kosten würde. Weil sie ihn verdammt noch mal umbringen würde! Und zwar qualvoll. Nachdem sie ihn ausgesaugt hatte, natürlich.

Seine „großen Pläne“ für sie? Dass sie noch mehr von seinem Blut trank. Jedenfalls nahm sie das an. Seit sie aus ihrem Nickerchen erwacht war, war ein ganzer Tag vergangen; sie hatte nicht mehr tun dürfen, als von ihm zu trinken.

Natürlich musste sie dafür sorgen, dass er seine Entscheidung bereute. Sie musste ihm zeigen, welche Konsequenzen es hatte, wenn er absichtlich die falsche Vorstellung in ihr weckte, dass sie sich küssen und berühren und, na ja, sich süß und schmutzig lieben würden, bis ihre Herzen vor Anstrengung fast explodierten.

Sie brauchte nicht noch mehr Blut. Ihre Knochen waren schon längst wieder zusammengewachsen, und auch ihre Haut war verheilt. Sie war komplett wiederhergestellt und absolut in der Lage für ein heißes Liebesspiel. Dennoch schnitt er sich jede Stunde ein Handgelenk auf und hielt ihr die Wunde über den Mund. Selbst jetzt saugte sie an ihm und schluckte sein köstliches, warmes Blut herunter, das nun eine leichte Zimtnote hatte.

Wie jedes Mal zuvor breitete sich auch jetzt die Wärme in ihr aus, kitzelte ihre Nervenenden und erinnerte sie daran, was sie nicht taten.

„Nur noch ein bisschen“, sagte er heiser. Sein Unterarm bog sich unter ihrem Griff.

Sie schloss die Augen, während sie seinen himmlischen Geschmack genoss. Ob sie je genug davon bekäme? Nein, niemals, entschied sie im nächsten Moment. Er hatte sie nach allen Regeln der Kunst süchtig gemacht. Nicht nur nach seinen Küssen – das war ihr längst klar geworden – und nicht nur nach seinem Blut, sondern auch nach seiner Anwesenheit. Nach seinem gefährlichen Grinsen und seinem Sinn für Humor.

Was würde sie tun, wenn er sie wie geplant nach den Spielen verließe?

Normalerweise hätte sie sich gesagt, sie würde schon einen Weg finden, ihn zum Bleiben zu bewegen. Sie hätte sich für ihre Kraft und Gerissenheit auf die Schulter geklopft und sich in der Gewissheit gebadet, dass sie alles erreichte, was sie wollte. Doch nachdem sie soeben die Prügel ihres Lebens bezogen hatte, war sie nicht mehr so optimistisch. Außerdem musste sie sich jeglichen verbliebenen Optimismus für die bevorstehenden Wettkämpfe aufheben.

Und deshalb – bei den Göttern – würde sie tausend verschiedene Erinnerungen an Strider horten. Nur für alle Fälle. Die würden ihr während langer, kalter, einsamer Winterabende Gesellschaft leisten und in heißen, schwülen Sommernächten neben ihr schlafen. Ganz gleich, wo er wäre oder mit wem, sie würde nie mehr ohne ihn sein.

Natürlich musste sie sich solche Erinnerungen erst einmal schaffen, und das hieß: Sie musste ihn verführen. Und zwar schnell. Beiseite mit den Racheplänen. Selbst jetzt summte ihr Körper förmlich vor Verlangen, ihn zu berühren. Wenn er sie doch nur aus seiner Halsschlagader trinken ließe …

Kaia hatte ihn mehrmals gefragt, und er hatte mehrmals abgelehnt. Vertraute er ihr nicht? Oder vertraute er sich selbst nicht? Sie malte sich aus, wie sie ihn auf die Matratze drückte und sich auf ihm ausbreitete. Ihre Brüste würden sich an seinen Brustkorb schmiegen, und das Zentrum ihrer Lust käme ganz dicht an seins.

Sie würde sich an ihm reiben, während sie von ihm tränke. Er würde stöhnen, ihr die Hände auf den Po legen und sich fester und schneller unter ihr bewegen. Schon bald würde ihnen beiden das nicht mehr reichen, und er würde an ihrer Kleidung zerren. Und sie an seiner. Sie wären nackt und …

Noch ehe sie einen weiteren Schluck von seinem Blut nehmen konnte, riss er die Hand weg und unterbrach den Kontakt. „Schluss jetzt“, sagte er keuchend. „Du hast genug Heilstoffe bekommen.“

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich auf dem Bett gewunden und schwer geatmet hatte. Sie hatte sich ihm zugewandt, voller Verlangen die Beine gespreizt, und – Götter – sie war schon ganz feucht.

