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Dodd.eps

Jean-Pierre saß auf seinem Pferd und beobachtete den Horizont, während die ersten Blitze die Gipfel in gespenstisches Licht tauchten. Der Fürst richtete einen Ball aus, doch er hatte sehr deutlich gemacht, dass Jean-Pierre dort nicht willkommen war. Nicht wegen seiner Mutter, die Sandre lachend eine Schlampe genannt hatte, sondern weil Jean-Pierre noch immer nicht den Schnitter gefangen genommen hatte.

Der Wind frischte auf. Eine Wolke bedeckte die Sterne und kroch näher. Sie grollte unheilvoll, als litte sie Schmerzen. Der Geruch nach Regen hing frisch in der Luft.

Ein heraufziehendes Gewitter. Es kam schnell näher.

Jean-Pierre war es leid, sich auf dem Rücken seines Pferds auf dem fürstlichen Friedhof an der Straße zum Palast zu verstecken und sich jede Nacht nass regnen zu lassen. Er nahm sich fest vor, am nächsten Ball einfach teilzunehmen.

Das langsame Klippklapp von Pferdehufen ließ ihn den Kopf drehen. Er schaute gleichgültig in die Richtung, aus der ein weißes Pferd vom Palast kam.

Auf seiner nächtlichen Mission hatte er schon viele weiße Pferde gesehen. Der Reiter trug einen schwarzen Mantel.

Aber sobald der Reiter das gerade Stück Straße erreichte, trieb er sein Pferd an. Als er das tat, tauchte ein greller Blitz die Landschaft in gespenstisches Licht.

Jean-Pierre richtete sich im Sattel auf.

Ein schwarzer Mantel, eine schwarze Maske … Und als nun der Mantel hinter dem Reiter wehte, sah Jean-Pierre deutlich ein weißes Leichentuch und zerfetzte Kleider, die im Wind flatterten. Was, wenn die Beschreibung nicht der Wirklichkeit entsprach? Alles an dem Schnitter war bisher nur Gerede und Legendenbildung gewesen.

Erneut zuckte ein Blitz, Donner grollte. Jean-Pierre zog sein Gewehr aus dem Holster.

Das Pferd des Schnitters fiel jetzt in einen leichten Kanter, gewann rasch an Geschwindigkeit und galoppierte schließlich rasend schnell davon.

Jean-Pierre stützte den Arm auf und zielte auf die rechte Schulter des Schnitters. Er wartete auf den nächsten Blitz und drückte den Abzug.

In genau diesem Augenblick beugte sich der Schnitter tief über den Hals seines Pferdes.

Jean-Pierre hörte den Schuss peitschen und sah, wie sich die Kugel in die Kleidung grub und Blut aufspritzte. Er hatte den Schnitter oben zwischen Schulter und Hals getroffen.

Der Schnitter sackte im Sattel zusammen, doch er rappelte sich wieder auf. Sein Pferd machte einen Satz nach vorne, galoppierte um die Kurve und verschwand außer Sicht.

Jean-Pierre fluchte, steckte die Waffe in den Holster und versetzte seinem Pferd einen Schlag auf die Kruppe. Der Schnitter würde ihm dieses Mal nicht entkommen.

Aber als er aus dem Gebüsch hervorkam und auf die Hauptstraße ritt, öffnete der Himmel seine Schleusen, und es schüttete wie aus Eimern. Die Temperatur sank spürbar. Hagelkörner prasselten auf den Boden, zerfetzten die Bäume und trommelten auf ihn ein. Er ritt schneller. Er wusste, der Schnitter musste sich mit denselben Witterungsbedingungen auseinandersetzen. Er konnte ihn nicht sehen, deshalb trieb er sein Pferd an. Das Vieh buckelte, stieg und warf ihn aus dem Sattel.

Jean-Pierre landete in einer eisig kalten Pfütze.

Erneut stieg das Pferd, und seine Hufe landeten gefährlich nahe neben Jean-Pierres Kopf.

Er duckte sich und rollte rasch außer Reichweite der gefährlichen Hufe.

Das Pferd rannte mit hochgerrecktem Kopf davon. Es lief die Straße zurück zum Palast hinauf.

Fluchend kam Jean-Pierre auf die Füße. Er schaute die Straße hinauf und herunter.

Sie war verlassen. Natürlich. Welcher Narr trieb sich bei diesem Wetter draußen herum?

Während er hinter seinem Pferd her durch den Regen und den Sturm stapfte, wusste er, welche Geschichte man sich schon bald im Palast erzählen würde.

Der Schnitter hatte den Sturm heraufbeschworen und den Blitz eingesetzt, um seine Feinde zu besiegen.

Nun, vielleicht war das so. Aber Jean-Pierre hatte gesehen, wie die Kugel ihr Ziel getroffen hatte.

Der Schnitter war verwundet. Irgendwo kauerte er sich jetzt voller Schmerz zusammen, und Jean-Pierre würde ihn schon bald in seinem Versteck aufstöbern und zur Strecke bringen.

