15
»Warte!«, rief Emma.
Der Schnitter drehte sich zu ihr um. Jede seiner Bewegungen verriet seine Verwirrung.
Sie trat zu ihm. »Du hast mich im Wald gefunden. Du hast mein Leben gerettet. Und ich will dir dafür danken … Ich will dir danken …« Sie nahm all ihren Mut zusammen und nahm sein Gesicht zwischen beide Hände. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihre Lippen auf seine.
Sie hatte keine Erfahrung damit, doch legte sie all ihre Anerkennung in diesen einen Kuss. Seine Lippen waren warm und erstaunt, und dann nur noch warm und … leidenschaftlich. Sein Atem berührte sie und wurde heftiger, als sie ihr Gesicht seinem entgegenhob. Doch er hielt sich zurück, berührte sie nicht und wartete, dass sie sich zuerst bewegte.
Aber sie wusste nicht, was er jetzt von ihr erwartete.
Also hörte sie wieder auf den Instinkt, der aus einer ruhigen Ecke in ihr gekrochen kam, wo er sich bisher verdrängt und verängstigt verborgen hatte. Sie legte die Arme um seinen Hals und lehnte sich gegen ihn. Nicht mit ihrem ganzen Gewicht und auch nicht mit dem Unterleib; das traute sie sich noch nicht. Aber Brust und Schultern berührten ihn. Und das fühlte sich sehr angenehm an.
Er verströmte Hitze und Kraft, er roch nach einem anstrengenden Ritt und nach Pferd. Dieser Mann ragte groß über ihr auf, sie atmete tief ein und genoss die Unterschiede zwischen ihnen. Dann küsste sie ihn härter und drückte ihre Lippen auf seine.
Gerade kam ihr der Gedanke, dass Küssen wohl doch nicht so aufregend war wie sie immer gehofft hatte, als sich alles änderte. Irgendetwas – vielleicht ihr Eifer? – ließ ihn die Kontrolle verlieren.
Er riss sie zu sich heran, ein Arm um ihre Taille gelegt, der andere streichelte ihren Rücken und den Kopf. Er beugte sie nach hinten. Und dann küsste er sie.
Das war kein suchendes, unerfahrenes Drücken von Lippen auf Lippen.
Das war ein verwegener Kuss. Ein leidenschaftlicher Kuss. Dieser Kuss war wie die wilde Reise durch einen Dschungel, wie das Plantschen in einem warmen, stürmischen See, als würde sie nach draußen in den Gewittersturm treten und die Blitze einladen, sie zu treffen und in Flammen zu setzen.
Der Wind fuhr durch das offene Fenster und schien sie nass und kalt zu umarmen. Ein Windstoß hob den Saum ihres Nachthemds und bauschte es um seine Stiefel.
Emma drückte sich an ihn. Sie wurde von der Abenteuerlust dieses Mannes ganz in Anspruch genommen. Seinem Sinn für Gerechtigkeit und seiner Liebe … zu ihr? Seine Lippen öffneten ihre, und seine Zunge schlüpfte in ihren Mund. Er schmeckte sie und lud Emma stumm ein, ihn zu schmecken. Seine Seele zu erkunden, sein Wesen. Er unterstützte sie und wollte nicht mehr von ihr, als dass sie ihm dieses Privileg gestattete.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich. Ihre Nippel drückten sich hart und straff gegen seine Brust, und ihr Herz hämmerte in einem wilden Rhythmus. Sie war vor Sehnsucht halb verrückt und ließ hilflos die Hände über seine Arme und seine Brust gleiten. Dort fand sie starke Muskeln und gespannte Sehnen, unter ihrer Handfläche schlug sein Herz mit einer Wildheit, die der ihres Herzen glich.
Mit einem leisen, wortlosen Flüstern löste er schließlich seine Lippen von ihren.
Sie ruhte in seinen Armen und atmete schwer. Nur langsam erholte sie sich von diesem kurzen, herrlichen Sturm der Gefühle. Sie öffnete die Augen und blickte zu ihm auf. Sie war völlig aus der Fassung und peinlich berührt. »Oh, du lieber Himmel. Du lieber Gott. Wir haben … Ich habe …«
Seine Augen unter der Maske musterten sie. Nicht tadelnd, sondern als wollte er sie beschwichtigen. Er nickte und berührte sanft ihre Wange. Dann zog er ein sauberes Taschentuch hervor. Behutsam betupfte er ihre Lippen und zeigte ihr das gefaltete Stück Stoff.
Irgendwann während dieses wilden Kusses hatte er den weißen Puder von seinem Gesicht auf ihres übertragen. Jetzt war seine Haut, die von der Sonne gebräunt war, unter der Tarnung sichtbar geworden. Und das zeigte ihr erneut, dass er tatsächlich ein Mann aus Fleisch und Blut war.
Er hielt die Hände hoch, als sei er bereit, sie jederzeit aufzufangen, und machte ein paar Schritte nach hinten. Als er sicher war, dass sie auf eigenen Füßen stehen konnte, verbeugte er sich. Sein Gesicht wirkte ernst. Dann drehte er sich um und öffnete die Tür, als sei er sicher, nun ohne Zwischenfall durch den Flur entkommen zu können.