Er stand auf und ging ein Stück weg. Blieb stehen und drehte sich um. Dann sah er sie an und lehnte sich gegen den Fernsehschrank. Zitternd und innerlich kochend setzte sie sich auf und genoss den ersten vollen Blick, den sie auf ihn hatte, seit sie vor wenigen Minuten nach einer ausgiebigen Dusche und in den sauberen Klamotten, die Bianka ihr gebracht hatte, aus dem Badezimmer gekommen war. Da hatte er bereits auf der Bettkante gesessen und sie bloß zu sich gewinkt.

Sie hatte gedacht … gehofft … aber nein. Als sie vor ihm gestanden hatte, hatte er sie nicht etwa auf die Matratze geworfen, um Kaialand zu erobern, sondern sie zu sich hinuntergezogen und mal wieder von sich trinken lassen.

Während sie ihn musterte, stockte ihr der Atem. Die blonden Haare fielen ihm wirr um sein böses Engelsgesicht. Seine Lippen waren rot – als hätte er darauf herumgekaut. Viel herumgekaut. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich liebe William“.

„William hat es mir geschenkt“, erklärte er achselzuckend, als er ihren Blick bemerkte.

Beim bloßen Klang von Williams Namen musste sie innerlich kichern. Der dunkelhaarige Charmeur war in sie verknallt, und sie konnte es kaum erwarten, dass er endlich begriff, warum sie ihn immer abgewiesen hatte. Wahrscheinlich würde sie so heftig lachen, dass sie sich in die Hose machte!

Wie auch immer – das T-Shirt war ihr schnurz. Was sie interessierte, waren Striders Brustmuskeln, die sich darunter abzeichneten. Sie waren fest und wohldefiniert. Seine Brustwarzen waren ein wenig aufgerichtet – und definitiv zum Lecken geeignet. Am Saum des Shirts konnte sie die Ausbeulungen erkennen, die von den Waffen verursacht wurden, welche er sich in den Bund seiner Jeans gesteckt hatte. Derselbe Jeansstoff bedeckte auch die Beule einer anderen Sache, die sie nur zu gern gesehen hätte, aber nun ja.

Sie spürte nur ein leises Stechen in der Seite, als sie aufstand. „Du musst jetzt unbedingt ganz ehrlich sein“, sagte sie.

Ein wachsamer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. „Okay.“

„Wie gut sehe ich aus?“

Er ließ den Blick von oben nach unten wandern. Sie trug ein Neckholderkleid aus roter Spitze mit einem V-Ausschnitt, der ihr bis zum Bauchnabel reichte. Der Saum endete kurz unter ihrem Po.

Striders Pupillen weiteten sich, was fast immer der Auftakt zu einer Berührung war. „Du muss dir noch eine Hose anziehen.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Und er bewegte sich nicht auf sie zu.

Das war eine der Situationen, in denen „fast“ echt zum Kotzen war. „Ach was. Als ob ich so rausgehen würde. Meine Hose liegt … gleich …“ Sie sah sich um. „Hier.“ Sie ging zum Nachtschrank und hob besagte „Hose“ hoch. Einen Fetzen aus elastischer roter Spitze, der ihrem Kleid an Sexyness in nichts nachstand.

Geschickt schlüpfte sie schnell in den Stoff und wandte sich wieder ihrem Gemahl zu.

Dem stand der Mund offen. „Wir haben gerade zusammen auf dem Bett gesessen, und du hast von mir getrunken – deine Lippen auf meiner Haut –, ohne dabei ein Höschen zu tragen?“

„Willst du damit sagen, du hast gar nicht nachgesehen?“, erwiderte sie und zog eine Schnute. Kein Wunder, dass er so problemlos aufgestanden war.

„Nein. Habe ich nicht.“

„Warum nicht?“

„Verdammt, Kaia. Du kannst nicht einfach ohne Hose herumlaufen.“

„Weshalb ich mir ja auch gerade eine angezogen habe. Hast du mir nicht zugesehen?“

Er kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. „Du hast Hose gesagt. Dass du dir eine Hose angezogen hast.“

„Genau. Eine Unterhose.“

„Aber …“ Er knackte mit dem Kiefer und streckte eine Hand in ihre Richtung aus. „Wo willst du in dem Teil denn Waffen verstecken?“

„Strider, bitte. Du könntest mir und meinen Mädels ruhig ein wenig mehr zutrauen.“ Sie zog den tiefen V-Ausschnitt auseinander und entblößte damit ihre nackten Brüste, deren Spitzen hart und gerötet waren. Daneben hingen direkt unter ihren Achselhöhlen kleine, schmale Messer. „Wir machen das schon seit unserer Pubertät.“

„Gütige Götter.“ Ein gurgelnder Laut drang aus seiner Kehle, als sie sich das Kleid wieder richtete und ein Grinsen unterdrückte. Je mehr er ihr widerstand, desto häufiger würde er Zeuge dieser kleinen Peepshows werden.

