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Dodd.eps

Am nächsten Morgen riss Emma die Augen überrascht auf. Ihr Herz schlug schnell, und sie rang nach Luft. Sie hatte sich im Schlaf in den Decken verfangen, die von ihrem Angstschweiß feucht waren.

Sie hatte geträumt. Vom Schnitter. Es war ein Albtraum mit verwirrenden Bildern – sie hatte einen Wald gesehen, in dem die Äste der Bäume wie Finger nach ihr griffen. Da war wieder der Wolf mit glühenden Augen. Und ein Ghul, der keine Augen hatte. In ihrem Traum waren Schmerz und düstere Vorahnungen und … ja, was? Sie wusste es nicht.

Sie setzte sich langsam auf und befreite sich von der Panik und ihrem voluminösen Nachthemd.

Der Albtraum musste durch die gestrige Neuigkeit heraufbeschworen worden sein. Sie hatte diesen intimen Moment zwischen Ehemann und Ehefrau belauscht; der Schnitter hatte Lady Fancheres Cousin ermordet. Er hatte ihn am Hals aufgehängt, bis er tot war.

Die arme Lady Fanchere war ehrlich entsetzt gewesen. Doch sie hatte nicht vergessen, was zu tun war. Sie hatte Emma befohlen, im Bett zu bleiben, und Tia hatte sie angewiesen, sich um Emma zu kümmern. Jedes Mal, wenn Emma aufwachte, wurde ihr eine kleine Mahlzeit serviert, die geschaffen war, einen abgestumpften Gaumen zu erfreuen.

Es war dumm, über einen Alptraum nachzugrübeln. Und sie war nicht dumm. Man hatte ihr eine zweite Chance gegeben, um aus ihrem Leben etwas zu machen, und sie würde diese Chance nicht verspielen. Es würde nicht wie beim letzten Mal ablaufen, damals hatte sie England als die Gesellschaftsdame Lady Lettices verlassen. Sie war blauäugig und voller Enthusiasmus in dieses Abenteuer gestartet, denn die Vorstellung, fremde Länder und historische Stätten zu besuchen, gefiel ihr. Stattdessen aber hatte sie sich in einem Hotelzimmer nach dem nächsten wiedergefunden, wo sie ängstlich die Rückkehr von Lady Lettice erwartete.

Emma konnte Lady Fanchere ohne Fehl und Tadel dienen, das wusste sie ganz genau! Daher stieg sie aus dem Bett und schaute sich um.

Der Morgen war schon weit fortgeschritten. Die Sonne schien, und heute sah sie, was gestern ihrer Aufmerksamkeit entgangen war.

Für die Kammer einer Dienerin war der Raum recht groß und geschmackvoll eingerichtet. Sie fragte sich, ob sie nun, da sie sich erholt hatte, den Raum mit anderen Dienerinnen teilen würde. Emma trat ans Fenster und blickte auf die sanften Gärten und Rasenflächen, die sich hinter dem Anwesen bis zu einer Klippe erstreckten. Ganz weit hinten auf der Klippe, stand ein kleines altes Schloss – der Witwensitz, in dem Michael Durant gefangen gehalten wurde. Die Steine wirkten kalt, aber Emma hatte keinen Zweifel, dass Lady Fanchere für seinen Komfort sorgte.

Saubere Kleidung hing in dem schmalen Schrank in der Zimmerecke: Unterwäsche, Unterröcke und ein hübsches blaues Baumwollkleid. Auf dem Boden stand ein Paar einfache schwarze Lederschuhe. Sie kleidete sich rasch an und befestigte den weißen, gesteiften Kragen und die Manschetten. Um die Taille war das Kleid etwas zu groß, der Saum war etwas zu kurz. Doch der Stoff war von guter Qualität, und ein Blick in den kleinen Spiegel über der Kommode verriet ihr, dass die Farbe ihrer Haut schmeichelte. Bis auf die Abschürfung an ihrem Kinn schimmerte ihre Haut wie Alabaster, der von innen heraus leuchtete.

Sie richtete sich abrupt auf. Es gab keinen Grund, verzweifelt zu sein. Sie war schon immer recht dünn gewesen, und ihr Aufenthalt in Europa hatte sie noch mehr Gewicht verlieren lassen. Ihr Haar war von einem so intensiven Braun, dass es fast schwarz wirkte und sich außergewöhnlich von der blassen Haut abhob. Das Gesicht war oval, und sie hatte einen spitzen Haaransatz mittig über der Stirn und zudem ein Kinn, das spitz zulief wie das einer Hexe, wie Lady Lettice gern behauptete. Lady Lettice sagte zudem, sie habe die bedauernswerte Angewohnheit, dass man ihre Gefühle in der Farbe ihrer Augen widergespiegelt sah – und diese Gefühle waren Lady Lettice gegenüber nicht sonderlich schmeichelhaft. Dafür hatte sie Emma bezahlen lassen, und zwar mehr als einmal.

Ein Tablett mit ein paar Scheiben Brot, Käse und Obst hatte man für sie auf die Kommode gestellt, und sie aß rasch ein sättigendes Mahl. Dann schritt sie entschlossen zur Tür und öffnete sie. Dahinter fand sie eine Treppenflucht, die ins erste Obergeschoss führte. Sie stand verunsichert am Fuß der Treppe, weil sie nicht wusste, ob sie sich nach rechts oder links wenden sollte. Ein würdevoller Gentleman kam in diesem Moment um die Ecke gebogen.

