42

Dodd.eps

Der Soldat schubste Emma in Fürst Sandres Arbeitszimmer.

Sie wusste, sie würde es später bereuen, der kurze Blick in Sandres Gesicht, als er sie erkannte, schenkte ihr eine tiefe Befriedigung, die mehr wert war als alles Gold in seinen Truhen.

Er stand langsam auf. »Was geht hier vor?« Er wandte sich an den Hauptmann der Wache. »Quico, was hast du getan?«

Mit rauer, tiefer Stimme erwiderte Quico: »Ich weiß nicht, ob sie der Schnitter ist, Eure Hoheit. Aber wir haben sie dabei erwischt, wie sie in seinem Kostüm ritt, und haben sie darum hergebracht.«

»Sie ist eine Dame!«, sagte Sandre.

Als er das sagte, musste sie an Aimée denken. Sie erinnerte sich an Elixabete. Sie erinnerte sich, wie sehr sie ihn verabscheute. Voller Wut stürzte Emma sich auf ihn. »Nein, ich bin der Schnitter! Und Ihr seid ein mordender Verrückter!«

Quico packte ihre Arme und riss sie zurück.

»Ich bin der Schnitter!«, schrie sie und kämpfte gegen seinen eisernen Griff an. »Und jeder wird erfahren, dass Ihr einen Mann gejagt habt, obwohl Euch die ganze Zeit bloß eine Frau zum Narren gehalten hat!«

Sandre war im ersten Moment sichtlich überrascht gewesen, und er war immer noch bemüht, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Das ist unmöglich. Ihr wart doch gar nicht im Lande, als die nächtlichen Ausflüge des Schnitters begannen.«

»Ich habe mich damals versteckt und ritt jedes Mal von meiner geheimen Höhle aus.«

»Und wo ist diese geheime Höhle?« Er beschwatzte sie, als sei sie eine störrische Zweijährige.

»Unter dem Grab König Reynaldos.« Sie hasste ihn. Hasste ihn mit der ganzen Kraft ihrer verzehrenden Qual.

»Was wollt Ihr mit ihr machen, Euer Hoheit?« Quico schubste sie zu zweien seiner Männer.

Die Männer packten ihre Arme.

Sie wehrte sich gegen den Griff.

»Lasst sie los.«

Die Männer ließen von ihr ab.

Sandre kam auf sie zu. »Nun, Miss Chegwidden. Das Beste wird sein, wenn wir uns einfach hinsetzen und wie vernünftige Leute miteinander reden.«

Sie stürzte sich auf ihn, die Finger zu Krallen gekrümmt, mit denen sie ihm die Augen auskratzen wollte.

Sandre drehte den Kopf in letzter Sekunde weg. Er stolperte rückwärts. Von seinem Ohr tropfte Blut.

Das war sogar noch besser, als nachts im Kostüm des Schnitters über Land zu reiten.

Die Wachen rissen sie zurück, ehe sie nachsetzen konnte.

Sandre stürmte vor und versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass ihr Kopf zur Seite ruckte und ihr Hals schmerzte. Nur die Männer, die ihre Arme hielten, bewahrten sie davor, zu Boden zu stürzen.

»Es tut mir wirklich leid, dass Ihr mich dazu gezwungen habt«, erklärte er.

»Ich habe Euch zu gar nichts gezwungen. Ihr liebt es einfach, Menschen wehzutun.« Einen Moment lang erinnerte sie sich wieder daran, wie er Aimée wehgetan hatte, und die Tränen drohten, sie zu übermannen.

Doch dann sagte er: »Ihr werdet mir gefälligst mit Respekt begegnen!«

Ihr Zorn verdrängte die Tränen. »Ihr seid ein Mörder. Ein Totschläger! Niemand respektiert Euch. Ihr solltet für Gerechtigkeit stehen. Stattdessen ermordet Ihr Menschen, weil sie die Wahrheit sagen.« Sie wehrte sich gegen den Griff der Wachen. Sie wünschte sich nichts mehr, als ihn erneut anzugreifen. »Ihr seid eine Farce.«

Seine Wachen wurden unruhig.

Er hob erneut die Hand.

Sie wappnete sich für seinen Schlag.

