47
Michael trug keine Waffe in den Händen, weil er Emma die Stufen hinauf geholfen hatte.
Jetzt waren sie dem Feind hilflos ausgeliefert. Sie standen Jean-Pierre gegenüber, der sie mit seinem hellen, tödlichen Blick maß und ein scharfes Schwert in der Hand hielt.
Jean-Pierre schaute sie kurz an und konzentrierte sich dann ganz auf Michael. »Wo ist mein Cousin?«, fragte er. »Wo ist Fürst Sandre?«
Michael machte große Augen. »Woher soll ich das wissen?«
Dieser gespielt unschuldige Tonfall überzeugte Jean-Pierre nicht.
»Hast du etwas mit Sandre gemacht?«, fragte sie.
Michael blickte sie an und neigte leicht den Kopf.
»Ich hoffe, es ist etwas Schreckliches.«
Ein ganz leises Lächeln umspielte Michaels Lippen.
»Sein Arbeitszimmer ist ein einziges Durcheinander. Auf dem Teppich ist Blut.« Jean-Pierre streckte den Arm aus und drückte die Schwertspitze in Michaels Brustbein. »Bevor ich Euch aufspieße, sagt mir eins: Wo ist mein Cousin?«
Michael antwortete mit einer Unbekümmertheit, die ihr schier den Atem raubte. »Wenn Ihr mich sowieso aufspießen wollt, werde ich kein Wort sagen.«
Sie wollte vor Jean-Pierre niederknien und ihn um Michaels Leben anflehen, doch Jean-Pierre zog das Schwert zurück. Frustriert fragte er: »Wie habt Ihr das nur angestellt? Ihr habt eine Gesellschaft angekündigt und Einladungen verschickt, die mit dem Siegel des Fürsten verschlossen waren?«
»Es war nicht das persönliche Siegel des Fürsten«, erwiderte Michael sanft. »Es war das Siegel der Familie de Guignard. Sie selbst haben vermutlich auch eines.«
»Du hast im Namen des Fürsten eine Gesellschaft gegeben? Du hast das gemacht, damit du mich retten kannst?« Dieser Schachzug war so verdammt klug, dass Emma es kaum glauben konnte.
»Ihr lebt bei den Fancheres. Habt Ihr Eleonores Siegel gestohlen?« Jean-Pierre hob die Stimme.
»Ich brauchte es ihr nicht zu stehlen.« An Emma gewandt fügte Michael hinzu: »Die Idee stammt auch gar nicht von mir. Die Gesellschaft, die Maskerade – das alles war Lady Fancheres Idee.«
Emma lachte laut. »Ich wusste, sobald sie entdeckt, wer Aimée getötet hat, gehen ihr die Augen auf. Ich wusste, dass sie Sandre damit nicht ungeschoren davonkommen lassen würde.«
»Sie hat alles geplant – das Essen, die Dekoration, sogar das Orchester. Sie hat die Diener des Fürsten angewiesen, was sie zu tun haben. Sie schrieb eigenhändig die Einladungen. Sie erhitzte das Wachs und verschloss die Briefe mit ihrem eigenen Siegel.« Michael klang eingebildet, er stand vor Jean-Pierre mit dem Selbstvertrauen eines jungen, stolzen Hahns. »Sie ist inzwischen fort. Zusammen mit ihrem Mann ist sie in die Villa in Italien gefahren, die Fanchere für Aimée angemietet hat. Ihr Geld haben die beiden mitgenommen. Das ist ein herber Verlust für Moricadia, findet Ihr nicht auch?«
»Eleonore hat uns betrogen«, hauchte Jean-Pierre.
»Nein. Sie hat die Wahrheit entdeckt. Über Euch und über Sandre«, sagte Michael.
»Ihr hättet Aimée nicht umbringen dürfen.« Emmas Wut wuchs wieder. Sie war so frisch und klar wie in dem Moment, als sie von Aimées Tod erfahren hatte.
Jean-Pierres Blick ging zwischen Emma und Michael hin und her. »Er hat verlangt, dass ich es mache.«
»Wenn der Teufel einen Befehl gibt, müsst Ihr ihm nicht gehorchen.« Sie versuchte, sich auf Jean-Pierre zu stürzen.