„Komm“, forderte er sie auf.

Sie ging zu ihm hinüber und verschränkte die Finger mit seinen. Herrlich, dieser Körperkontakt. „Willst du mit mir rummachen?“

„Gütige Götter“, wiederholte er. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. „Wir haben noch Pläne. Erinnerst du dich? Große Pläne. Wir müssen wohin.“

Blut trinken war also nicht der einzige Punkt auf seiner Agenda gewesen. Aber Sex stand offensichtlich auch nicht darauf. „Wohin gehen wir denn?“, fragte sie und gab sich alle Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Das wirst du schon sehen.“ Nach einem kurzen Rundumblick zog er sie mit sich in die kühle Nachtluft. Als Erstes bemerkte sie, dass sie immer noch in Wisconsin waren. Sie hatte bislang weder nachgesehen noch gefragt. Der Mond hatte sich hinter Wolken versteckt und warf pink-violette Schatten in alle Richtungen. Schnee bedeckte den Boden, Bäume ragten hoch in den Himmel hinauf …

„Frierst du?“, fragte Strider.

„Ach was. Das ist doch gar nichts.“ Außerdem hüllte sie die Wärme ein, die von seinem Körper ausging. „Irgendein Hinweis auf Harpyien- oder Jägeraktivitäten, seit ich aufgewacht bin?“ Oder während der zwei Tage, in denen sie ohnmächtig gewesen war?

„Nein. Wir haben dich ziemlich gut versteckt.“

Dennoch blieb sie wachsam. Sie liefen mehrere Blocks weit, ehe Strider vor einem Pick-up stehen blieb und sie losließ. Er brauchte nur drei Minuten und achtzehn Sekunden, um den Wagen aufzubrechen und den Motor zu starten. Sie verzichtete drauf zu erwähnen, dass sie es in zwei Minuten geschafft hätte. Womöglich hätte sein Dämon das als Herausforderung aufgefasst.

Deshalb sagte sie nur: „Gut gemacht“, als er den Truck anwarf und die Straße entlangsauste. „Und jetzt sag mir, wohin wir fahren. Ich stehe nämlich nicht auf Überraschungen. Außer, es geht dabei um einen Mann, der mich nackt in meinem Bett erwartet“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, um ihn zu ärgern.

Er umklammerte das Lenkrad fester, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Ich habe mit deiner Schwester gesprochen. Mit Taliyah. Wir haben zwei Tage, um dich für den nächsten Wettkampf fit zu machen.“

Moment mal. „Du hast vor, mit mir zu trainieren?“ Hielt er sie für eine so schreckliche Kämpferin, dass er meinte, sie bräuchte Nachhilfe? Na ja, warum auch nicht? dachte sie und lachte ein verbittertes, stummes Lachen. Sie hatte ihn mit ihrer Niederlage enttäuscht und konnte dafür nur sich selbst die Schuld geben. Doch diese Erkenntnis half auch nicht. Entsetzen und Kränkung jagten wie vergiftete Pfeile durch ihren Körper. Das war nicht gerade die Art von Erinnerung, die sie horten wollte.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete er, und sie entspannte sich ein wenig. Dann fügte er hinzu: „Ich werde dich nicht trainieren.“

Am liebsten hätte sie lauthals drauflosgeschimpft. Hatte sie nicht geschworen, den nächsten Wettkampf zu gewinnen? Oh doch, das hatte sie. Auch wenn ihr Verstand vor lauter Schmerzen noch vernebelt gewesen war, daran erinnerte sie sich genau.

Doch Kaia biss sich auf die Zunge. Der Sieg war Strider genauso wichtig wie ihr. Er tat das nicht, weil er grausam sein wollte. Aber verdammt noch mal, obwohl sie wusste, warum er das hier in Bewegung setzte, eskalierten die negativen Gefühle in ihr.

Ich bin gut genug, so wie ich bin. Eine klagende Bitte in ihrem Kopf. „Warum wirst du mich nicht trainieren?“, fragte sie. Götter, gehörte diese weinerliche Stimme wirklich ihr?

