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Dodd.eps

Ein Klopfen an der Tür weckte Emma aus ihrem Nachmittagsschlaf, den sie immer hielt, weil sie keinen Nachtschlaf mehr bekam.

»Herein!«, rief sie, und dann starrte sie einen Moment an die Decke und dachte: Er will, dass ich mich für ihn entscheide. Er will mich heiraten.

Michael hielt sie für eine Amazone. Er fand, sie sei mutig und stark. Eine Frau, die aus ihrem Leben machen konnte, was sie wollte.

Und er wollte, dass sie ihn heiratete.

»Miss Chegwidden?« Tia erschien vorsichtig im Zimmer.

»Ich bin wach.« Emma wusste nicht, was sie mit Michaels Antrag anfangen sollte. Seit dem Tod ihres Vaters hatte niemand sie gewollt. Und jetzt meinte Michael, sie habe die Wahl. Vielleicht stimmte das sogar.

Was wollte sie?

Was war das Richtige?

Sie hatte den Schnitter geliebt. Er war dunkel, geheimnisvoll und verführerisch.

Aber liebte sie Michael Durant?

Sie setzte sich im Bett auf und rieb ihre Stirn mit den Handballen. Dann schaute sie aus dem Fenster. Die Sonne ging bereits unter. »Es ist schon so spät? Ich muss mich umziehen!«

»Miss Chegwidden … Unten gibt es einen Notfall.« Tia stand jetzt neben ihrem Bett.

Emma schaute zum ersten Mal bewusst auf und blickte Tia an.

Tias Gesicht war gerötet und fleckig. Ihre Augen waren verweint. »Es ist nicht Durant«, sagte sie hastig.

Emma stand sofort auf. »Was ist es dann? Ist etwas mit Brimleys Finger?«

»Seinem Finger geht es gut. Er wächst wieder an. Es ist ein Wunder. Nein.« Tia schüttelte den Kopf und fing wieder an, heftig zu weinen. »Es sind Lady de Guignard und Elixabete.«

Nein. Nein.

Während sie sich in fliegender Hast ankleidete, befragte Emma Tia.

Tia schien nichts mit absoluter Sicherheit zu wissen, außer dass die Männer Elixabete gerade zum Anwesen der Fancheres brachten. Aber sie sprach nicht über Aimée, und sie weinte so heftig, dass Emma spürte, wie sich ein harter Knoten in ihrem Bauch bildete.

Nicht Aimée. Nicht die liebe, freundliche Aimée, die so kurz davorgestanden hatte, ein neues Leben zu beginnen.

Emma stürzte die Treppe herunter.

Die Männer trugen soeben Elixabete ins Haus. Sie lag auf einer Decke, die die Männer zwischen sich gespannt trugen. »Legt sie auf den Boden«, befahl sie, und sehr behutsam legten die Männer die Decke mit dem Kind auf den Boden.

Sie kniete neben Elixabete.

Das Mädchen lag auf der Seite. Es hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt und hielt die Augen geschlossen. Elixabete drückte etwas fest an ihre Brust. Jemand hatte sie ins Gesicht getreten und ihre Nase gebrochen, aber es war vor allem die Wunde an der Stirn, die Emma Sorgen bereitete. Sie hatte eine Delle im Schädel, und das war eine Verwundung, die sie umbringen konnte.

Diener scharten sich um sie.

»Tretet zurück«, befahl Brimley. »Gebt den beiden genug Platz zum Atmen.«

Emma berührte sanft Elixabetes Schulter.

Die Augen des Kinds flatterten und öffneten sich.

»Elixabete, kannst du mich hören?«, fragte Emma.

»Ja.« Das Mädchen richtete den Blick auf Emma, dann auf die anderen Leute, die sie umstanden.

»Wie viele Finger halte ich hoch?«

»Drei.«

»Gut.« So Gott wollte, würde Elixabete sich vollständig erholen. »Kannst du die Finger bewegen? Die Zehen?«

»Ja. Ja! Oh, Miss Chegwidden.« Sie schluchzte herzzerreißend. »Warum musste das ausgerechnet ihr passieren?«

Dieser Knoten in Emmas Bauch wurde immer schwerer. »Was ist mit ihr passiert?«

»Er hat sie über das Geländer geworfen. Sie hat geschrien, aber er hat sie einfach runtergeworfen. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er hat nach mir getreten und sie dann einfach fallen gelassen.« Elixabete hob die Hand, in der sie ein geschnitztes Pferdchen hielt. Eine wunderbare, polierte Handarbeit. »Das hat sie mir geschenkt. Es hat ihrem Vater gehört, und sie wollte, dass ich es bekomme. Jetzt ist sie tot

Mit ganz leiser Stimme fragte Emma: »Wer ist tot?«

Elixabete zitterte und weinte.

»Ist es Aimée?«, fragte Emma.

Elixabete nickte. Dann rollte sie sich wieder ein und umklammerte das Pferdchen. »Ich will zu meiner Mama«, jammerte sie.

Emma streichelte ihre Stirn. Dann stand sie auf und wandte sich an Brimley. »Sie sollte zu Bett gebracht werden. Lasst sie nicht aufstehen und legt kalte Tücher auf ihr Gesicht, damit die Schwellung abklingt. Gebt ihr Wasser, redet mit ihr. Und um Gottes willen, bringt ihre Mutter her.« Sie wandte sich ab und drängte sich durch die versammelte Dienerschaft.