Emma betrat ihr Schlafzimmer. Sie hielt ihre Kerze hoch und schaute sich um. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen. Tia war nirgends zu sehen, und Emma brauchte jemanden, der ihr half, die Knöpfe am Rücken ihres Kleids zu öffnen. Wenn sie nicht den ganzen Weg bis nach unten in die Küche trotten wollte, musste sie wohl oder übel in diesem Kleid schlafen. Und im Korsett.

Sie drückte die Handfläche gegen die Fischbeinstäbe, die ihr Kreuz aufrecht hielten und sich in ihre Taille gruben.

So ging es nicht. Sie musste jemanden suchen, der ihr half, aus diesem Kleid zu kommen.

Andererseits konnte sie ganz froh sein, denn nachdem Fürst Sandre den Ball so früh verlassen hatte, um die Suche nach dem Schnitter zu leiten, hatte Lady Fanchere verkündet, sie sei müde, und Lord Fanchere hatte die beiden Frauen durch einen tobenden Hagelsturm nach Hause gebracht. Das wiederum bedeutete, dass Emma kein zweites Mal mit Fürst Sandre hatte tanzen müssen.

Emma fand, das sei ein Sieg, den sie ruhig feiern durfte.

Draußen schien das Gewitter endlich in der Ferne zu verschwinden.

Sie zog an den Diamanthaarnadeln, die ihre Frisur hielten. Eins musste sie Madam Mercier zugestehen – nicht einmal eine einzelne Strähne hatte sich getraut, der Frisur zu entschlüpfen. In diesem Moment tauchte eine männliche Gestalt aus den Schatten im hinteren Bereich des Gemachs auf. »Miss Chegwidden.«

Noch vor einer Woche hätte sie angstvoll geschrien. An diesem Abend zog sie nur eine Nadel aus ihren Haaren und streckte sie wie eine Waffe aus.

Der Mann hob den Arm. »Ich bin nicht hier, um Euch Schaden zuzufügen. Ich bin Rubio, Durants Leibdiener.«

Sie hatte ihn schon einmal gesehen, doch da hatte sie über ihm auf dem Treppenabsatz gestanden. Jetzt konnte sie sein Gesicht erkennen.

Er war ungefähr fünf Jahre älter als sie, aber seine Augen waren die Augen eines Mannes, der Gräuel gesehen hatte, die kein Mann mit ansehen sollte. Sie sah in diesen Augen, dass er Schmerzen erlitten hatte, die niemand erleiden sollte. Wie schon bei der letzten Begegnung war er mit der Exaktheit eines Gentlemans in einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd gekleidet. Ein Ärmel war sorgfältig an der Schulter festgesteckt. Den Arm hatte er verloren. Sein rötlich blondes Haar war an diesem Abend zerzaust, und an seinem Ärmel klebte ein Tropfen Blut.

Sie ließ die Haarnadel sinken. »Ja?«

Drängend sagte er: »Man hat auf ihn geschossen. Er braucht Euch.«

Sie starrte ihn verwirrt an. Ihre Gedanken rasten, und sie versuchte zu verstehen, wen er meinte. Durant wohl nicht. Also blieb nur einer … »Der Schnitter?«

»Ja. Man hat ihn angeschossen. Ihr könnt Leute doch wieder gesund machen? Kommt bitte und helft ihm.«

Sie nahm sofort ihre Medizintasche, raffte ihre Röcke und erklärte: »Bring mich zu ihm.«

»Nein, geht allein.« Rubio begann, zur Tür zu humpeln. »Er ist im Witwensitz.«

Dann war der Schnitter bei Durant? Aber sie hatte keine Zeit, um Fragen zu stellen. Sie rannte aus ihrem Gemach, stürzte die Treppe herunter, eilte durch die Hintertür und über den Rasen. Es war nass. Unter ihren Lederschuhen zerbrachen einzelne Hagelkörner.

Die Tür zum Haus stand offen.

Sie eilte hinein.

Der Witwensitz war alt. Ein primitives Schloss, dessen Zierrat sein wahres Alter verschleierte. Sie lief die gewundene Steintreppe ins Obergeschoss hinauf. Dann ging sie auf die offene Kammer zu, in der Licht brannte.

Sie blieb an der Tür zum Schlafgemach stehen.

Michael Durant saß auf einem Stuhl vor dem Spiegel und schrieb hastig etwas auf ein Blatt Papier. Seine roten Haare waren tropfnass. Eine durchweichte schwarze Maske war achtlos auf den Tisch geworfen. Sein Gesicht war von Schmerz verzerrt, und Blut strömte aus einer Schusswunde, die seinen Muskel zwischen Schulter und Hals durchschlagen hatte. Ein nasses weißes Tuch hing um seinen Hals. Die nasse weiße Hose war mit Stofffetzen verziert. Sein Oberkörper war nackt. Sie erkannte diesen Oberkörper. Sie erkannte dieses Kinn. Sie erkannte ihn.

Endlich kannte sie die Wahrheit.

Michael Durant war der Schnitter.