Er stand erstarrt da. Dann senkte er kontrolliert die Hand. »Sagt mir, wer der wahre Schnitter ist, dann muss es zu keinen Unannehmlichkeiten mehr kommen.«

»Das habe ich Euch bereits gesagt. Ich bin der Schnitter.« Offensichtlich glaubte er ihr nicht. Aber das schenkte ihr eine wilde Befriedigung. »Ich bin der Schnitter, und ich werde für Aimées Tod Vergeltung üben.«

»Vielleicht wird eine Nacht im Kerker Euer Mütchen kühlen und Euch wieder daran erinnern, wie sich eine künftige Fürstin zu verhalten hat.«

Eine künftige Fürstin? Was musste sie denn tun, um diesen Kerl abzuschrecken? Abweisend erklärte sie: »Ich werde Euch niemals heiraten!«

»Wir werden sehen.« Das Blut, das aus seinem Ohr floss, lag hellrot auf Sandres Hals, er musterte sie prüfend, als müsse er ihre Reaktion abschätzen.

»Ihr würdet mich doch niemals heiraten wollen. Ich bin nicht anständig. Ich bin kein braves Frauchen. Das wollt Ihr doch in Wahrheit.«

»Ihr habt keine Ahnung, was ich will.«

»Doch, das weiß ich. Ihr wollt eine junge Frau aus einem anderen Land, die keine Familie hat, die sie beschützt. Ihr wollt diese Frau missbrauchen, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. Ihr wollt sie betrügen und zwingen, zu tun, was Ihr von ihr verlangt. Und diese Frau soll wissen, dass sie sich nicht wehren kann.« Leiser fügte sie hinzu: »Und wenn Ihr mit dieser Frau fertig seid, könnt Ihr mit ihr ebenso verfahren wie mit Aimée. Niemand wird es bemerken oder sich um ihr Schicksal scheren.«

Sandre hob die Brauen, als überraschte ihn der Gedanke.

Emmas Mut sank. Sie erkannte, dass sie noch immer seine ideale Ehefrau war. »Aimée hat mich vor Euch gewarnt«, schloss sie.

Sandres gespielte Überraschung schwand und machte einem Zorn Platz, der nur allzu leicht geweckt wurde. »Bringt sie nach unten.«

Sie ging zwischen Quico und einem anderen der Wachleute ins Erdgeschoss. Sie durchquerten einen Steinbogen, danach ging es eine düstere Treppe hinunter, die nur von Fackeln an den Wänden beleuchtet wurde.

Ein kleiner, fetter Mann saß am Ende der Stufen auf einem Stuhl und pfiff unmelodisch vor sich hin. Als er sie sah, grinste er. In seinem Mund waren nur schwarze Stümpfe. Er begann, sie unter dem Kinn zu tätscheln, doch als er den Fürsten entdeckte, der hinter der kleinen, ergrimmten Gruppe Wachen die Treppe herunterkam, nahm er Haltung an.

Der Fürst hielt einen großen, schwarzen Eisenring mit zwei Schlüsseln hoch. »Gotzon, diese Gefangene gehört mir.«

Gotzons Miene verfinsterte sich, doch er nickte. Sobald der Fürst an ihm vorbei war, begann er wieder zu pfeifen.

Sie stiegen eine weitere Treppe hinunter. Die Fackeln waren hier weiter auseinander, und als sie das untere Ende der Treppe erreichten, nahm Fürst Sandre die letzte Fackel aus der Halterung. »Wir verschwenden kein Licht an unsere Gefangenen«, erklärte er und ging den Gang entlang voran.

Sie stolperte über den unebenen Steinboden, und sie schaute verstohlen in die Zellen, an denen sie vorbeikamen. Die Gitterstäbe waren dick, schwarz und glänzend, als sorgte jemand jede Woche dafür, dass sie gut in Schuss waren.

Fürst Sandre blieb vor einer Tür stehen und stieß sie mit dem Fuß auf. »Dies ist eine ganz besondere Zelle. Wir heben sie uns für die wichtigsten Besucher auf. Man erzählt sich, König Reynaldo höchstpersönlich habe die letzten Tage seines Lebens hier verbracht. Wie Ihr seht«, er wedelte mit der Fackel im Innern der Zelle herum, »ist sie recht luxuriös. Es gibt sogar eine Liege. Die meisten Zellen haben nicht so viel Komfort.«

»Es ist ein dreckiges Loch.« Nie war ihr etwas so ernst gewesen.

»Dann solltet Ihr einmal sehen, was weiter unten noch auf Euch wartet. Aber vielleicht habt Ihr ja Eure Meinung schon geändert und möchtet gerne mit mir zusammen zurück nach oben?«

Sie schüttelte die Wachen ab und betrat die Zelle.