»Miss Chegwidden.« Brimleys Stimme ließ sie stehen bleiben. »Was habt Ihr vor?«

»Ich werde sie dafür bezahlen lassen.«

»Durant … Irgendetwas geht im Haupthaus vor sich.«

Michael legte den Füller beiseite. Er war froh um die Ablenkung, denn er widmete sich gerade der schweren Aufgabe, einen Brief an seinen Vater zu schreiben, in dem er ihm mitteilte, sein verlorener Sohn sei am Leben und bedürfe seiner Hilfe. Fragend blickte er Rubio an.

»Das Mädchen Elixabete wurde verletzt, und Lady de Guignard …« Rubio schüttelte den Kopf, und seine Augen wirkten wieder so wie damals, als er aus dem Kerker gekommen war. Dumpf. Resigniert. Vom Schmerz gezeichnet.

Michael sprang auf. »Wo ist Emma?«

»Sie haben nach ihr gerufen, damit sie Elixabete versorgt.«

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als Michael schon Richtung Haupthaus lief. Er eilte hinein und schnappte sich den nächsten Diener, den er sah. »Wo ist Elixabete?«

»Sie haben sie nach oben gebracht. Habt Ihr gehört«, er war so erregt, er musste sich räuspern. »Habt Ihr gehört, was mit Lady de Guignard passiert ist?«

Michael nahm zwei Stufen auf einmal und folgte einem weinenden Dienstmädchen nach oben in den zweiten Stock, wo er in Elixabetes Schlafkammer stürmte.

Emma war nicht da.

Er packte Brimley an den Aufschlägen seines Jacketts. »Wo ist Emma?«

Brimley packte seinerseits Michael. »Sie gab uns Anweisung, wie wir für Elixabete zu sorgen haben, dann ist sie verschwunden.«

»Wohin ist sie gegangen?«

»Ich glaube, sie … Sie sagte, dafür werde sie sie bezahlen lassen.«

»Sie will sie bezahlen lassen? Nein, nein, nein. Sie will heute Nacht reiten? Aber wieso habt Ihr sie nicht aufgehalten?«

»Ich habe hier eine schwierige Situation zu bewältigen, Durant. Und ich kann unmöglich Hand an eine Dame legen!«

»Wie lange ist das her?«

»Eine Viertelstunde, vielleicht etwas länger.«

Michaels Gedanken rasten. Emmas Weg und seiner hatten sich nicht gekreuzt, als er zum Château gerannt war, weshalb es nun zu spät war, um sie am Stall abzufangen. Aber wenn er den Weg an der Vorderseite nahm und von dort direkt in den Wald lief, fing er sie hoffentlich ab, ehe sie die Hauptstraße erreichte.

Er lief wieder los. Die Treppe hinunter und durch die Tür nach draußen. Er rannte über die Einfahrt.

Die Kutsche der Fancheres kam in diesem Augenblick durch das Tor.

Er wich der Kutsche aus, sprang über die Hecke und rannte über den Rasen.

Seine Lungen brannten. Seine Beine schmerzten. Seine Schulter pochte.

Er rannte eine Anhöhe hinauf und schlug sich in den Wald. Die Zweige klatschten ihm ins Gesicht, und die Büsche zerkratzten seine Beine.

Er konnte nicht so schnell laufen, wie er wollte.

Er würde es nicht schaffen.

Aber dann war er da. Er brach durch das Dickicht und kam stolpernd an der Böschung zum Stehen, die unter ihm sieben Meter steil abfiel. Die Straße erstreckte sich direkt darunter. Aber er war zu spät. Zu spät.

Old Nelson galoppierte ohne Reiter in den Wald.

Fürst Sandres Wachleute umringten eine in Weiß gekleidete Gestalt, die in einem Busch am Rand der Straße lag.

Sie kam mühsam hoch und setzte sich auf.

Sie lebte!

Michael wollte gerade die Böschung hinabsteigen und ihr zur Hilfe eilen.

Da packte jemand seinen Arm und riss ihn zurück.

Er drehte sich um und hob drohend die Fäusten.

Fanchere schüttelte ihn heftig. »Tut das nicht!«

Michael rang mit ihm und versuchte, ihn abzuschütteln.

»Nein! Seht doch nur!« Fanchere sprach eindringlich und leise.

Michael schaute nach unten. Die Soldaten stiegen wieder auf die Pferde. Sie hatten Gewehre, Schwerter, Messer. Sie sahen missmutig und wütend aus. Diese Männer waren bereit, zu töten.

Einer von ihnen packte sie und zog sie hinter sich in den Sattel.

»Sandre lässt ihre Frauen und Kinder ermorden«, sagte Fanchere. »Wenn wir versuchen, ihnen den Schnitter jetzt zu entreißen, werden sie uns umbringen.«

»Sie ist dem Tod geweiht, wenn sie in den Palast gebracht wird. Oder Schlimmeres.« Michael versuchte erneut, sich loszumachen.

»Eleonore hat einen Plan.«

Michael schaute Fanchere an. »Wieso einen Plan? Sie wusste doch nicht, dass das hier passieren würde.«

»Das stimmt. Aber wir können den Plan entsprechend anpassen. Um Gottes willen, Michael. Wenn Ihr Euch umbringen lasst, wird das Emma nicht helfen, zu entkommen. Und Ihr bekommt keine Gelegenheit, Euch am Fürsten zu rächen.« Fanchere klang eindringlich. »Das Ganze wird Eleonore das Herz brechen. Es ist schon jetzt genug angeknackst.«

Michael wusste, dass Fanchere recht hatte. Aber der Zorn schmeckte bitter, während er tatenlos zusehen musste, wie die Soldaten davonritten. Emma saß hinter ihrem Anführer im Sattel und hielt sich an ihm fest.

»Also gut.« Er wandte sich wieder Richtung Haus. »Wie sieht dieser Plan aus?«