Michael hielt sie zurück. »Ihr werdet dafür in die Hölle kommen, Jean-Pierre. Und Ihr werdet Sandre auf Eurem Rücken dort hinabtragen.«
Jean-Pierres Schwert durchschnitt die Luft und zielte direkt auf Michaels Kehle. Emma schrie.
Ein Blitz, ein lauter Knall, und Jean-Pierre stolperte nach hinten. Er ließ das Schwert sinken und umklammerte seine blutende Hand.
Drei Männer traten vor. Sie hatten die Hüte tief ins Gesicht gezogen, und um ihre Münder und Nasen hatten sie Tücher gewickelt. Jeder hielt eine Pistole in der Hand.
Von einer Pistole stieg eine kleine Rauchfahne auf.
Obwohl Emma noch nie einem dieser Männer begegnet war, erkannte sie zumindest zwei von ihnen. Sie hatten beide blaue Augen, und der jüngere hatte braune Haare, die über seinen Hemdkragen ragten. Etwas haftete diesen beiden Männern an – die Art, wie sie sich bewegten oder vielleicht ihr kühles Auftreten – das sie an Michael erinnerte.
Sein Brüder. Der Schütze war zweifellos sein Vater.
Der andere Mann ähnelte keinem der anderen. Er war ein Mann, der sich in den Schatten wohlzufühlen schien. Ein Mann, der es gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen.
Trotz ihrer Verkleidung schien Michael sofort zu wissen, wer diese Männer waren. Er schrie auf und rief dann hoch erfreut: »Vater! Throckmorton! Jude!«
Der Mann, den er Throckmorton nannte, wandte seinen kalten Blick nicht ein einziges Mal von Jean-Pierre ab. Er zielte mit der Pistole auf ihn und sagte: »Entwaffne ihn.«
»Ich mach das schon selbst.« Ungeschickt und langsam zog Jean-Pierre mit der linken Hand eine Pistole aus dem Gürtel und legte sie auf den Boden.
»Er wird auch ein Messer haben«, meinte Michael. »Vielleicht sogar mehr als eins.«
Jean-Pierre zog nacheinander ein Messer aus seinem Ärmel und eins aus seinem Stiefel. Beide legte er neben die Pistole.
»Fessel ihn«, befahl Throckmorton.
Jean-Pierre warf Throckmorton einen hasserfüllten Blick zu.
Die Atmosphäre war dunkel und angespannt.
Emma konnte kaum atmen, während sie darauf wartete, dass Jean-Pierre wie ein tollwütiger Hund angreifen würde.
Doch er drehte sich um und legte die Hände gehorsam auf den Rücken.
Jude benutzte eine Spule mit Schnur an seinem Gürtel, um Jean-Pierres Hände zu fesseln und ihn an die Gitterstäbe vor dem Fenster zu binden. »Reicht das?« Er hob fragend in Richtung Throckmorton die Brauen.
»Ich denke schon.« Throckmorton wandte sich ab. »Lasst uns gehen.«
»Ja.« Michael konnte nur mühsam seine Freude in Zaum halten. Er zog Emma an sich. »Lasst uns von hier verschwinden.«
Er ging mit Emma voran. Die anderen Männer folgten dichtauf, und ehe sie um die nächste Ecke verschwanden, blickte Emma ein letztes Mal zurück.
Blut zeichnete sich auf dem Taschentuch ab, das Jean-Pierre sich um die Hand gewickelt hatte. Er drehte sich um, und seine blassen Augen richteten sich auf sie. Diese Augen … sie waren wie ein Leuchtfeuer des Bösen.
Sie erschauerte und beschleunigte ihre Schritte.
Sie eilten den Gang entlang Richtung Küche.
»Wie geht es Mutter?«, fragte Michael, während sie liefen. »Und wie geht es Adrian?«
»Beide sind wohlauf. Sie warten darauf, dass wir mit dir zurückkommen«, antwortete Nevitt.
»Sie werden sich freuen, wenn sie feststellen, dass es eine Zugabe gibt.« Jude betrachtete Michael, der Emma immer noch fest an sich gedrückt hielt.
»Ja«, erwiderte Michael. »Sie werden meine Emma mögen.«
Emma wollte ihm sagen, dass er schon zu viel verriet. Es war dafür noch zu früh. Wenn sie das hier richtig machen wollten, sollte sie ihr bestes Kleid anziehen und den Duke of Nevitt und seine Familie offiziell besuchen. Sie sollte in einem Salon in England der Familie vorgestellt werden.