Sandre nickte, als überraschte ihn das nicht.

Die Wachen schlossen die Tür hinter ihr.

Er trat an die Tür und verriegelte sie. Er sprach weiterhin in diesem entsetzlichen Plauderton und erklärte: »Das Beste ist: Ich habe den einzigen Schlüssel zu dieser Zelle. Aber, ach! Ihr verabscheut mich ja. Vielleicht ist es Euch lieber, in eine Zelle gesteckt zu werden, die Gotzon kontrolliert?«

Bittere Galle stieg in ihren Mund auf. »Nein.«

»Seht Ihr, ich bin gar nicht so schlimm, wie Ihr behauptet. Jetzt solltet Ihr Euch lieber aufs Bett setzen. Hier unten ist es ziemlich dunkel, wenn das Licht erst fort ist.« Sandre wandte sich ab und klopfte Quico auf die Schulter. »Wie geht es deiner Frau?«, fragte er. »Hat sie sich von der Schusswunde gut erholt? Ohne ihre fleißigen Hände ist es in meinem Arbeitszimmer recht staubig.«

Als sie gingen, blieben die Wachen hinter dem Fürsten, und Emma sah, wie mancher mitfühlend zu ihr zurückblickte.

Alle schauten mitleidig. Außer Quico. Als er sich umdrehte, warf er ihr einen so verachtenden Blick zu, dass sie vor ihm zurückschrak.

Ehe das Licht verschwand, eilte sie zum Bett und sank auf die Matratze.

In der kalten Feuchte des Kerkers spürte sie die Prellungen, die sie sich beim Sturz von Old Nelsons Rücken zugezogen hatte. Sie hatte es irgendwie geschafft, die Arme vors Gesicht zu heben, um es zu schützen, aber nichts hatte ihre Arme geschützt, die sich jetzt wie ein einziger großer Bluterguss anfühlten. Ihr Knie schmerzte, als habe sie es sich durch das Kostüm aufgerissen. Und sie glaubte, sie habe sich auch die Hüfte geprellt, denn die schmerzte wie verrückt.

Die Pritsche war schmal, die Decke darauf dünn. Die Dunkelheit um sie war so absolut, dass sie nichts sehen konnte, dafür hörte sie umso besser. Die Ratten, die über den Boden trappelten. Das tropfende Wasser, das an den Wänden herabfloss. Weiter oben hörte sie das Pfeifen des Wachmanns.

Ihr Magen knurrte, weil sie nur heute Früh eine leichte Mahlzeit zu sich genommen hatte. Aber eigentlich hatte sie keinen Hunger, denn ganz in der Nähe war jemand gestorben und verrottete. Der Gestank war schier unerträglich.

Michael hatte hier unten zwei Jahre lang überlebt.

Wo war er jetzt? Wie lange würde es dauern, ehe er kam und sie rettete?

Am nächsten Tag – sie glaubte zumindest, es sei der nächste Tag – kündigte das Licht einer Fackel die Ankunft von Fürst Sandre an.

Er kam nicht allein. Fürst Sandre hatte seinen Cousin Jean-Pierre mitgebracht. »Seid Ihr jetzt bereit, Euch daran zu erinnern, was Ihr mir schuldet?«, fragte Sandre.

Sie klammerte sich an das kalte Metallrohr, aus dem ihre Pritsche geschmiedet war. »Ich schulde Euch den Tod.«

Er schloss die Tür auf. »Kommt heraus«, befahl er.

»Ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich bleibe lieber hier unten, als mit Euch zu kommen.«

Jean-Pierre kam in die Zelle, packte ihren geschundenen Arm und zerrte sie durch die Tür. »So redest du gefälligst nicht mit deinem Fürsten.«

Sie rammte ihm den Ellbogen in die Seite. »Er ist nicht mein Fürst. Ich bin Engländerin. Königin Victoria ist meine Fürstin, und sie ist keine eiskalte Mörderin.«

Fürst Sandre packte ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. »Seid Ihr hungrig? Oben habe ich etwas zu essen für Euch. Wenn Ihr Euch benehmt.«

»Was habt Ihr mit mir vor? Wollt Ihr mich hungern lassen, bis ich gefügig werde?« Da sie schon lange nichts gegessen hatte, drängte sich ihr der Gedanke auf, dass diese Strategie gar nicht so dumm war.

