24
Der Schnitter schlüpfte durch die Tür zum angrenzenden Salon in das Schlafgemach von Emma und bewegte sich lautlos bis zur Mitte des Raums.
Sie saß vor dem offenen Kaminfeuer und hatte sich in ihr liebstes altes Schultertuch gewickelt. Sie beugte sich vor, um die Hitze der Flammen zu spüren, während sie mit dem Kamm durch ihr langes dunkles Haar fuhr. Der Anblick ihrer nachdenklichen Silhouette ließ sein Herz schmelzen. Im Gegenlicht des goldenen Feuers konnte er durch den durchsichtigen Stoff ihres Nachthemds die Konturen ihrer langen, schlanken Beine sehen.
Sie legte den Kamm beiseite. Nahm einen Schluck Wein und aß eine Handvoll Trauben. Das Tuch rutschte von einer Schulter, und er sah, dass sie ein neues Nachthemd mit Spitzenbändchen und einem mit Spitze besetzten Mieder trug. Als müsste ihre Schönheit noch unterstrichen werden …
Ihm entwich unwillkürlich ein rauer Laut.
Sie drehte sich um und entdeckte ihn. Er trug wieder sein Kostüm aus Lumpen und einem zerfetzten Leichentuch. War mit Maske und weißer Schminke angetan.
Sie straffte sich langsam. In den vorangegangenen Nächten hatte sein Auftauchen ihr Freude bereitet. Heute Abend nicht. Sie wirkte verunsichert und beeilte sich, ihm zu erklären, was passiert war. »Wir mussten plötzlich aufbrechen. Ich habe es nicht gewagt, dir eine Nachricht zu hinterlassen, und ich hatte Angst, du könntest mich nicht finden. Ich wollte nicht, dass du glaubst, ich … Also, dass ich dir aus dem Weg gehe.«
Er wünschte, er hätte das gedacht. Er wünschte, sie wäre nicht so ehrenhaft und nicht so wild entschlossen, das zu tun, von dem sie glaubte, es sei richtig.
Er wünschte auch, sie nicht so sehr zu begehren. Er wünschte … Ja, er wünschte, einer von ihnen könnte einfach verschwinden. Stattdessen trafen sie sich im Geheimen. Sie fühlten sich von einem gemeinsamen Verlangen zueinander hingezogen.
Er trat zu ihr und stand direkt hinter ihr. Er nahm ihr den Kamm ab und fuhr damit durch ihre dunklen Haare. Er hob sie an und hielt sie, als wollte er Ebenholz verspinnen.
Draußen rückte das Gewitter unerbittlich näher. Blitze fuhren heiß und grell in die Erde, entzündeten Bäume, und der Sturm ließ riesige Hagelkörner auf das Land niedergehen.
Sie seufzte und lehnte sich entspannt zurück, als würde seine liebevolle Fürsorge ihr Lust bereiten. »Als ich England verließ, reichten sie noch bis an die Hüften. Aber als ich erkannte, wie schwierig Lady Lettice war, habe ich das meiste abgeschnitten.« Die Haare reichten jetzt gerade noch über die Schulterblätter. »Lady Lettice meinte allerdings auch, es wäre nicht schade drum, sie haben ohnehin keine schöne Farbe.«
Er ließ den Kamm einfach auf den Boden fallen und stützte ein Knie neben sie auf die breite Sitzfläche. Er packte ihre Haare und drückte sie in beiden Fäusten zusammen wie ein Geizhals, der sein Gold an sich raffte. Dann zog er ihren Kopf an den Haaren sanft nach hinten und küsste sie. Er erkundete ihren Mund, und allein dieser Kuss schenkte ihm unbeschreibliche Lust.
Sie schmeckte nach Rotwein und reifen Früchten. Sie roch nach Lavendelseife und warmer Frau.
Gott, wie sehr er sie wollte. Ihm kam es vor, als habe er sie schon immer gewollt. Als habe er sein Leben lang auf sie gewartet. Auf diesen Moment, als sie einander das erste Mal begegnet waren und sich ineinander verliebt hatten. Auf den Moment, in dem er sie einfach in die Arme nahm und sie sein war.
Er fuhr mit einer Fingerspitze über den tiefen Ausschnitt ihres Hemds, von der Schulter nach unten. Dann berührte er ganz leicht die einzelnen Brustspitzen, die sich gegen die Spitze drückten. Er betrachtete die Röte, die in ihr aufstieg, und spürte das drängende Verlangen, das er nur mit Mühe bezähmen konnte. Sie liebte ihn. Es war leicht gewesen für sie, der Romantik zu verfallen, die von seinen Taten und seiner Maskerade ausging. Aber sie liebte eine Illusion, und bis er sich ihr endlich offenbaren durfte, musste er sich zurückhalten.
