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Brimleys Worte ließen Emmas Mut sinken. Alles, was sie sich wünschte, war doch lediglich eine Anstellung, bei der sie sich um eine ruhige und gelassene Dame kümmern konnte – eine ältere Dame beispielsweise. Emma konnte ihr vorlesen, konnte sich in den Jahren ihres Lebensabends um sie kümmern … Sobald sie nach England zurückkam, wollte sie bei der Akademie der Gouvernanten um eine Position dieser Art bitten.
Als sie ihre Arbeit für Lady Lettice aufnahm, hatte sie Abenteuer gesucht. Aber keine Gefahr. Sie war nie so dumm gewesen, sich zu wünschen, Gefahren zu erleben. Wenn es hier so gefährlich war, sollte sie diesen Ort lieber schleunigst verlassen.
Dann hörte sie Stimmen von unten. Die Stimmen von Damen und das Klappern von Geschirr. Sie hörte Lady Fancheres Stimme und dachte an ihre besorgniserregende Schwangerschaft. Sie wusste, sie konnte jetzt nicht gehen. Sie wurde hier gebraucht. Emma strich ihr Kleid glatt und blickte Brimley an. »Vielleicht habt Ihr recht, Mr Brimley. Vielleicht werde ich noch erleben, dass ich meinen Entschluss zu bleiben bereue, aber wie Ihr ja schon bemerkt haben werdet, weiß ich nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«
Seine braunen Augen blickten sie wärmer an. »Ich dachte mir, dass Ihr das sagen würdet. Engländer laufen vor keiner Herausforderung davon.«
Eine »Herausforderung«? Für ihn war eine Revolution eine »Herausforderung«? Sie starrte ihn groß an. Offensichtlich war Brimley aus hartem Holz geschnitzt.
Er steuerte die Treppe an. »Lady Fanchere legt Wert darauf, dass ihre Diener gut behandelt werden. Da ich für diesen Haushalt verantwortlich bin, möchte ich, dass Ihr zu mir kommt, wenn Ihr irgendetwas braucht oder besorgt seid.«
Sie eilte ihm nach. »Danke, das werde ich sicher tun.«
Am oberen Treppenabsatz drehte er sich zu ihr um und fügte leiser hinzu: »Ihr seid jedenfalls noch jung und liebt zweifellos Intrigen und Abenteuer.«
»Nein!«
Brimley schenkte ihr keine Beachtung. »Lasst Euch von mir warnen, damit Ihr nicht in etwas verstrickt werdet, das einem Komplott ähneln könnte. Haltet Euch von den Moricadiern fern, die etwas zu planen scheinen. Die Familie de Guignard kennt keine Gnade, wenn es darum geht, ihre Macht über dieses Land zu festigen, und sie werden nicht zögern, auch Euch einzukerkern, Miss Chegwidden. Ihr seid zwar Engländerin, aber sie sind auch schon rigoroser mit Menschen umgegangen, die versucht haben, eine Revolution voranzutreiben.«
Ein Mann in einem ordentlichen schwarzen Anzug ging durch die Eingangshalle unter ihnen. Sein rötlich blondes Haar war kurz geschnitten, sie schätzte sein Alter auf ungefähr 25 oder knapp 30 Jahre. Trotzdem bewegte er sich wie ein alter Mann. Er ging seitwärts wie eine Krabbe, ein dunkler Ärmel seines Anzugs war hochgesteckt und bedeckte dort, wo eigentlich Arm und Hand sein sollten, einen Stumpf.
»Das ist Durants Leibdiener. Er ist Moricadier, vor zwölf Jahren wurde er beschuldigt, einem Jungen zu helfen, der Fürst Sandre einen Streich spielte. Der Junge entkam. Rubio leider nicht.« Allzu anschaulich zeigte Brimley ihr, welche Konsequenzen es haben konnte, wenn man sich von Unvernunft hinreißen ließ. »Die de Guignards haben ihn auf der Streckbank gefoltert.«
»Das sind ja mittelalterliche Methoden!« Sie beobachtete Rubio, der in einem langen Korridor verschwand.