»Hungern ist so ein hartes Wort«, erwiderte Sandre freundlich. »Aber ich weiß, wie man gutes Essen als Anreiz einsetzen kann, damit sich jemand gut benimmt.«

Sie spuckte ihm ins Gesicht.

Auf der Stelle war sie zurück in der Zelle und allein. Aber dieses Mal hatten sie ihren Arm an die Wand gekettet.

Als das Licht das nächste Mal am Ende des Korridors auftauchte, verstand sie jedenfalls, was Sandre damit meinte, dass man Essen als Anreiz für gutes Benehmen einsetzen konnte. Sie hatte zuletzt Wasser von den schleimigen Wänden geleckt und war so hungrig, dass ihre Beine unter ihr nachgaben, als Jean-Pierre zu ihr in die Zelle kam. Ihr Arm hing schlaff an ihrem Körper und war kalt und gefühllos. Er musste sie über die Schulter werfen und durch den Gang tragen.

Sie glaubte zu sehen, wie Sandre grinste.

Jean-Pierre trug sie den ganzen Weg hinauf in die privaten Gemächer des Fürsten und setzte sie auf einen Stuhl vor einem Tisch, auf dem Brot und Käse standen.

Aber als sie danach greifen wollte, schlug Sandre ihr auf die Hand. »Ich füttere Euch«, sagte er. Und genau das tat er.

Sie ließ es zu, weil ihre Hände so sehr zitterten, dass sie nicht wusste, ob sie das Essen an den Mund führen konnte. Obwohl die Versuchung groß war, biss sie ihn nicht in die Hand.

Sie hatte nur ein paar Happen bekommen, ehe er die Hand zurückzog. »Das ist genug.«

Sie funkelte ihn wütend an wie ein wildes Tier, das vermutlich inzwischen aus ihr geworden war.

»Geht Euch umziehen«, befahl er ihr. »Ihr stinkt, und ich habe keine Lust, Euch noch länger in diesem albernen Kostüm zu sehen.«

Sie schaute an den verdreckten, feuchten Überresten vom Kostüm des Schnitters herunter. »Für den Kerker ist es meiner Ansicht nach ein angemessenes Kostüm.«

Sandre beugte sich zu ihr herüber und lächelte. »Ihr müsst aber gar nicht im Kerker bleiben.«

Wenn sie die Wahrheit nicht gekannt hätte, hätte sie durchaus den freundlichen und weltgewandten Fürsten gesehen, den er ihr zeigte. »Doch, das werde ich.«

Er richtete sich auf. »Ihr könnt Euch umziehen oder mich das machen lassen. Aber Ihr werdet auf der Stelle etwas anlegen, das einer anständigen Frau angemessen ist.« Er zeigte auf einen Wandschirm in der Zimmerecke. »Ihr findet die Sachen dahinten.«

Sie stand auf.

Jean-Pierre mischte sich ein. »Zunächst jedoch …«

Er bedeutete ihr, ihm die nackten Schultern zu zeigen.

Sie weigerte sich.

Also rissen die beiden Männer sie zu Boden, ohne sich um ihre Prellungen und Schürfwunden zu kümmern. Sie glühte vor Scham, denn Sandre hielt ihr Gesicht in den bunten Teppich gedrückt, während Jean-Pierre ihre Haut untersuchte.

»Gut möglich, dass sie ein Schnitter ist. Aber sie ist nicht der Schnitter.« Jean-Pierre klopfte zufrieden seine Finger an der Hose ab. »Sie weiß vermutlich, wer er ist. Mit Eurer Erlaubnis könnte ich die Information aus ihr herausholen, Hoheit.«

»Nein. Keine Folter. Das ist nicht notwendig.« Sandre strich ihr die Haare vom Hals – seine verdrehte Vorstellung von einer liebevollen Geste. Dann half er ihr vom Fußboden auf.

Emma drückte ihr Kostüm vor die Brust und stürzte hinter den Wandschirm. Seine Berührung bereitete ihr Übelkeit.

»Dort stehen auch einen Kamm, eine Schüssel mit Wasser und Handtücher bereit«, rief er. »Benutzt diese Sachen, bevor Ihr Euch wieder anzieht.«

Ein dicker Unterrock, ein Unterhemd aus feinem Stoff und ein Kleid aus ordentlicher, dunkelblauer Wolle warteten auf sie. Diese Sachen wären ihr im Kerker nützlich. Das bedeutete wohl, dass Sandre von ihr erwartete, dass sie sich noch immer nicht geschlagen gab.