Sie legte den Kopf in den Nacken. Stumm lud sie ihn ein, sie mit den Lippen zu berühren und sich das zu nehmen, was bereits ihm gehörte.
Er musste schleunigst verschwinden, bevor er ihrem Zauber endgültig erlag.
Er drehte sich weg.
Sie stand auf und packte seinen Arm.
Er schaute sie an.
Sie warf das Haar mit einer ruckartigen Kopfbewegung aus dem Gesicht und starrte ihn wütend an. Eine Hand hielt seinen Arm gepackt, die andere hatte sie zur Faust erhoben. »Du hast mich geküsst. Mich gestreichelt. Aber für dich ist das alles nur ein Spiel. Du läufst immer weg, und du lässt mich jedes Mal frustriert zurück. Warum soll ich denken, dass es je anders wird?«
Er wollte antworten, doch er durfte sein Schweigen unter keinen Umständen brechen.
»Morgen Abend werde ich nicht hier sein.« Trotzig und verärgert reckte sie das Kinn.
Er wandte sich ihr wieder zu und hob beide Hände in einer fragenden Geste. Warum nicht?
Sie warf das Schultertuch ab. »Ich werde zum Ball des Fürsten gehen.«
Diese Stille, die ihm aufgezwungen war, trieb ihn noch in den Wahnsinn. Er wollte so gerne mit ihr reden. Wollte sie anflehen, nicht zu gehen. Wollte ihr verbieten, weiter diesen gefährlichen Kurs einzuschlagen. Aber er durfte es nicht.
Darum sprach sie weiter. »Das ist der Grund, warum wir aus Aguas de Dioses abgereist sind. Ich werde mit Lord und Lady Fanchere dorthin gehen. Der Fürst hat mich ausdrücklich eingeladen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du weißt, warum ich zum Ball gehe. Diese vergangene Woche … Jede Nacht mit dir war wunderschön. Aber jeden Morgen wache ich auf und bin gelähmt vor Angst, weil du angeschossen, gefangen genommen oder getötet sein könntest. Du … du trägst weiß. Weiß! Du könntest wenigstens eine schwarze Kapuze über deinem Kostüm tragen, wenn du in der Dunkelheit reitest. Die Menschen würden dich immer noch sehen und von dir hören. Sie würden sich noch immer fürchten. Sie würden noch immer weglaufen und so Fürst Sandre den Zugriff auf ihre Reichtümer verwehren. Aber nein! Du hörst mir ja nicht zu. Du musst ja unbedingt so sehr hervorstechen wie möglich. Du musst eine weithin sichtbare Zielscheibe abgeben. Ich kann das einfach nicht länger ertragen.« Ihre Finger krallten sich in seinen Arm. »Ich weiß, es gefällt dir nicht, aber ich werde den Fürsten ermutigen. Ich muss einfach wissen, wie sein Plan aussieht. Das ist die einzige Chance, die ich habe.«
Er packte ihre Schultern und schüttelte sie. Nein.
»Du kannst mich nicht aufhalten. Für mich existierst du nur nachts.« Sie forderte ihn heraus, wie sie es bisher noch nie getan hatte.
Er wusste, warum sie das tat. Er küsste sie. Liebkoste sie. Machte sie verrückt vor Verlangen. Und jede Nacht ließ er sie dann in ihrem Elend und mit der Sehnsucht allein. Sie liebte einen Mann, der nicht existierte und mit dem sie nie eine richtige Beziehung eingehen konnte. Den sie nie heiraten konnte, dessen Kinder sie nicht bekommen durfte … Er hatte ihr Hoffnung geschenkt, und zugleich hatte er sie jeder Hoffnung beraubt.
Darum sagte sie jetzt: »Ich werde morgen Abend mit dem Fürsten tanzen. Ich werde ihn anlächeln. Werde mit ihm trinken, und wenn er mich darum bittet, werde ich seine Tischdame sein und mit ihm speisen. Das werde ich für dich tun. Aber ich werde diesen Abend auch genießen.«
Seine Hände auf ihren Schultern zitterten, und er musste alle Kraft aufbieten, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
»Einige Leute glauben nämlich, dass Frauen wie ich alles für ein Leben in Wohlstand tun würden.« Ihre Stimme brach, und sie lachte bitter. »Vielleicht heirate ich den Fürsten ja. Dann wäre ich in Sicherheit.«
Nein. Nein, das darfst du nicht.
Selbst durch die Maske musste sie seine Qualen sehen, denn sie lächelte das grausame Lächeln einer Delilah.
Schließlich trieben Frust und Leidenschaft ihn doch in den Wahnsinn. Sein Widerstand brach. Er trat ans Bett, riss die Decken herunter und warf sie vor dem offenen Kamin auf den Boden. Er schob die dünnen Ärmel ihres Hemds über die Schultern. Das Hemd glitt nach unten. Sie stand nun vor ihm und trug nichts außer goldenen Feuerschein und ihrem Trotz.