Aber vielleicht war es dafür schon zu spät. Vielleicht war es dafür von Anfang an zu spät gewesen.
»Wie kommen wir hier raus?«, fragte Michael.
»Auf demselben Weg, auf dem wir reingekommen sind«, sagte Michaels Vater. »Durch das Tor.«
»Natürlich.« Michael lachte. »Du bist der Duke of Nevitt. Wie sonst solltest du einen Palast betreten und verlassen?«
»Eben.« Nevitt zog das Tuch vor dem Gesicht nach unten.
Jude folgte seinem Beispiel, und jetzt sah Emma die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen dem Vater und seinen Söhnen.
Livrierte Diener schoben sich hastig an ihnen vorbei. Sie trugen Tabletts mit Speisen und Weinflaschen hinauf ins nächste Stockwerk. Emma erwartete, dass einer von ihnen sie ansprach und fragte, was sie und ihre vier Retter hier unten trieben, oder um sie vielleicht woanders hinzuschicken. Oder um Hilfe zu rufen, weil eine Gefangene aus dem Kerker entwischt war.
Stattdessen schienen die Lakaien Michael, Emma und die anderen Männer gar nicht zu bemerken.
Fürst Sandres Diener bereiteten ein Fest vor … und sie lächelten.
Wie merkwürdig. Sie hatte noch nie einen von ihnen lächeln gesehen.
»Throckmorton hat einen Stalljungen angewiesen, unsere Pferde zu halten«, sagte Jude. »Irgendetwas an diesem Palast und dem Fest ist merkwürdig. Und dieses Land ist auch komisch, wenn du mich fragst. Hier ist heute ein seltsames Kostümfest. Sie haben sich alle als Gespenster oder etwas Ähnliches verkleidet.«
Jetzt erkannte Emma, was Michael und Lady Fanchere bewerkstelligt hatten. Sie lachte leise.
Michael strahlte sie an.
»Ich nehme an, du weißt nicht zufällig, was hier vor sich geht, Michael?«, fragte der andere Mann.
»Doch, Throckmorton. Das könnte durchaus sein.« Emma liebte es, wie Michaels Stimme klang, wenn er so selbstzufrieden lächelte: warm und amüsiert. So klang er.
Sie erreichten die massive Eingangstür. Die Männer steckten die Pistolen in die Holster – vermutlich ein fruchtloser Versuch, diskret zu sein – und betraten den Innenhof.
Die Nachtluft war rauchig. Fackeln beleuchteten die Außenwände des Palasts.
In einem steten Strom rumpelten Kutschen über das Kopfsteinpflaster und hielten vor der Freitreppe. Männer und Frauen, die sich als Schnitter verkleidet hatten, stiegen aus, blieben abwartend stehen und betraten schließlich gemeinsam mit anderen Gästen den Palast. Sie lachten, als würden sie alle diese Maskerade mehr genießen als sie eigentlich durften.
Niemand schien an den vier Männern, die Reisekleidung trugen, interessiert zu sein. Die junge Frau in feuchten, schmutzigen Kleidern übersahen die meisten einfach.
»Ein merkwürdiger Ort, den du dir da ausgesucht hast, Michael«, knurrte Nevitt.
»Den Großteil der Zeit war es nicht meine Entscheidung, Sir«, erwiderte Michael fest.
»Hier entlang.« Throckmorton führte sie zu den Ställen. Er pfiff, und sofort kam ein Junge aus dem Dunkeln und führte zwei Pferde am Zügel. Er gab Throckmorton und Jude die Zügel und verschwand wieder, um die anderen beiden Pferde zu holen, die in der Nähe angebunden waren.
»Ich habe weiter unten noch ein Pferd«, sagte Michael. »Wir können kurz anhalten und es mitnehmen.«
»Old Nelson.« Emma seufzte glücklich. »Das freut mich so. Ich fände es schrecklich, wenn wir ihn zurücklassen müssten.«
»In der Zwischenzeit kann die junge Dame ja mit dir reiten, Michael«, stellte Throckmorton fest.
»Throckmorton, ich würde es nicht anders haben wollen.« Michael strahlte ihn an.