Er war ein Tyrann, der alle Trümpfe in seinen grausamen, mit Juwelenringen besetzten Händen hielt. Und er genoss ihren Überlebenskampf und den Fall, mit dem er fest rechnete, viel zu sehr.

Was käme am Schluss auf sie zu? Sie würde fluchen und sich gegen das Unvermeidbare wehren. Aber letzten Endes würde er obsiegen. Sie würde ihn heiraten, und die Jahre, die dann folgten, wären eine einzige Katastrophe. Sie würde in seinem Bett zittern. Sie würde sich unter seiner Knute ducken. Sie würde wissen, dass er sein Geld mit den verabscheuungswürdigen Zockern verdiente, dass er unschuldige Menschen folterte und tötete. Und sie hätte keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Bis schließlich ihr eigenes Selbst einfach entschwinden würde und sie sich umbringen würde.

Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand.

Sich selbst umbringen? Nein, das war unwahrscheinlich. Er würde sie ermorden.

Sie hatte sich das selbst zuzuschreiben. Sie hatte gehört, dass Aimée ermordet worden war, und hatte daraufhin die Beherrschung verloren. Sie war spontan und unbeherrscht losgeritten und war von der Wache des Fürsten festgenommen worden.

Sie wünschte, sie könnte Michael sagen, wie sehr ihr das leidtat. Was für eine Närrin sie war. Sie hatte sich in diese Klemme gebracht, und dieses Wissen war mit das Schlimmste an ihrer Situation. Aber jede Minute, die sie da unten im Kerker verbrachte, betete sie, dass irgendjemand – sei es Michael, Raul Lawrence oder sie selbst – Vergeltung dafür übte, dass Sandre Aimée ermordet hatte.

Sie wollte sehen, wie Sandre im Fegefeuer brannte.

»Miss Chegwidden? Seid Ihr so weit?«, rief der Fürst.

Sie war so bereit wie sie nur sein konnte. Sie trat hinter dem Wandschirm hervor und wusste, jetzt war sie wieder mehr sie selbst, ihre Haltung war trotzig und stolz. Ihr Blick jedoch ruhte auf dem Tisch, wo die Speisen noch immer einladend aufgereiht standen.

Sandre hatte für sie den Stuhl vom Tisch abgerückt. »Setzt Euch und esst, Miss Chegwidden. Ich werde Euch derweil unseren Plan erläutern.«

Sie zögerte nicht, sondern setzte sich.

Trotzdem verzog sie das Gesicht, als er seine Hände auf ihre Schultern legte. Doch dann hielt sie einfach still und ertrug seine Berührung reglos und abweisend.

Er drückte die Finger tief in ihre Haut und grub sie bis tief in die Muskeln. Als sie sich endlich unter ihm wand, lachte er und ließ sie los. »Erläutere ihr unseren Plan, Jean-Pierre.«

»Ihr wisst ja, wer der Schnitter ist, Miss Chegwidden«, begann Jean-Pierre.

»Ja, das weiß ich.« Sie aß eine Weintraube, dann noch eine. Schließlich trank sie ein Glas Wasser und nippte am Wein. Erst dann blickte sie auf und bemerkte die beiden Männer, die gespannt auf ihre nächsten Worte warteten. »Ich bin der Schnitter.«

Sie erwartete, jetzt würden sie ihr sofort das Essen fortnehmen, aber Jean-Pierre wandte sich nur empört ab. Sandre hingegen lächelte zufrieden.

»Ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht gleich nachgeben wird, Jean-Pierre.« Sandre schob das Brot näher zu ihrem Ellbogen. »Wir beobachten natürlich Eure Freunde. Brimley ist eine Möglichkeit, glauben wir. Ebenso dieser Diener Henrique. Jean-Pierre hingegen vermutet, es müsse Fanchere sein, was ich allerdings absolut lächerlich finde. Er denkt auch, es könnte genauso gut Michael Durant sein. Das ist eine Option, aber keine besonders wahrscheinliche. Ich sage immer noch, er ist ein gebrochener Mann, der sich zu sehr schämt, um auch nur seinem Vater zu schreiben, damit dieser ihn nach Hause holt.«

Sie aß ein Eckchen Brie und trank Wasser.

»Wer es auch sein mag«, fuhr Sandre fort, »er wird beunruhigt sein, weil wir Euch gefangen genommen haben.«

»Was ist mit Lady Fanchere?« Emma fragte sich, was ihre gütige Herrin ohne Aimée und Emma wohl tat. »Ist sie nicht beunruhigt?«

»Es geht ihr nicht gut«, sagte Jean-Pierre.