Es folgte eine schwere Pause, bevor er antwortete: „Wegen meines Dämons.“

Was bedeutete das? Log er? Nein, dachte sie. Er log nicht. Aber sie bezweifelte, dass sein Dämon der einzige Grund war. „Weil du befürchtest, das Training mit mir könnte ihn herausfordern?“

„Ja. Das wäre nicht das erste Mal.“

Er hatte ihr einmal gesagt, dass mit ihr alles eine Herausforderung war und das einer der Gründe sei, weshalb sie nicht zusammen sein könnten. Sie hatte gedacht, er würde schon bald die Vorzüge ihrer Herausforderungen erkennen. Immerhin bereitete ihm jeder Sieg Vergnügen, und dank ihr gewann er mehrmals täglich …

Doch bisher war diese Denkweise immer nach hinten losgegangen. Er verabscheute den Schmerz, der mit einer Niederlage einherging, so abgrundtief, dass er jeden Herausforderer als Bedrohung betrachtete. Je mehr sie ihn bedrängte, desto mehr zog er sich vor ihr zurück.

Das muss sich ändern. Okay. Dann werde ich ihm eben geben, was er will, beschloss sie. Frieden. Ruhigen Wellengang. Völlige Ruhe. Sie wäre so umgänglich, dass es ihm mehr Spaß machen würde, dem Gras beim Wachsen zuzusehen. Vielleicht würde er dann mit ihr ins Bett gehen.

Aber warum konnte er sie nicht als die Frau mögen, die sie war?

Warum konnte das niemand?

„Na schön“, erwiderte sie seufzend und hasste sich dafür, dass sie sich im Selbstmitleid suhlte. Er war bei ihr. Er war nicht abgehauen. Hatte nicht nach der Rute gesucht, während sie zu schwach gewesen war, um ihn davon abzuhalten. „Ist schon in Ordnung. Ich werde trainieren, mit wem du willst.“

Der Pick-up fuhr die gewundenen Straßen der Stadt entlang. Alle paar Sekunden huschten Lichter über die Windschutzscheibe. Kaia stellte die gestiefelten Füße aufs Armaturenbrett und lehnte sich so weit zurück, wie es der Sitz zuließ. Das Kleid rutschte ein Stück hoch und enthüllte den Saum ihres Höschens.

Strider hielt den Blick stur auf die Straße gerichtet. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mit meinem Plan einverstanden bist.“

Klang er … enttäuscht? Nein. Bestimmt war das reines Wunschdenken ihrerseits. „Deine Zufriedenheit liegt mir eben am Herzen.“

„Ich …“ Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie drängte ihn nicht zum Weitersprechen – das diktierten ihr die neuen Friedenspläne –, und er tat es auch nicht von sich aus. Mehrere Minuten verstrichen in absoluter Stille. Dann: „Warum habe ich keinen Spitznamen?“

Darüber hatte er nicht reden wollen, aber egal. Ruhiger Wellengang, rief sie sich ins Gedächtnis. „Na ja, weil du dir noch keinen verdient hast.“

„Und was muss ich tun, um mir einen zu verdienen?“

„Keine Ahnung. Das ist bei jedem anders. Wir wissen es erst, wenn wir es sehen.“

Noch eine Schweigeperiode. Diese war so angespannt und schwer, dass sie sich weder mit einem Schwert noch mit einer Kettensäge hätte aufbrechen lassen. Kaia hatte keinen Schimmer, was in seinem Kopf vor sich ging.

„Ich dachte, es wäre dir egal, wie wir dich nennen“, sagte sie, um die Eintönigkeit aufzulockern.

„Ist es auch“, knurrte er. „Ich war nur neugierig.“

„Ach so.“

„Schon wieder dieses gefällige Verhalten. Bist du am Ende schwerer verletzt, als ich gemerkt habe?“

Um den Kommentar nicht an sich heranzulassen, beschäftigte sie sich damit, an ihrem Kleid herumzuzupfen. „Ach, weißt du, ich bin nicht immer ein Quälgeist.“

„Hör auf, deine Klamotten durcheinanderzubringen“, sagte er schroff.

Sie erstarrte, wagte nicht einmal mehr zu atmen. Er hatte noch immer nicht zu ihr herübergesehen, und dennoch wusste er, was sie tat? So bewusst war er sich ihrer?

„Geht klar.“ Der ruhige Wellengang machte sich bereits bezahlt. Sie musste ein Grinsen unterdrücken, während sie sich tiefer in den Sitz kuschelte und die Beine ausstreckte.