Auf den zweiten Blick erkannte sie ihren Irrtum. Es handelte sich nicht um einen Gentleman, sondern um den Butler, der in einen förmlichen schwarzen Anzug mit weißem Hemd gekleidet war. Er war mittleren Alters, groß und kräftig. Seine Haltung war so würdevoll, dass sie ihn als Engländer identifizierte, bevor er den Mund aufmachte.

»Miss Chegwidden, nehme ich an.« Er verbeugte sich. »Ich bin Brimley. Ihr sucht nach Lady Fanchere?«

Sie machte einen Knicks. »Freut mich sehr, Euch kennenzulernen, Mr Brimley. Wenn Ihr mir die Richtung zeigt, wäre das äußerst hilfreich.«

»Folgt mir einfach. Unterwegs kann ich Euch über die Mitglieder dieses Haushalts in Kenntnis setzen.«

»Vielen Dank.« Er wollte sie an den ihr zugedachten Platz stellen und ihr einschärfen, wohin sie gehörte. Das machte ihr nichts aus. Als Lady Fancheres Gesellschafterin war sie von heute auf morgen ein wichtiges Rädchen im Hause Fanchere geworden, und er war als Butler dafür verantwortlich, dass die Maschine weiterhin wie geölt lief.

Er führte sie durch einen anderen Korridor, von dem mehrere Türen abgingen, und erklärte: »Wir beide sind die einzigen Engländer in diesem Haushalt. Seid Ihr mit Moricadia bereits vertraut?«

»Ich fürchte nicht. Ich bin erst vor knapp einer Woche mit Lady Lettice hier eingetroffen, und wie Ihr vielleicht schon gehört haben, hat dieses Beschäftigungsverhältnis unter keinem guten Stern gestanden.« Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und erwartete, dass Brimley ihr gleich eine Standpauke hielt und sie scharf darauf hinwies, dass Vorfälle dieser Art hinkünftig unter allen Umständen zu vermeiden seien.

Aber er hatte andere Informationen, die zu teilen ihm wichtig war. »Ich bin seit etwas mehr als drei Jahren Teil dieses Haushalts, und die Dinge, die ein moricadisches Haus von einem englischen unterscheiden, sind gleichermaßen mysteriös und faszinierend. Wie Ihr wisst, ist das Land ein französisches Protektorat. Es ist in seiner Isolation einmalig, die Strukturen kann man fast noch feudal nennen. Unglücklicherweise haben die de Guignards den früheren König von Moricadia aus dem Weg geräumt, indem sie ihn gehängt haben. Sie hängen sehr gerne irgendwelche Leute. Die Familie de Guignard wird von Fürst Sandre angeführt, der dieses Land im Laufe der Jahre in einen weithin beliebten Ort für die Reichen und Adeligen verwandelt hat. Die armen Leute sind hier sehr arm; die Reichen hingegen sehr reich. Kein Moricadier besitzt ein Geschäft oder ist Kaufmann. Alle Möglichkeiten, Geld zu verdienen, werden von den de Guignards kontrolliert und vergeben, und sie regieren mit eiserner Hand. Ich kann mich natürlich nicht an die genauen Umstände der Französischen Revolution erinnern, als man den dortigen König enthauptete. Aber ich glaube, dass die de Guignards es geschafft haben, eine ähnliche Situation zu erschaffen wie jene in Frankreich vor der Revolution. Es gibt keine Adeligen mit Ausnahme der de Guignards und ihrer Verwandten. Es gibt kein Parlament. Hier hat es ganz den Anschein, als gebe es keine Fortschritte mehr für die Gesellschaft.«

»Das ist eine harte Einschätzung.«

»Sie entspricht den Tatsachen. Während meiner Anstellung hier habe ich hin und wieder versucht, das Vertrauen der Angestellten zu erwerben, die mit mir zusammenarbeiten. Die Moricadier sind jedoch in Clans organisiert, und sie sind sehr misstrauisch. Wenn man bedenkt, wie oft sie in der Vergangenheit betrogen wurden und wie grausam die Strafe ist, die jedem Einzelnen droht, der vermeintlich die Gesetze der de Guignards verletzt, ist dieses Misstrauen vermutlich gerechtfertigt.« Er schritt voran und steuerte ein funkelndes Licht am Ende des Korridors an.

Emma folgte ihm auf die Galerie, von der aus sie die große Eingangshalle überblickte. Sie hielt vor Ehrfurcht und Überraschung die Luft an.

Der Marmorboden lag im Stockwerk darunter. Es war ein faszinierendes Mosaik aus pfirsichhellen, grauen und schwarzen Platten. Die Decke spannte sich hoch wie eine Kathedrale bis zum zweiten Stockwerk und wurde von Pfeilern aus weißem Marmor gestützt, die am oberen Ende mit goldenen Kreuzblumen verziert waren. Ein Kristallleuchter funkelte. Die Doppeltür nach draußen war hoch und mit Bronze überzogen. Die facettenreichen Fenster gingen nach Süden und boten einen Blick über die hügelige Rasenfläche und sauber gepflegte Gartenanlage. Dahinter öffnete sich der Blick zu dem langen Tal, durch das ein wilder Fluss strömte und in dem die Hauptstadt Moricadias im Schatten der Pyrenäen hockte.

Das Haus war so unbeschreiblich grandios, dass es ihre Vorstellungskraft überstieg. Der Ausblick war großartig, überwältigend und atemberaubend. Sie drehte sich mit großen Augen zu Mr Brimley um.

»Ja, es ist großartig.« Er senkte die Stimme. »Aber was ich Euch sagen wollte, Miss Chegwidden, ist Folgendes: Obwohl wir das Leben Privilegierter in einer grandiosen Kulisse führen, sitzen wir auf einem Pulverfass, das jeden Augenblick in die Luft gehen könnte.«