Emma ließ die Weintrauben auf den Teller sinken. Einzelne Trauben rollten über den Tisch und fielen auf den Boden, aber das bemerkte sie gar nicht. »Ist es wegen des Babys?«

»Das hat man uns gesagt.« Jean-Pierre wirkte irgendwie anders als bei seinem Besuch im Haus der Fancheres. Seine blassen Augen waren noch heller. Es sah fast so aus, als sei seine Seele aus ihnen entwichen, und zurückgeblieben waren nur die Bruchstücke eines Mannes.

»Wenn Ihr ein braves Mädchen wärt, könntet Ihr Eleonore jetzt helfen«, erklärte Sandre ihr.

»Wenn Ihr Aimée nicht ermordet hättet, wäre sie nicht krank vor Kummer«, erwiderte Emma.

Sandre packte ihren Zopf und riss ihren Kopf nach hinten. »Miss Chegwidden, ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr Ärger sucht.«

»Nein, ich suche keinen Ärger. Ich will Gerechtigkeit.«

»Nimm ihr das Essen weg«, schlug Jean-Pierre vor.

Sie stopfte das restliche Brot hastig in die Tasche.

Sandre gab ihr einen Apfel. »Hört mir gut zu. Jean-Pierre und ich haben aller Welt erzählt, dass wir Euch im Kostüm des Schnitters aufgegriffen haben. Wir haben angekündigt, dass wir Euch am Sonntag aufhängen.«

Ein eiskalter Schauer lief an ihrem Rückgrat hinauf.

»Wir werden Euch natürlich nicht wirklich am Sonntag aufhängen«, versicherte Sandre ihr.

»Werden wir nicht?« Jean-Pierre nahm sich ebenfalls einen Apfel und biss lautstark hinein.

»Nein, werden wir nicht. Sei doch nicht so unzivilisiert, Jean-Pierre«, tadelte Sandre ihn. An Emma gewandt fuhr er fort: »Ihr seid unser Köder. Wir glauben nämlich, der wahre Schnitter wird versuchen, Euch zu retten. Dann schnappen wir ihn uns endlich. So einfach ist das!«

»Es ist einfach«, räumte sie ein. »Aber es wird nicht klappen. Es gibt nämlich niemanden, der mir zur Hilfe eilt. Ich bin der Schnitter.«

»Habt Ihr schon einmal bei einer Hinrichtung zugesehen, Miss Chegwidden?«, fragte Sandre im Plauderton. »Das ist sehr unterhaltsam. Wenn man es richtig anstellt, dauert es Stunden.«

»Vielen Dank, dass Ihr mich das wissen lasst.« Ihr Herz schlug ganz langsam und fühlte sich eisig an von dem Blut, das ihr in den Adern gefror.

»Eigentlich müssen wir Euch gar nicht hängen. Es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Sandre klang wirklich bezaubernd.

Sie wollte sich am liebsten die Finger in die Ohren stecken.

»Ihr könnt mich stattdessen am Sonntag heiraten.«

»Euch heiraten? Einen eiskalten Mörder, der seine eigene Familie umbringen lässt? Der eine liebe, herzensgute Frau tötet, deren einzige Sünde ihre Dummheit war? Nein. Nein! Glaubt mir, Sandre: Ich bin vielleicht nur eine bezahlte Gesellschaftsdame. Aber niemals würde ich so tief sinken und Euch heiraten.«

Als sie im Kerker zurück war, wo sie ihr dieses Mal beide Hände an die Wand ketteten, wünschte sie, das alles ließe sich irgendwie beschleunigen. Sie wusste, irgendwann würde es Sandre ermüden, ihren Trotz weiter mit anzusehen. Sie wusste, er würde dann das mit ihr tun, was er bereits mit Aimée getan hatte, dann würde man ihren Leichnam zerschmettert unterhalb der Palastterrasse finden.

Je schneller es dazu kam, desto besser – denn wie Sandre und Jean-Pierre wusste auch sie, dass der Schnitter versuchen würde, sie zu retten. Er würde den fürstlichen Palast und Fürst Sandre angreifen – aber er konnte unmöglich gewinnen.

Durant war dieser Hölle schon einmal entkommen. Unter keinen Umständen wollte sie, dass er hierher zurückkehrte.

Denn beim nächsten Mal würde er hier nicht lebend herauskommen.