Ungefähr eine Stunde Fahrt von der Zivilisation entfernt fuhren sie vom Highway hinunter und auf den Parkplatz einer zerfallenen Baracke, an der ein blinkendes Neonschild mit dem Schriftzug „Crazy Abel’s“ hing. Es standen noch eine Handvoll andere Autos davor, und zwei große, bullige Kerle stolperten aus der Eingangstür ins Freie.

„Eine Bar?“, fragte sie und versuchte, nicht zu schmollen. „Eine Menschenbar?“

„Du darfst noch ein bisschen spielen, bevor es losgeht.“

Wirklich? Vergessen war jegliches Schmollen, und Aufregung machte sich breit. „Das hättest du mir vorher sagen sollen. Dann hätte ich mich in mein Schlampenoutfit geworfen.“

Aus zusammengekniffenen Augen musterte er sie von Kopf bis Fuß, wobei sein Blick an ihrem Dekolleté hängen blieb. Er stellte den Wagen ab, wobei er um ein Haar ein anderes Auto gerammt hätte, und sie sprang heraus. Noch ehe er die Autotür geöffnet hatte, hatte sie bereits den halben Weg zum Eingang zurückgelegt. Sie ging an den immer noch schwankenden Männern vorbei und verzog bei dem Geruch von billigem Bier und Zigaretten angewidert das Gesicht. Sie pfiffen ihr nach, änderten die Richtung und folgten ihr.

„Wie viel?“, fragte einer von ihnen.

Oh nein, das hatte er nicht getan. Die Hände in die Hüfte gestemmt, wirbelte sie herum und bleckte die Zähne. „Was hast du gesagt?“

„Der Preis spielt keine Rolle. Wir bezahlen alles, ich schwöre“, sagte der andere. „Hinterher.“ Beide lachten. Dann klopfte der Erste dem anderen wohlwollend auf den Rücken, als hätte er soeben das Geschäft seines Lebens ausgehandelt.

Noch ehe sie etwas erwidern konnte, tauchte Strider auf und schlug den Männer synchron auf die Hinterköpfe. Sie flogen nach vorn, doch er packte sie an den Haaren, bevor sie auf dem Boden aufschlugen, rammte ihnen ein Knie in den Rücken und zwang sie, vor Kaia niederzuknien.

„Entschuldigt euch“, befahl er, und seine Stimme klang so düster, dass sie beinahe das Feuer und den Schwefel riechen konnte. „Sofort.“

Kaias Herz flatterte. Die Männer gehorchten. Sie brabbelten und wimmerten. Strider warf einen von ihnen hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft weg. Der Mann sauste durch die Luft und krachte in ein Auto. Sogleich ging die Alarmanlage los. Sein Kumpel folgte ihm nur wenige Augenblicke später.

„Danke“, sagte sie, während sie mit aller Kraft den Drang niederkämpfte, vor seinen Füßen zu einer schmachtenden Pfütze zu schmelzen.

„War mir ein Vergnügen.“

Seite an Seite betraten sie die Bar.

Die Frau würde ihn jeden Moment mit ihrem mordsmäßigen Körper umbringen. Ihre herrlichen Kurven waren in einen breiten Stoffstreifen gehüllt, der in einigen Ländern nicht einmal als Badeanzug durchgegangen wäre. Leuchtende Haut, aber ohne bunten Schimmer. Anscheinend hatte sie am ganzen Körper Make-up aufgetragen. Nicht, dass er sich darüber beschwerte. Alles, was andere Männer davon abhielt, sie zu begehren, hatte seine volle Zustimmung.

Wem wollte er eigentlich etwas vormachen? Dass andere Männer sie nicht begehrten? Das würde nie geschehen. Was sie auch mit ihrer Haut machte, was sie auch anzöge – andere Männer würden sie immer begehren. Bestes Beispiel: die zwei Scheißkerle vor der Tür. Diese Erkenntnis machte ihn wütend – und stolz.

Sie betrachtete Strider als ihren Gemahl. Und niemanden sonst.

Ihr zu widerstehen wurde härter. Und härter. Buchstäblich.

„He, wer ist … Anya? Gideon? Amun? Und ungefähr Tausend andere.“ Kaia musste schreien, damit man sie bei der plärrenden Musik verstand. Sie sah Strider aus großen, silbergoldenen Augen an, in denen ein Gefühl zu sehen war, das er nicht näher benennen konnte. „Wie hast du die denn alle hierher geschafft?“

Ein Mann konnte sich in diesen unermesslichen Tiefen verlieren. „Ich habe Lucien freundlich darum gebeten, und der hat sie ruck, zuck! hergebeamt.“ In Wahrheit hatte er es vehement eingefordert, und Lucien hatte sich absichtlich Zeit gelassen. Aber wen interessierten schon die Einzelheiten? „Allerdings bleiben sie nur bis morgen früh.“

„Spitze! Eine Nacht lang liebe ich sie immer, aber nach der zweiten möchte ich sie am liebsten umbringen.“

„Erwähne nur nicht“, er senkte die Stimme, „den ersten Preis. Okay?“ Sonst ginge es nur noch darum. Man würde ihm vorwerfen, was er mit dem Tarnumhang gemacht hatte. Seine Motive würden infrage gestellt. Ebenso sein Verstand. Sie würden bleiben wollen, um nach der Zweiadrigen Rute zu suchen und sie zu stehlen.

