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Dodd.eps

Ein zweiter Schrei durchschnitt die Luft, und vor Michaels Augen verwandelte Emma sich von einer furchtsamen, anständigen, jungen Engländerin in eine Amazone mit stahlharten Augen. Sie drehte den Türknauf und betrat die luxuriöse Zimmerflucht.

Dort saß in dem Wohnzimmer ein Junge, der kaum älter als sieben sein konnte, auf einem mit Ruß verdreckten Laken vor dem Kamin auf dem Boden und wand sich vor Schmerzen. Er hielt seinen Arm fest umklammert.

Lady Lettice trug ihr Nachthemd nebst passender Nachthaube und hatte sich in einen weißen Samtmorgenrock gehüllt, der jetzt mit schwarzen Flecken übersät war. Sie sprang auf und ab und schrie den Jungen und den Schornsteinfeger an, der seinerseits lautstark den Jungen schalt.

Die Zimmermädchen drängten sich in der Tür zum Schlafzimmer und beobachteten mit dunklen, weit aufgerissenen Augen das Geschehen. Sie plapperten auf moricadisch durcheinander.

Emma trat in die Mitte dieses Chaos, schob den Schornsteinfeger beiseite und zog ihre Handschuhe aus, die sie einfach auf ein Tischchen warf. »Holt mir meine Medizintasche«, befahl sie Lady Lettice.

»Ich soll Euch Eure Medizintasche holen? Welche Medizintasche überhaupt? Nichts in diesem Hotelzimmer gehört Euch. Nichts!« Lady Lettice kreischte so laut und hoch, dass Michael vermutete, die Hunde heulten deswegen noch in einigen Meilen Entfernung auf.

Emma kniete sich hin. Ihr Knie lag in dem pudrigen schwarzen Ruß, doch das kümmerte sie nicht. Sie umfasste die Schultern des Jungen und sprach leise auf ihn ein. Irgendwie schaffte sie es, dass er seinen Blick auf sie richtete, und sobald sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte, nahm sie seinen Unterarm in beide Hände. Behutsam ließ sie die Finger über die Haut gleiten. Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Gebrochen.«

Michael konnte den Blick nicht von ihr wenden. Woher wusste sie das? Wann hatte sie das gelernt? Er wandte sich an Lady Lettice, weil er darauf bestehen wollte, dass sie endlich Emmas Medizintasche herausrückte.

Ehe er sich bewegen konnte, sprang Emma wieder auf und stürzte sich wie ein Zankteufel auf die Frau. »Gebt mir meine Medizintasche. Sofort.«

Lady Lettices Kinn und Busen bebten vor Entrüstung. »Das werde ich nicht tun. Ihr habt mich bis auf die Knochen blamiert. Dank Euch bin ich eine Lachnummer.«

Die Worte strömten aus Emmas Mund wie Wasser aus einem gebrochenen Damm. »Lady Lettice, Ihr braucht keine Unterstützung, um eine Lachnummer zu sein. Ihr seid eine ältere Frau, die um die Gunst junger Männer buhlt. Ihr habt keine Moral, und es fehlt Euch gänzlich an Vornehmheit. Die Gesellschaft lacht über Euch, weil Ihr es verdient, dass man über Euch lacht. Also, Madam, seid so gut und gebt mir die Tasche. Dann lasse ich Euch Moricadia verlassen, ohne jedem von Euren verdorbenen Jugendsünden zu erzählen.«

Lady Lettice wich zurück. Sie hob eine Hand und wollte nach Emma ausholen.

Michael fing ihren Arm in der Luft ab. »Nein.« Ein einfaches Wort, das er entschlossen aussprach.

Lady Lettice blickte erst ihn an, dann schaute sie in Emmas leuchtende aquamarinblaue Augen. Sie sank zusammen. »Eure Medizintasche? Ich habe sie verloren. Weggegeben. Ich habe sie in den Müll drunten auf der Straße dieses lausigen, stinkenden Orts geworfen.«

Emma umrundete sie, schob sich an den Mädchen vorbei und betrat das Schlafgemach.