Emma mochte es nicht, wenn man sie zu Sattelgepäck degradierte. »Vielleicht kann Michael auch mit mir reiten, Mr Throckmorton.«
»Wer ist diese freche Göre?« Der Duke of Nevitt klang sehr ernst, aber ein Mundwinkel verzog sich leicht, als müsste er ein Lächeln unterdrücken.
»Ich stelle euch einander gerne vor.« Michael umfasste ihre Schultern und drehte sie, sodass sie dem Duke of Nevitt ins Gesicht sah. »Vater, diese Lady ist Miss Emma Chegwidden.«
Sie machte einen vollendeten, höfischen Knicks, als stünde sie dem Duke in einem Ballsaal gegenüber.
Michael fuhr fort: »Sie hat mir das Leben gerettet, als ich in Gefahr war. Sie hat mein Herz gerettet, als ich glaubte, es sei gebrochen. Sie hat mich davor bewahrt, verrückt zu werden – was auch immer das wert sein mag.«
Jude schnaubte.
Michael hatte die ganze Zeit nicht den Blick von seinem Vater abgewendet, aber seine Faust schnellte zur Seite, und er boxte Jude auf den Arm. So ruhig, als sei nichts geschehen, sprach er weiter an seinen Vater gewandt. »Sie hat zugestimmt, meine Frau zu werden, ich werde sie so bald wie möglich heiraten. Bitte gib uns deinen Segen.«
Nevitt nahm die Zügel von dem Stallburschen entgegen, stellte den Fuß in den Steigbügel und zog sich in den Sattel.
Emma verkrampfte sich. Oh Gott. Er würde sich dagegen aussprechen.
Doch dann schaute er sie von oben herab an. »Wenn sie all das vermag, dann ist sie mehr, als du verdienst, Junge. Natürlich habt ihr meinen Segen.«
Emma brach beinahe vor Erleichterung zusammen … und vor Überraschung.
»Vater erkennt eben eine Amazone, wenn sie ihm gegenübersteht«, flüsterte Michael ihr ins Ohr.
»Ich helfe Euch in den Sattel, Miss Chegwidden.« Jude legte die Hände auf ihre Schultern. »Michael, rauf mit dir.«
Michael stieg in den Sattel und hielt ihr seine Hand hin.
Emma legte ihre Hand in seine. Ihr Fuß ruhte in Judes ineinandergelegten Händen, und so schaffte sie es, hinter Michael auf den Pferderücken zu steigen. Sie war sicher, dass sie dabei nacktes Bein zeigte, denn sie setzte sich rittlings hinter Michael.
Sie war der Schnitter gewesen, also würde sie auf keinen Fall im Damensitz reiten!
Natürlich blieb das von den Männern nicht unbemerkt. Sie waren Männer. Doch in ihren Blicken lag nichts Tadelndes.
Nevitt wendete sein Pferd. Doch dann kam er noch einmal zurück. »Michael, ich fürchte, du solltest dir viel mehr Sorgen machen, ob Miss Chegwiddens Vater euch seinen Segen gibt.«
»Mein Vater ist schon lange tot, Sir«, sagte sie.
»Ich habe ja immer schon gesagt, dass Michael höllisches Glück hat«, bemerkte Nevitt grimmig. »Aber ich werde für Euren Vater einstehen und sage Euch daher eines: Ihr müsst diesen verkommenen Gesellen nicht heiraten. Ihr habt sein Leben gerettet, und dafür schulde ich Euch etwas. Ich kann gerne eine Leibrente für Euch aussetzen, die es Euch ermöglicht, ein unabhängiges Leben zu führen.«
»Vater, um Gottes Liebe willen, halt den Mund!« Michael zog Emmas Arme enger um seinen Oberkörper. »Sie will mich heiraten.«
Jude lachte und schwang sich in den Sattel. »Vermutlich vor allem, weil du der zukünftige Duke of Nevitt bist.«
Throckmorton lachte grollend, doch sein Blick fand keine Ruhe. Er wanderte über das Tor und die Wachen. Erst dann stieg er als Letzter in den Sattel.