Er und Sabin hatten bereits miteinander gesprochen. Die anderen mussten die zwei Artefakte bewachen, die bereits ihr Eigentum waren. Sie mussten die Burg in Buda beschützen. Sie mussten gegen jedweden Jägerangriff gewappnet sein. Wenn es ihnen beiden alleine jedoch nicht gelingen sollte, vor Beginn des letzten Wettkampfs die Rute zu stehlen, würden sie Verstärkung holen.

Während Kaia in dieser Nacht mit dem Training beschäftigt wäre, würden sie die Eagleshields zur Strecke bringen. Im Grunde war Sabin momentan sogar schon dabei. Er schaute aus dem Himmel herab, um das scheinbar Unfindbare zu finden. Sein Boss müsste eigentlich jeden Moment hier sein, um ihn abzuholen.

„Ich werde überhaupt nichts erwähnen, das schwöre ich. Und vielen Dank!“ Kaias rot angemalte Lippen teilten sich bei einem breiten Grinsen, und sie klatschte in die Hände. Dann hüpfte sie hoch und drückte ihm einen brennenden Kuss auf die Wange, ehe sie davonsauste. Ihre Lippen verbrannten seine Haut, brannten sich womöglich in seine Zellen.

In den vergangenen Tagen hatte er nur an sie denken können. Sie war so blass gewesen, so still, so schwach, und er hatte ihr so gern helfen wollen und dennoch nicht mehr tun können, als ihr sein Blut zu geben … und sich nach ihr zu sehnen. Und wie er sich nach ihr gesehnt hatte. Und er tat es noch.

Aber ihm war auch eins klar geworden: Mit ihr zu schlafen würde bis nach dem Turnier warten müssen. Im Augenblick musste er stark bleiben. Er konnte es nicht riskieren, außer Gefecht gesetzt zu werden, indem er eine Herausforderung verlor. Egal was für eine Herausforderung. Auch keine im Schlafzimmer.

Sobald ihr Wohlergehen nicht mehr von ihm abhing, würde nichts mehr seine Hände von diesem Mikrohöschen fernhalten. Er musste sie haben. Musste sie schmecken, sie seinen Namen schreien hören. Hölle, er wollte diese Frau verschlingen, ungeachtet der Konsequenzen. Und nicht nur ein Mal – wie er vor Kurzem noch gedacht hatte –, sondern immer und immer wieder.

Er beobachtete, wie sie sich in Amuns Arme warf. Der Krieger sah müde aus und hatte Blutergüsse unter den Augen, doch er schien sich ehrlich zu freuen, Kaia zu sehen, und wirbelte sie herum. Gideon, der Hüter von Lügen, fing sie auf und umarmte sie fest. Sie warf den Kopf zurück und lachte, ehe sie durch seine blauen Haare wuschelte und an seinem Augenbrauenring zupfte. Wie unbeschwert sie war, wie ungehemmt.

Meins, dachte er missmutig und zwang sich, im Stillen hinzuzufügen: jedenfalls für die nächste Zeit.

Niederlage regte sich in seinem Kopf.

Oh nein, wag es nicht. Bleib bloß ruhig, du kleiner Scheißer. Du bist nicht zu dieser Party eingeladen.

In seinen Ohren ertönte ein Grollen, das er sogleich als Kriegsgeheul erkannte.

Du willst doch die Zweiadrige Rute holen, nicht wahr? Oder möchtest du lieber in die Büchse der Pandora zurück? Wenn ich versage, ist Kaia nämlich unsere einzige Hoffnung. Und wenn sie verliert, werden wir das Artefakt verlieren. Wenn wir das Artefakt verlieren, könnten die Jäger es benutzen, um sich die Büchse zu schnappen und dich wieder einzusperren. Und zwar bis in alle Ewigkeit.

Stille.