»Absolut. Vorher konnte er voller Selbstvertrauen überall hingehen, wohin er wollte. Jetzt bedeutet für ihn jeder Schritt Qualen.«
»Und sein Arm?«
»Sie haben ihn so gründlich in die Mangel genommen, dass der Wundbrand einsetzte. Um sein Leben zu retten, musste er amputiert werden.«
»Der arme Mann!«
»Er ist ein fähiger Leibdiener, trotzdem würden die meisten Gentlemen lieber auf seine Dienste verzichten. Es ist sehr nett von Mr Durant, ihm Arbeit zu geben. Wenn er es nicht täte, müsste Rubio auf der Straße betteln, und in Moricadia ist es schwierig, milde Gaben zu bekommen.«
Leidenschaftlich erklärte sie: »Ich verstehe durchaus, was Ihr sagen wollt, Mr Brimley. Und ich versichere Euch, ich bin die letzte Person auf der Welt, die nach irgendetwas sucht, das auch nur im Geringsten Aufregung mit sich bringen könnte.«
»Sehr gut.« Er führte sie nach unten in die Eingangshalle. »Ich würde es außerdem vorziehen, wenn Ihr dieses Gespräch vergessen würdet.«
»Natürlich, Mr Brimley.«
»Wenn Ihr nun Henrique folgt«, er zeigte auf den uniformierten Lakaien, der in behäbigem Tempo mit einem Teetablett in einer Hand an ihnen vorbeischritt. »Er wird Euch zur Teegesellschaft der Damen führen.«
»Ich danke Euch.« Henrique führte sie durch den gläsernen Wintergarten, in dem Rosen blühten und ihren schweren Duft verströmten. Weiße Rosen wanden sich um die grauen Marmorpfeiler, und die Büsche um die Pfeiler trugen rote Blüten. In der Mitte des Raums rankten sich pinke Rosen um die Bögen, die einen Pfad überspannten. Von diesem gelangten sie direkt zu einem kleinen Platz mit Tischchen und zarten Stühlen, wo acht elegant gekleidete Damen laut aufeinander einredeten.
»Der Geist von König Reynaldo … Er kommt zurück und will Vergeltung.«
»Er bringt jedem den Untergang, der ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht …«
»Lucretia hat ihn gesehen, und sie ist seitdem halb verrückt …«
»Sie war eigentlich immer schon halb verrückt …«
»Diese ganzen Gerüchte sind doch Unsinn. Er ist nichts als ein Verbrecher, den man festnehmen muss. Man sollte ihm das Fell über die Ohren ziehen und ihn vierteilen, dann …«
»Ein Mörder, der uns alle in den Betten erstechen wird!«
Emma blieb am Eingang stehen. Sie war verunsichert und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Aber Lady Fanchere, die sich wohl nach Ablenkung sehnte, entdeckte sie und winkte Emma zu sich. »Kommt und helft mir.«
Das Gespräch verstummte. Emma eilte an Lady Fancheres Seite und tat, wie ihr befohlen war.
Eine ältere Frau mit Monokel betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Dann wandte sie sich an Lady Fanchere. »Meine Liebe, ist das nicht das Mädchen, das den Fisch in Lady Lettices Mieder hat fallen lassen?«
»Ich habe sie als meine Gesellschaftsdame eingestellt.« Lady Fanchere bedeutete Emma, dass ihr kalt sei.
Sogleich nahm Emma den Schal von der Stuhllehne und legte ihn um Lady Fancheres Schultern.
»Seid Ihr des Wahnsinns?« Die Lady ließ das Monokel sinken. »Wenn das Kindchen einen Fisch in Lady Lettices Mieder steckt, was wird es dann erst mit Euch tun?«
»Lady Lettice war unverschämt«, sagte Lady Fanchere.
»Eine rüpelhafte Frau«, stimmte die ältere Frau ihr zu.
»Genau. Ihr werdet mir sicher zustimmen, Lady Nesbitt, dass sie diese Strafe verdient hat. Die Sache mit dem Fisch war meine Idee.« Lady Fancheres verschmitztes Lächeln forderte zugleich Lady Nesbitt heraus und ließ Emma ehrfürchtig erstarren, weil sie so leichtfertig eine Lüge erzählte.
Lady Nesbitt wirkte im ersten Moment ehrlich entsetzt und beleidigt. Dann musste sie widerstrebend lachen. »Ich fürchte, unsere moricadische Gesellschaft wird nie von anderen Nationen respektiert, wenn wir Protzern wie Lady Lettice erlauben – oder nein, sie noch ermutigen – sich unseren Kreisen anzuschließen.«
»Wie wahr! Englische Adelige kommen nach Moricadia, um sich beim Glücksspiel zu versuche und sich bei anderen, ungesunden Aktivitäten zu verausgaben. Doch ihre Frauen bleiben unserem Land fern. Nur Engländerinnen wie Lady Lettice, die eher zweifelhaften Charakters ist, besuchen uns, weil sie die Chance wittern, hier Dinge zu tun, die ihnen in England niemals erlaubt wären.«
Die Frauen im Raum nickten zustimmend. Emma nahm neben Lady Fancheres rechter Schulter Aufstellung.