»Es ist mir egal, warum sie mich heiraten will«, erklärte Michael. »Sie kann jeden einzelnen Penny von mir haben; sie kann mit dem Titel protzen, sobald sie ihn trägt. Solange sie nur an meiner Seite bleibt und die Dunkelheit vertreibt.«
Emma erkannte, dass sie ihre eigene Position deutlich machen musste, ehe sie losritten und ein Gespräch vorerst unmöglich war. Mit sehr fester Stimme erklärte sie: »Ich werde Michael heiraten, sein ganzes Geld verschwenden und über sein Leben bestimmen. Ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder Umgang mit verdorbenen Weibern hat oder mit ausschweifenden Männern spielt. Ich verspreche, dass ich ihn unter meinem Pantoffel halten werde, bis er kein Leben hat außer dem, was ich ihm zugestehe. Und wenn wir sterben, will ich bis in alle Ewigkeit in seinen Armen liegen.«
Einen Moment schwiegen die Männer betreten.
Nevitt zog ein weißes Taschentuch heraus und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Da habt ihr’s. Ich habe jegliche Kontrolle über mein eigenes Leben verloren.« Michael klang fröhlich, er nahm ihre Hand von seiner Taille und küsste sie.
»Es wird Zeit. Du warst übrigens nie besonders gut darin, die Kontrolle über dein eigenes Leben zu haben«, bemerkte Nevitt.
»Bravo, Miss Chegwidden!« Throckmorton trieb sein Pferd voran. »Gut gesprochen. Und jetzt lasst uns losreiten.«
Michael legte ihre Hand wieder auf seine Taille. »Halt mich fest. Lass mich nie wieder los.«
Er und Emma folgten Throckmorton durch das Tor und die steile Straße hinab. Nevitt und Jude folgten ihnen. Sie wichen den ankommenden Kutschen aus und verschwanden schon bald in der Dunkelheit des Walds jenseits der Straße.
Michael führte sie dorthin, wo er Old Nelson zurückgelassen hatte.
Während Michael die Steigbügel einstellte, begrüßte Emma den Wallach mit großer Freude. Dann stieg sie in den Sattel und seufzte erleichtert. Jetzt fühlte sie sich angekommen. Sie fühlte sich frei.
Michael blickte zu ihr auf. »Du kannst in England nicht über die Straßen fegen und Missstände korrigieren.«
»Nein?« Sie lächelte zu ihm herab. »Kann ich nicht?«
»Du wirst mich schon ordentlich auf Trab halten, kann das sein?« Er klang resigniert. Und glücklich.
Nevitt beobachtete die beiden und bemerkte: »Es wird das Beste sein, wenn wir die beiden schon in Spanien verheiraten. Michael war schon immer so ein ungeduldiger Junge.«
Emma blickte ihren zukünftigen Schwiegervater missbilligend an. Wie viel hatten sie mit einem Blick und wenigen Worten verraten?
Nevitt lachte leise. »Keine Sorge, Mädel. Das erste Kind kann jederzeit kommen. Für jedes weitere braucht es mindestens neun Monate.«
Michael stieg in den Sattel. »Vater, jetzt hör endlich auf, Emma so zu beschämen, und reit einfach los. Wir wollen bis zum Morgen möglichst weit von Jean-Pierre weg sein.«
»Er ist ein Feigling«, erklärte Jude.
»Er ist kein Feigling.« Michael führte die Gruppe zur Straße zurück. »Er ist der gefährlichste Mann, den ich kenne. Throckmorton hat recht: Wir sollten so schnell wie möglich aus Moricadia verschwinden – möglichst bevor er herausfindet, was ich mit Sandre getan habe und bevor hier die Puppen tanzen.«
»Dann haben meine Quellen recht?«, fragte Throckmorton. »Die de Guignards kriegen ernsthafte Schwierigkeiten?«
Michaels Blick war kalt und sehr selbstzufrieden. »Sandre hätte besser aufpassen sollen. Das Auftauchen des Schnitters war ein Zeichen. Der König ist zurückgekehrt.«
Das Fest im Palast war in vollem Gange. Gäste, die sich als Schnitter verkleidet hatten, tanzten ausgelassen im Schutz ihrer Masken und ihrer Kostüme. Wenn man sie fragte, sagten sie nur, sie seien halb verrückt vor Freude, weil sie wussten, dass der Schnitter gefangen genommen sei und morgen gehängt wurde.
Jean-Pierre fand, sie verhielten sich wie Kinder, die ausgelassen tobten, weil Fürst Sandre nirgends zu sehen war.