Michael hielt Lady Lettices Handgelenk weiter umfasst. Sie richtete ihren flehenden Blick auf ihn. »Ihr müsst das verstehen! Ich war gut zu ihr, doch sie ist nur eine undankbare Schlampe, die mich hintergangen hat. Hinter meinem Rücken hat sie mit den Gentlemen geschäkert, die unter anderen Umständen mich zur Frau gewollt hätten. Es ist ihre Schuld, wenn ich nicht respektiert werde.«

Emma kam wieder aus dem Schlafgemach. Sie hielt eine Reisetasche mit beiden Händen umfasst.

Offenbar war Lady Lettice inzwischen selbst davon überzeugt, die Wahrheit über Emma zu sagen. Sie hatte sogar Tränen in den Augen.

Emma kümmerte sich nicht darum. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf das Kind. »Michael, ich werde hier gleich Eure Hilfe brauchen«, sagte sie. Sie wäre bestimmt entsetzt, wenn ihr aufging, dass sie seinen Vornamen benutzte und ihn so schamlos herumkommandierte.

Auf jeden Fall war Lady Lettice schockiert, als er den Anordnungen gehorchte. Er kniete sich neben Emma in den Ruß und legte den Arm um die Schultern des Jungen.

»Wie heißt du?«, fragte Emma das Kind.

Der Junge gab keine Antwort, und der Schornsteinfeger wurde vor Wut knallrot. »Antworte der Lady, du elender Flegel!«

Emma hob den Kopf und sah den Mann an. »Verschwindet.« Wieder sprach sie mit dieser autoritären Stimme.

Aber der Schornsteinfeger war ein Mann, der es wohl als Schwäche auslegte, wenn er einer Frau gehorchte. Er schnauzte: »Ich habe für dieses Kind bezahlt, und werde sie nicht mit einer Wahnsinnigen allein lassen, die sie verhätschelt, nur weil sie gefallen ist und sich verletzt hat.«

Emma starrte den Schornsteinfeger an. Das Gold war aus ihren Augen vollständig verschwunden. Sie waren jetzt so hart und kalt wie blauer Kristall. »Dies ist ein Mädchen

»Sie sind dünner, kleiner und machen sich ständig Sorgen um die jüngeren Geschwister daheim, darum arbeiten sie härter. Sie sind motiviert, wenn man das so sagen kann.« In seinen Worten schwang Stolz ob seiner vermeintlichen Intelligenz mit, er lachte. Er sah die Gefahr nicht kommen, bis Michaels Faust nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war.

Dann war es schon zu spät, um sich zu ducken.

Lady Lettice kreischte.

Der Schornsteinfeger stolperte rückwärts, knallte gegen die Wand und hinterließ einen schwarzen Abdruck, der an eine riesige Mücke denken ließ, die an der Wand erschlagen worden war. Seine fuchtelnden Arme brachten den Chippendaletisch zum Einsturz, und die chinesische Vase segelte mit den frischen Blumen und dem gehäkelten Spitzenschal zu Boden. Der Widerhall ließ das Gemälde in dem vergoldeten Rahmen wild hin und her schwingen, ehe es sich vom Haken löste und dem Schornsteinfeger auf den Kopf knallte. Er sank bewusstlos zu Boden.

Das Mädchen unter Emmas Händen kicherte heiser. Dann flüsterte es mit einem harten Akzent auf Englisch: »Elixabete. Mein Name lautet Elixabete.«

»Elixabete, bist du aus dem Kamin gefallen?« Emma schaute dem Mädchen wieder in die Augen.

Das Kind nickte.

»Dein Arm ist gebrochen. Ich werde ihn jetzt abwaschen. Dann werden der Gentleman und ich ihn wieder richten. Ich werde dich nicht belügen. Das wird sehr wehtun, aber danach verspreche ich dir, wirst du dich schon viel besser fühlen. In Ordnung?«

Elixabete nickte. Ihre Augen waren entsetzlich blau in dem geschwärzten Gesicht, sie richtete ihren hoffnungsvollen Blick auf Emma.

Emma zeigte auf eines der Zimmermädchen. »Bring mir Wasser und ein Handtuch. Michael, legt die Hände auf ihre Schultern.« Emma breitete ein sauberes Tuch auf dem Boden aus. Dann holte sie aus ihrer Tasche ein verkorktes Glas, zwei Stäbe und in Streifen gerissenen Stoff.