»Da Lord Fanchere es sich sehr wünschte, dass ich eine Gesellschaftsdame bekomme, die sich um meine Belange kümmert«, fuhr Lady Fanchere fort, »und da ich zu meiner Freude entdeckt habe, dass Emma von Lady Lettice bei der Akademie der Gouvernanten angefordert wurde … Ihr wisst doch über die Akademie der Gouvernanten Bescheid, oder, Lady Nesbitt?«
»Ich wüsste nicht, Lady Fanchere.« Lady Nesbitt wirkte verärgert, wie es nur eine Frau sein konnte, die es genoss, immer auf dem neuesten Stand zu sein.
Lady Fanchere lächelte und spielte mit den Fransen ihres Schals. »1839 wurde die Akademie der Gouvernanten von drei adeligen, jungen Damen begründet, deren Ziel es war, verarmte, junge Damen auszubilden und ihnen Stellungen als Gouvernanten und Gesellschaftsdamen in respektablen Familien zu verschaffen. Nachdem diese drei Frauen gut verheiratet waren – sogar sehr gut –, verkauften sie die Akademie an Lady Adorna Bucknell, die, wie wir ja alle wissen, über jeden Zweifel erhaben ist.«
Die Ladys nickten. Sie waren von Lady Fancheres Erzählung fasziniert.
»Lady Bucknell … arbeitet?« Missbilligend verzog Lady Nesbitt den Mund.
»Lady Bucknell hat eine so überragende Stellung in der englischen Gesellschaft inne, dass sie tun und lassen kann, was sie will. Dazu gehört auch die Vergrößerung der Akademie für Gouvernanten, die seither jungen Frauen von hoher Geburt auch andere Karrieren eröffnet.« Lady Fanchere legte die Hand auf Emmas Arm. »Frauen wie meiner lieben Gesellschafterin.«
Emma war ebenfalls fasziniert. Die Erkenntnis, dass Lady Fanchere nicht nur über die Akademie der Gouvernanten und den märchenhaften Aufstieg der Gründerinnen Bescheid wusste, war ebenso beeindruckend wie die Feststellung, dass Lady Fanchere in dieser Gruppe Frauen eine so hohe Stellung genoss, dass niemand auf die Idee kam, ihre absurde Geschichte in Frage zu stellen, wie sie Emma in ihre Dienste genommen hatte.
»Gibt es noch andere Gesellschaftsdamen in Moricadia, die von der Akademie der Gouvernanten ausgebildet wurden?«, fragte eine der jüngeren Frauen.
»Nein, Alceste. Aber sie genießen in aller Welt einen guten Ruf, weil sie qualifizierte Hilfe anbieten. Ich bin sicher, du könntest nach England schreiben und …«
Alceste schüttelte den Kopf, ehe Lady Fanchere den Satz beenden konnte. »Yves wäre höchst ungehalten über so viel Extravaganz. Er ist ein guter Mann, aber er hält das Geld lieber zusammen.«
Das Gespräch wandte sich den Ehemännern und deren Knauserigkeit zu.
Emma dachte, es sei wirklich das Beste, sich sofort in ihre Pflichten einzuarbeiten. Dann bliebe ihr keine Zeit, über den Verlust ihrer Habseligkeiten nachzugrübeln, die sie in Lady Lettices Hotelzimmer hatte zurücklassen müssen. Sie wusste, Lady Lettice wäre niemals einverstanden, die Besitztümer herauszugeben. Es waren ja auch keine wertvollen Dinge darunter, sah man davon ab, dass sie für Emma sentimentalen Wert hatten. Die Miniatur ihres Vaters. Die abgegriffene Ausgabe Stolz und Vorurteil, die ihrer Mutter gehört hatte, an die sie sich nicht erinnerte. Die kleine Glasfigur eines Spaniels, die sie in Venedig gekauft hatte und die Lady Lettice bei einem ihrer Wutausbrüche zerbrochen hatte. Dem Spaniel fehlte daher inzwischen ein Bein. Der wollene Schal, den die Damen in Freyaburn gewebt und ihr zum Abschied geschenkt hatten. Ihre Tasche mit Instrumenten und Medikamenten …
Sie bemerkte, wie sie die Tränen wegblinzelte und fragte sich, wann sie nur eine so verängstigte Kreatur geworden war, die über den Verlust von ein paar Besitztümern weinte. Hatte Lady Lettice mit ihren Grausamkeiten sie so sehr geschwächt?