Ja. Das hatte er sich gedacht. Es gab nichts, was Niederlage mehr verachtete als seine Erinnerungen an die Büchse, an die Dunkelheit und die Isolation. Was er nicht erwähnte, war, dass Kaia ihn all ihren Hass spüren ließe, wenn er die Rute stahl. Aber irgendwann würde sie ihm vergeben, so wie Juliette ihrem Mann seine düsteren Taten vergeben hatte. Oder nicht?

„Kye“, hörte er Gideon sagen. „Ich stelle dich nur ungern meinem grässlichen Ehemann Scar vor.“ Er deutete auf die dunkelhaarige Sexbombe an seiner Seite. Da Gideon nicht die Wahrheit sprechen konnte, ohne unsägliche Schmerzen zu erleiden, hatte er gelogen. Mit jedem Wort.

„Eigentlich heiße ich Scarlet“, erwiderte seine Frau. Sie war die Hüterin von Albträume, und wenn sie in ihren Träumen jemanden tötete, starb er auch in Wirklichkeit. Sie war groß, schlank und höllisch gemein. „Und nur falls du dich das fragen solltest: Ich habe keinen Penis.“

Warum konnte ich diesen Dämon nicht bekommen? Albträume. Das wäre cool gewesen.

Niederlage brummte missbilligend.

Du bist wirklich eine Nervensäge.

„Ich bin Kaia. Oder auch ‚verdammt Kaia‘, wie Strider mich gern nennt.“

„Stimmt gar nicht“, knurrte Strider. Er nannte sie Baby Doll. Und das war sie auch. Wo zum Teufel blieb überhaupt Sabin? Er musste so schnell wie möglich hier raus.

Kaia ignorierte ihn. „Warst du nicht vor nicht allzu langer Zeit im Kerker der Herren eingesperrt?“, fragte sie Scarlet. „Zu gefährlich, um frei herumzulaufen, nicht vertrauenswürdig, extrem gewaltbereit und so weiter und so fort.“

„Ja. Zum Glück ist es genau das, was den hier so in den Wahnsinn treibt“, antwortete sie und wies mit dem Kinn auf Gideon.

Gideon wackelte mit den dunklen Augenbrauen, woraufhin Kaia ein warmes, heiseres Kichern ausstieß. Und Hölle noch eins – Strider spürte, wie sein Körper darauf reagierte. Einen viel schlechteren Zeitpunkt gab es wohl kaum, um einen Ständer zu präsentieren.

Kaia ist in guten Händen, dachte er. Vor allem, weil Gideons Hände brandneu sind. Die alten waren ihm von den Jägern abgehackt worden, sodass ihm zwei neue hatten wachsen müssen. Zu jenem Zeitpunkt war Strider angesichts der Schmerzen, die sein Freund ertragen musste, ausgeflippt. Mittlerweile konnte er darüber Witze machen. Jedenfalls brauchte er sich keine Sorgen um Kaia zu machen – oder sich weiterhin nach ihr zu verzehren, denn das täte er, wenn er sie noch länger beobachtete –, und deshalb ging er zur Bar. Und bemerkte die Blondine mit den pinkfarbenen Strähnen und den lückenlos tätowierten Armen. Haidee. Mist. Dass sie und Kaia sich im selben Raum aufhielten, war vermutlich keine allzu gute Idee.

Als sie sich mit zwei Flaschen Bier in den Händen umdrehte, nickte sie ihm zur Begrüßung kurz zu. Und sie leuchtete noch immer – jedoch nicht, weil sie schwanger war, so wie er zuerst angenommen hatte. Sonst hätte sie auf keinen Fall Bier getrunken. Sie leuchtete einfach vor lauter Liebe, was seine zweite Annahme bestätigte.

Wieder spürte er kein Stechen in der Brust, als er sie ansah, und nie zuvor hatte er sich mehr darüber gefreut.

„Du solltest nicht hier sein“, sagte er, bevor er beim Barkeeper ein Bier bestellte.

Für einen kurzen Moment sah sie gekränkt aus. Dann war der Ausdruck wieder verschwunden.

„Ich wollte nicht gemein sein“, räumte er ein. „Sondern dich nur beschützen.“

Sie lächelte süß und schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Gedanken. Amun ist gerade erst aus dem Himmel zurückgekehrt, und deshalb hätte mich heute nichts von ihm trennen können. Schon gar nicht, wenn er morgen vielleicht schon wieder fort sein wird.“

Wie einsam sie klang. „Wieso morgen?“

„Ich will nicht darüber sprechen“, erwiderte sie grummelnd, und das Lächeln erstarb.