Elixabete rührte sich nicht, aber sie beobachtete aufmerksam, was Emma tat.

In aller Ruhe wusch Emma den Arm und murmelte die ganze Zeit beruhigend auf das Kind ein. Dann tastete sie mit halb geschlossenen Augen behutsam nach dem Knochen. Sie warf Michael einen warnenden Blick zu und atmete tief durch. Schließlich richtete sie den Arm mit einer weichen, sicheren Bewegung wieder ein.

Elixabete schrie. Tränen traten ihr in die Augen und rannen in Bächen über ihr rußiges Gesicht.

Lady Lettice sog scharf die Luft ein und sank bewusstlos und ziemlich unelegant auf den Boden.

Bernhard kam in das Zimmer. Mit einem Blick erfasste er den bewusstlosen Schornsteinfeger, seinen bewusstlosen Gast und den Kohlestaub, der sich mit Wasser vermischt im Teppich und an der Tapete festgesetzt hatte. Er brach sogleich in erregtes Lamentieren auf Deutsch aus und verfluchte lautstark die Sitten im Elternhaus jedes einzelnen Anwesenden, wobei er besonders an Michael kein gutes Haar ließ.

Was Emma betraf, hätte Bernhard genauso gut nicht da sein können. Sie tastete erneut nach dem gebrochenen Knochen. Dann gipste sie den Arm mit einem körnigen weißen Material ein, schiente ihn und band die Schiene mit Stoffstreifen fest. Schließlich schaute sie sich um. Das lange Spitzentuch, das auf dem Tisch gelegen hatte, fiel ihr ins Auge. Sie griff nach einem Ende des Tuchs.

Bernhard griff nach dem anderen Ende und schrie wie ein Mädchen. »Nein! Nein, das dürft Ihr nicht!«

Sie spielten ein wenig Tauziehen um das Tuch, bis Emma ihren kalten Blick auf ihn richtete und fragte: »Möchtet Ihr etwa in Kürze in einer ähnlichen Situation sein wie diese beiden?« Sie nickte zu Lady Lettice und dem Schornsteinfeger.

Michael stand auf.

Bernhard warf einen Blick auf Michaels geballte Fäuste. Dann ließ er das Tuch los. »Ich werde sofort die Männer des Fürsten rufen!«

»Das solltet Ihr«, erklärte sie herzlich. »Aber zuerst solltet Ihr Euch um Euren Gast kümmern, der ohnmächtig auf dem Boden liegt. Nicht, dass sie aufwacht und erkennt, dass ihre Bedürfnisse Euch gleichgültig sind. Ich versichere Euch, Lady Lettice wird ihr Missfallen deutlich zum Ausdruck bringen.«

Bernhard schwankte. Dann eilte er an Lady Lettices Seite und kniete nieder. Er schob die Arme unter ihren Körper und hob sie mit einem hörbaren »Uff!« hoch.

Lady Lettice stöhnte und bewegte sich. Sie legte die Arme um seinen Hals.

Bernhards entsetzte Miene ließ Michael schmunzeln. Ja, mein Freund, jetzt steckst du in echten Schwierigkeiten. Er sprach mit einem der Mädchen, das sich immer noch im Türrahmen zu Lady Lettices Schlafgemach herumdrückte. Dann lehnte er sich gegen die Wand und beobachtete, wie Emma die Situation meisterte. Offensichtlich hatte er Miss Chegwidden unterschätzt. Sie war gar nicht so verweichlicht, wie er anfangs geglaubt hatte – oder wie sie selbst zu glauben schien.

Emma schlang das Tuch um Elixabetes Hals und stabilisierte den Arm in der Schlinge.

Als sie fertig war, erklärte Elixabete überrascht: »Es fühlt sich schon besser an!«

»Gut.« Emma lächelte das Mädchen an. Ihre Miene war voller Wärme und Freundlichkeit. Dann blickte sie zu Michael hoch, und auf dem Gesicht, das von Staub und Schweiß bedeckt war, lag ein entschlossener Ausdruck. »Wir müssen sie nach Hause bringen.«

Michael erwiderte nüchtern: »Wenn Ihr das sagt …«

Aber er wusste, dass Emma für den Anblick, der sie im Zuhause des Mädchens erwartete, nicht gewappnet war.