»Michael!« Lady Fancheres Stimme klang hocherfreut. »Ich freue mich sehr, dass Sie sich uns anschließen.«
Emma schaute auf und sah einen zerzausten, leutseligen Michael Durant, der mit der nachlässigen Eleganz eines Adonis im Angesicht seiner Bewunderer unter einem Türbogen lehnte.
»Meine liebe Lady Fanchere.« Er kam auf sie zu und küsste die ihm dargebotene Hand. »Und meine liebe Lady Nesbitt.« Die nächste Hand. »Lady Alceste.« Er begrüßte alle Damen und zeigte damit sehr deutlich, dass er die Zeit seines Hausarrests zu nutzen gewusst hatte, um sich bei den Frauen der moricadischen Gesellschaft einzuschmeicheln.
Emma beobachtete, wie jede Lady lächelte und unter seinem bewundernden Blick ganz flattrig wurde. Erneut verfluchte Emma im Stillen diesen Engländer, der zu faul war, um diesem luxuriösen Gefängnis zu entkommen. Ein Mann, der seiner eigenen Familie abschwor, um in einer fremden Gesellschaft herumzulungern.
Sein Blick streifte ganz kurz auch Emma, und es fühlte sich an, als habe ihr kleines Gespräch der vergangenen Nacht nicht stattgefunden. Er verbeugte sich kurz, dann nahm er den Platz an Lady Fancheres Seite ein.
Henrique brachte ein Tablett mit frischem Gebäck.
Emma begann, die Teller aus feinstem Porzellan zu verteilen und bot den Gästen Leinenservietten an, auf die ein weißes F eingestickt war.
»Habt Ihr schon gegessen?« Lady Fanchere goss Michael eine Tasse Tee ein. Sie umflatterte ihn wie ein Henne ihr liebstes Küken.
»Ich hatte eine kleine Erfrischung, als ich aufwachte.« Seine Stimme war leiser und kratziger als am Abend des Balls.
»Habt Ihr Euren ersten Ball nach so vielen Tagen und Nächten als … Gefangener genossen?« Alceste schaute sich kurz nach allen Seiten um.
Lady Nesbitt schniefte warnend. »Meine liebe Alceste, es gibt Lauscher. Spione sind überall.« Sie nahm das beladene Tablett von Henrique entgegen, hielt es Durant unter die Nase und bedeutete Emma, ihm einen Teller zu geben. »Hier, mein Junge. Ihr seid viel zu dünn.«
Emma reichte einen Teller weiter.
Durant nahm ihn entgegen. Er hielt den Tee in einer Hand und balancierte den Teller auf den Knien, während er ihn mit den Köstlichkeiten von Lady Nesbitts Tablett füllte. Er schien zufrieden, jedoch etwas verlegen … und müde. Dunkle Ringe lagen um seine Augen, die Krawatte war nur lose gebunden und die Haare auf attraktive Art in Unordnung. »Der Ball war wirklich herrlich.«
»Es war sehr freundlich von Fürst Sandre, Euch die Teilnahme zu gestatten, nicht wahr?«, fiel Lady Nesbitt ein.
»Fürst Sandre definiert Freundlichkeit wohl auf eine Art und Weise, wie es sonst kein Mann vermag.« Michael verzog süffisant den Mund.
Alceste lachte. Ein abruptes, zustimmendes Auflachen.
Aber als Emma sie anblickte, war ihr Gesicht wieder völlig ausdruckslos.
Michael verzog den Mund leicht. »Ein Hausarrest unter der Aufsicht von Lord und Lady Fanchere könnte nicht angenehmer sein. Ich habe zwar Gitter vor dem Fenster meines Gemachs«, er blickte die Damen herausfordernd an, »aber ich komme zum Tee. Man verdächtigt mich verräterischer Aktivitäten, aber man erlaubt mir, auf den Dienst meines Leibdieners zurückzugreifen. Ich darf Moricadia nicht verlassen, aber man erlaubt mir, die vornehmsten Bälle zu besuchen.«
»Sandre hat mich angewiesen, Euch so viel Freiheit zuzugestehen, wie ich für richtig erachte«, erklärte Lady Fanchere. »Und er hat mich freundlich darauf hingewiesen, dass unsere gesellschaftlichen Ereignisse Euch durchaus zu unterhalten wissen.«
»Ich bin zutiefst verletzt, Mylady.« Michael legte die Hand auf die Brust, die Finger gespreizt. »Offensichtlich haltet Ihr mich nicht für einen Verbrecher oder Schurken, der das Silber klauen könnte oder – was für mich persönlich gefährlicher klingt – mit einer moricadischen Jungfrau durchbrennt.«
Die Frauen begannen zu kichern.