Er hob die Hand, um ihr tröstend den Rücken zu tätscheln, nahm sie aber sogleich wieder herunter. Selbst so eine symbolische Geste seinerseits würde ihr womöglich Unbehagen bereiten, und außerdem wurde ihm klar, dass er nun wirklich nicht der Richtige war, um ihr Trost zu spenden.

Bei ihrer hitzigen und turbulenten Geschichte könnte so ein Angebot Amun ziemlich wütend machen. Und das zu Recht. Strider konnte sich gut vorstellen, wie er reagieren würde, wenn einer seiner Freunde eine gemeinsame Vergangenheit mit Kaia hätte – hüstel, Paris, hüstel – und der Mistkerl sie anfasste. Hallo-ho, liebe Wut.

In diesem Augenblick begriff er, dass er sich niemals gewünscht hatte, für immer und ewig mit Haidee zusammen zu sein. Er war scharf auf sie gewesen, ja. Aber seine Gefühle für sie oder irgendeine andere waren nie so stark gewesen, dass er nicht ohne Probleme hatte von dannen ziehen können. Ohne Bedauern. Ohne schlechtes Gewissen. Tja, da bildete Kaia eine unerträgliche Ausnahme. Zumindest bis auf Weiteres. Er brauchte sie. Er wollte sie, und wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, würde er sie auch haben. Ende der Geschichte.

Allein der Gedanke daran fraß ihn vor Lust auf und verdrängte jede andere Emotion in ihm.

Nicht jetzt, verflucht. Sie muss sich mit den Jungs entspannen und mit ihnen trainieren. „Übrigens“, sagte er zu Haidee, um sich irgendwie abzulenken. „Ich weiß, dass du weißt, warum Amun neulich zu Cronus gerufen worden ist.“

„Ach ja? Und?“ Ihre Schwermut legte sich ein wenig, und ihr Gesicht hellte sich vor Belustigung auf. „Ich bin zwar nicht mehr von Hass besessen, aber hin und wieder macht es mir trotzdem Spaß, dich zu quälen. Außerdem weiß ich, dass sich einer deiner Kumpels einschalten und dir die Einzelheiten verraten würde.“

Gewinnen.

Na toll. Gegen eine Frau. Jetzt musste Strider gegen sie einen Willenskampf gewinnen. Doch er glaubte zu verstehen, warum sich sein Dämon wie ein Wilder auf diese Chance zum Sieg stürzte – so einfach er (hoffentlich) auch zu erringen wäre. Nachdem Kaia auf der Fahrt hierher dermaßen gefällig gewesen war, brauchte der Bastard Nahrung.

„Was hat er in Erfahrung gebracht? Und, ja: Wir unterhalten uns gerade etwas länger, ob du das willst oder nicht. Ich werde dir die ganze verfluchte Nacht wie ein Welpe an der Leine folgen, wenn es nötig ist.“ Wenn diese Drohung sie nicht zum Einlenken brachte, wusste er auch nicht weiter.

„Nichts.“ Sie seufzte. „Amun konnte sie nicht finden – die Frau, die jetzt von dem Dämon Misstrauen besessen ist. Cronus will, dass er morgen wiederkommt und es noch einmal versucht. Nun hast du beide Antworten. Zufrieden?“

„Ein bisschen.“ Er hatte gewonnen, und kleine Glücksfunken füllten seine Brust. „Sag ihm …“ Strider riss die Augen auf, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. „Er soll mich anrufen, wenn Cronus mit ihm fertig ist und er sich ein bisschen ausgeruht hat.“ Heute Nacht war Amun zu müde, als dass er ihn in die Pflicht nehmen könnte. Aber wenn ihm jemand helfen konnte, Juliettes Versteck für die Zweiadrige Rute zu finden, war er es. Verdammt, daran hätte Strider schon längst denken sollen. „Er muss mir einen Gefallen tun.“

Haidee trank einen Schluck Bier. „Dir und allen anderen auf der Welt.“

„Verdammtes Mädchen. Lern endlich zu teilen.“

Sie verdrehte die Augen. „Lustig, das ausgerechnet aus deinem Mund zu hören.“

„Nein, es ist pure Ironie. Das ist ein Unterschied. Aber soll ich dir die Wahrheit sagen? Ich bin ein hoffnungsloser Fall, einfach schon zu festgefahren. Du hingegen hast noch eine Chance zu kämpfen.“

Sie lachte und erwiderte etwas, doch ein schriller Schrei im Hintergrund ertränkte ihre Worte. So ein Mist. Striders Ohren erkannten den Schrei augenblicklich.

Er wirbelte im gleichen Augenblick herum, als ein roter, unscharfer Blitz an ihm vorbeiflog und sich auf Haidee stürzte.