Sie hatte während ihrer Arbeit für Lady Fanchere etwas an Gewicht zugelegt, und das war bitter nötig gewesen. Trotzdem war ihr Bauch noch flach und muskulös von der Arbeit, die sie so viele Jahre ausgeübt hatte. Ihre Taille war schmal, die Hüften einladend. Die Beine waren lang und schlank. Zwischen den Schenkeln beschützte ein kleiner, dunkler Busch aus Haaren ihre Scham.
Er hob sie hoch und legte sie auf den Boden. Sie lag auf der Masse aus Samt und Gänsedaunen, die er dort ausgebreitet hatte.
Sie sank in die weichen Decken. Ihre Haare umrahmten wild das Gesicht, und sie funkelte ihn an, als habe er etwas Falsches getan. »Willst du schon wieder mit mir spielen?«, fauchte sie.
Warte, bedeutete er ihr. Dann griff er unter sein Kostüm und löste die Schnüre, mit denen das Oberteil verschlossen war. Er schob es auf und warf das zerfetzte Leichentuch und die Fetzen ab.
Sie starrte auf seine nackte Brust, die von den Stunden unter der heißen Bergsonne gebräunt war. »Du bist wunderschön«, flüsterte sie.
Er hätte am liebsten laut gelacht. Es hatte viele Frauen in seinem Leben gegeben, erfahrene Frauen und Frauen, die ihm etwas beibrachten. Frauen, die von seinem erworbenen Wissen profitierten. Engländerinnen, Frauen vom Kontinent, Adelige und Bürgerliche. Keine von ihnen hatte ihn je als schön bezeichnet.
Aber unter Emmas andächtigem Blick fühlte er sich … schön. Stark.
Sie ließ ihn die Alpträume vergessen.
Er öffnete die Schnüre seiner Hose und entledigte sich des Kleidungsstücks. Schuhe und Socken folgten, und er stand nackt vor ihr. Bis auf das Tuch um seine Kehle, seine Kapuze, die Maske und die weiße Schminke, die sein Gesicht verbarg.
Er sank neben ihr auf die Knie.
Ihre Miene hatte sich verändert. Sie war nicht länger überheblich und wütend. Nein, jetzt blickte sie ihn neugierig und erstaunt an. Verängstigt, eifrig und ein bisschen misstrauisch.
Sie sah wie eine junge Frau aus, die ihrem ersten Liebhaber gegenüberstand und feststellte, dass die Realität anders aussah als das, was sie sich ausgemalt hatte.
Wenn er laut hätte lachen dürfen, hätte er das getan. Ihr überraschter Blick schmeichelte ihm und ließ ihn härter und größer werden. Der Druck seines Verlangens wurde übermächtig.
Er hatte ihre Brüste umschlossen. Hatte sie mit seinen Liebkosungen zum Orgasmus gebracht. Er kannte die Form und die Beschaffenheit ihrer wunderschönen Brüste. Doch sie jetzt zu sehen, ihre Fülle und Festigkeit und die Nippel, die sich ihm hart entgegenreckten …
War das die Kälte? Oder ihre Empfindlichkeit?
Er wusste es nicht. Und es interessierte ihn auch nicht. Er wusste nur, dass er sie streicheln wollte. Er wollte an ihnen saugen, bis Emma sich unter ihm verzweifelt wand und ihn anflehte, seinen Schwanz in sie hineinzuschieben.
Er beugte sich zu ihr herunter, schloss sie in die Arme und küsste sie. Wie früher schon war sie voller Sehnsucht nach ihm. Doch seine Schultern schienen eine unerträgliche Hitze auszustrahlen, denn sie berührte ihn so behutsam, als ob er so heiß wäre wie ein glühendes Eisen. Und als sie das Brandmal an seiner rechten Schulter fand, wurden ihre Augen groß. Sie erkundete die Stelle mit den Fingerspitzen. »Was ist das?«, fragte sie.
Er schaute beiseite.
Sie setzte sich auf und betrachtete eingehend das rote, erhabene Brandmal, das die Form eines Adlers hatte. »Ach, Schnitter.« Sie küsste die Narbe. Eine sanfte Liebkosung, die ihn heilte und zugleich mit ihren Lippen ein zweites Mal brandmarkte.
Er zog sie wieder zu sich herunter und drückte sich gegen ihre Brüste. Seine Brust glitt an ihr auf und ab. Sie erstarrte, schloss die Augen und atmete. Sie tat nichts, außer zu atmen.
Er hatte in der vergangenen Woche so viel über ihren Körper gelernt. Sie war empfindlich und erschrak leicht. Sie war voller Unschuld, doch zugleich besaß sie das instinktive Wissen, was ihm gefiel – und ihr.
Mit diesem Wissen bewaffnet machte er sich an die Arbeit.