Ob ihm das wirklich gelang? Über ihren Köpfen konnte sie noch immer die Stiefeltritte seiner Verfolger hören, die auf den Dielenbrettern dröhnten. Aber vielleicht hatte Fürst Sandre eine Wache auf diesem Stockwerk zurückgelassen.
»Sei vorsichtig«, flüsterte sie.
Er drehte sich um. Sein Leichentuch wehte um ihn wie ein Mantel. Ein letztes Mal verbeugte er sich, die Hand auf die Brust gelegt.
Im Gegenzug machte sie einen Knicks wie ein albernes Mädchen bei seinem ersten Ball.
Sein Blick wurde warm. Er schloss die Tür und war nun endgültig verschwunden.
Nicht ein einziges Mal hatte er ein Wort gesagt oder ein Geräusch gemacht.
Sie stand da und starrte mit großen Augen ins Leere. Ihre Hände hingen nutzlos herab, sie rang nach Luft und konnte an nichts anderes denken als an dieses Verlangen. Dann zuckte ein Blitz vor dem Fenster, und ihr ging auf, dass er jetzt irgendwo da draußen war. Er rannte vielleicht gerade durch das Hotel und versuchte, den Häschern des Fürsten zu entkommen. Sie lief zur Tür und lauschte, dann eilte sie zum Fenster und riss es weit auf. Sie steckte den Kopf heraus.
Der Regen wusch ihr Gesicht, und der Wind zerrte an ihren Haaren. Blitze zuckten und gewährten ihr für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf den Hof unter ihr.
Nichts bewegte sich. Plötzlich nahm sie einen Schatten wahr. Ja, da war er. Er rannte über das Kopfsteinpflaster. Ein dunkler Mantel verhüllte nun seine Verkleidung. Sie hielt die Luft an, weil sie fürchtete, im nächsten Augenblick einen Schrei zu hören, weil man ihn entdeckte.
Alles blieb still.
Er erreichte unentdeckt die Waldgrenze. Im letzten Moment blieb er stehen und schaute zum Hotel zurück. Sie glaubte zu sehen, wie er eine Hand für sie hob.
Sie winkte wild zurück, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Aber es war ihr unmöglich einfach still zu halten.
Dann war er fort.
Widerstrebend zog sie sich ins Innere des Zimmers zurück und schloss das Fenster. Dann öffnete sie es wieder einen Spaltbreit, weil die Enge der Kammer ihr den Atem zu rauben drohte. Sie nahm ein weißes Handtuch, trocknete ihr Gesicht ab und rieb die Haare trocken. Dann erst schaute sie an sich herunter und musste selbst über sich lachen. Mit dem nassen Nachthemd hätte sie wirklich genauso gut nackt sein können. Wie gut für sie, dass der Schnitter sie nicht so gesehen hatte.
Noch viel besser war, dass Fürst Sandre sie nicht so gesehen hatte.
Sie ging zur Tür und schloss sie wieder ab. Dann trat sie ans Bett und sank endgültig in die weiche Matratze.
Erst heute früh hatte sie Brimley im Brustton der Überzeugung versprochen, dass sie es vermeiden würde, sich auch nur andeutungsweise in die moricadische Revolution einzumischen. Und jetzt hatte sie den Schnitter in ihrem Bett versteckt! Sie hatte die Aufmerksamkeit von Fürst Sandre erregt! Wer war sie denn? War sie eine verängstigte Gesellschafterin oder eine närrische Heldin?
Und was war schlimmer – die Gefahr, der sie sich zu stellen bereit war? Oder ihr schamloses Verhalten?
Michael stand am Fenster und betrachtete durch die Gitterstäbe, wie die Sonne aufging. Alles in ihm vibrierte vor Anspannung und Erregung.
Heute Nacht war es verdammt knapp gewesen. Bisher war es noch nie so knapp gewesen. Aber nachdem Rickie ermordet worden war, hatte Sandre alle seine Männer darauf angesetzt, den Schnitter zu fangen.
Doch der Schnitter würde nicht aufhören. Nicht, bis er Rache genommen hatte. Bis er für Gerechtigkeit gesorgt hatte.
Michael hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass der Schnitter vermutlich eines Tages gefangen genommen wurde und dann einen schrecklichen, quälend langsamen Tod sterben würde.
Das hatte ihn bisher nicht gekümmert. Aber jetzt … Nachdem er so lange in der kalten, feuchten und engen Dunkelheit gelitten hatte, hatte der Schnitter nun endlich einen Grund gefunden, um zu leben.
Ihr Name lautete Miss Emma Chegwidden.
Michael wandte sich an Rubio und sagte: »Schick eine Nachricht zu Raul Lawrence. Lade ihn ein, mich heute hier zu besuchen.«
»Was ist, wenn er beschäftigt ist?«, fragte Rubio.
»Sag ihm, es sei ein Gefallen, den er einem alten Freund schuldig ist.«