Jean-Pierre stand auf dem Balkon. Seine Hand war in ein blutiges Tuch gewickelt, die Handgelenke waren vom Kampf gegen die Fessel aufgescheuert, und er beobachtete die Feiernden. Er fragte sich, wo dieser verfluchte Durant Sandre versteckt hatte. Er hatte die Wachen ausgeschickt, jeden Winkel, jede Kammer und jeden Schrank des Palasts zu durchsuchen. Sie hatten ihn nicht gefunden. Oder sie behaupteten nur, sie hätten ihn nicht gefunden.
Er vertraute ihnen nicht mehr. Ihre Wut hatte die Angst überflügelt. Wenn einer von ihnen Sandre gefesselt und geknebelt irgendwo gefunden hatte, war Jean-Pierre sicher, dass der Wachmann ohne Zögern Sandre die Kehle durchgeschnitten hatte.
Den Dienern vertraute Jean-Pierre auch nicht. Sie hatten am Rand der Tanzfläche einen langen Tisch aufgestellt und ihn mit den köstlichsten Speisen gefüllt – einem Pfau, dem sie die Schwanzfedern wieder angesteckt hatten, einer Sülze in der Form einer Rose. Und während sie das Essen auftrugen, lächelten sie. Sie lächelten! So verhielten sich Sandres Diener sonst nie.
Wo waren überhaupt die Schlüssel zum Kerker? Sandres Schlüssel waren verschwunden. Auch Gotzons Schlüssel waren nirgends zu finden. Gab es noch andere Schlüssel? Jean-Pierre wusste es nicht. Verflucht sollte Durant sein! Er sollte in der Hölle schmoren!
Das kleine Orchester hörte mitten im Lied auf zu spielen und eine Fanfare erklang.
Jean-Pierre beugte sich über das Geländer.
Zwei kräftige Männer schleppten einen riesigen Silberteller mit passendem Deckel herein. Leises Geplauder setzte ein.
»Das Hauptgericht!«
»Ein ganzes gebratenes Schwein!«
Die Gäste versammelten sich.
Die Männer wuchteten den Teller auf den Tisch.
Jean-Pierres Augen verengten sich. Er beobachtete die beiden scharf.
Diese Männer waren mehr als nur stark. Es waren grobschlächtige, bärtige Typen, und keiner von ihnen trug die Livree der Palastdiener.
Sein Blick fiel erneut auf den Teller mit dem riesigen, kuppelförmigen Silberdeckel. Jetzt erkannte er, was sich darunter befinden musste. Er richtete sich auf und schrie: »Nein!«
Die Männer blickten zu ihm auf. Sie erwiderten seinen Blick und grinsten. Dann hoben sie den Deckel und traten zurück. Da lag Fürst Sandre. Nackt und wie ein Hühnchen gefesselt. Sein Hintern ragte in die Luft, und zwischen seinen haarigen Pobacken lugte eine brennende Kerze hervor.
Einen Augenblick lang herrschte entsetztes Schweigen. Dann fingen hundert Schnitter an, brüllend zu lachen.
Jean-Pierre stürzte die Treppe herunter. Er schrie die Männer an, die Sandre getragen hatten, dass sie bleiben sollten, wo sie waren. Er würde schon herausfinden, wer dahintersteckte, brüllte er.
Die Schnitter lachten noch lauter.
Jean-Pierre zog seine Pistole und richtete sie auf einen der Eindringlinge, die den Fürsten hereingeschleppt hatten.
Der Mann erstarrte.
Dann schrie Sandre auf.
Die Kerze brannte herunter, und Sandres Haare am Hintern hatten sich daran entzündet.
Jean-Pierre vergaß die lachenden Gäste. Er vergaß die beiden Verräter. Sofort war er an Sandres Seite und blies die Kerze aus und alles andere, was munter vor sich hinkokelte. Als er sich wieder aufrichtete, hatte sich die Menge zerstreut. Sie waren verschwunden, als habe es sie nie gegeben.
Das Fest war vorbei.
Keiner lachte mehr.
Fürst Sandres viel gepriesener Stolz lag im Staub.
Aus einer dunklen Ecke hatte Raul Lawrence zugesehen. Er lächelte nun und wandte sich ab, um in sein Haus zurückzugehen. Zu seinen Leuten und zu dem Geheimnis, das er so sorgfältig gehütet hatte.
Die Gerüchte stimmten. Der wahre König von Moricadia war tatsächlich zurückgekehrt.