»Ihr seid verrückt.« Lady Nesbitt versuchte, ernst zu bleiben, aber ihre Mundwinkel zuckten.
»Bin ich denn so eine zahme Kreatur, dass die Damen bei meinem Eintreffen verstohlen hinter vorgehaltenen Fächern gähnen? Könnte ich nicht genauso gut einen bösen Plan ersinnen und durchführen, dessen Ziel es ist, die Uniform der Palastgarde von blau und rot in ein modisches mauve zu ändern? Oder … oder …« Er verstummte stotternd.
Die Frauen lachten jetzt.
»Oder durch das nächtliche Land reiten, gekleidet wie ein Geist?«, scherzte Alceste. Im selben Moment schlug sie sich peinlich berührt die Hand auf den Mund und starrte mit schreckgeweiteten Augen Lady Fanchere an.
Diese winkte verzeihend ab.
Michael jedoch sprang sofort in die Bresche. »Ja, genau! Ich könnte der Schnitter sein. Es gäbe nur wenige Hindernisse, die dem im Weg stünden. Mein bedauerlicher Hang zur Feigheit.« Er lächelte Alceste an.
Sie ließ die Hand sinken und lächelte dankbar.
»Mir fehlt außerdem ein angemessenes Pferd«, fuhr er fort. »Mein eigenes ist betagt und schwerfällig. Der Schlüssel, mit dem ich jede Nacht in mein Schlafzimmer eingesperrt bin. Komplizen …«
Jetzt lächelten alle wieder.
Aus irgendwelchen Gründen, die Emma schleierhaft blieben, ließ Durant mit seinem lässigen Charme sie insgeheim die Augen verdrehen und schnauben. Er war vor zwei Tagen nett zu ihr gewesen. Er hatte versucht, sie zu retten, obwohl es ihr eigener Leichtsinn war, der sie schließlich auf die Straße führte. Ihr fehlender Orientierungssinn war zudem schuld, dass sie sich tief im Wald verirrt hatte, plötzlich einem Wolf gegenüberstand und dann … einem gespenstischen Gesicht ohne Augen. Sie erstarrte. Die Geräusche um sie verschwanden. Die Teller fielen aus ihren tauben Fingern. Sie fielen ganz langsam Richtung Boden, trafen auf die Holzdielen und zerschellten.
Schon im selben Augenblick konnte sie wieder etwas hören und sich bewegen. Ein Blick in die Runde verriet ihr, dass alle sie anstarrten. Einige missbilligend, andere ungeduldig. »Das tut mir leid. Sehr.« Sie kniete sich hin und versuchte, die größten Scherben aufzusammeln.
Lady Fanchere sagte: »Lass das, Emma. Mir ist zu warm.«
Emma atmete tief durch, richtete sich auf und nahm den Schal von Lady Fancheres Schultern.
»Seid Ihr sicher, dass sie in der Akademie der Gouvernanten ausgebildet wurde? Sie scheint jedenfalls nicht über das nötige Geschick zu verfügen, um eine Gesellschaftsdame zu sein«, bemerkte Lady Nesbitt spitz.
Emma zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Sie ist genau das, was ich will«, erklärte Lady Fanchere fest.
»Geht es Euch gut, liebe Lady Fanchere?« Besorgt beugte Alceste sich zu ihr herüber. »Erst war Euch kalt, jetzt klagt Ihr über die Hitze.«
Im selben Moment lehnte Lady Nesbitt sich weit zurück, als wollte sie so verhindern, sich anzustecken. »Ihr habt Euch doch nichts eingefangen, oder?«
Lady Fanchere legte die Hand auf die Stirn. »Ich weiß nicht …«
»Ihr seht tatsächlich etwas erhitzt aus«, mischte Durant sich ein. »Ich habe gehört, in der Unterstadt sei die Pest wieder ausgebrochen.«
Seine Bemerkung zeigte sofort Wirkung. Die Damen sprangen auf, drückten ihre Sorge aus und eilten im nächsten Moment zur Tür. Sie ließen Lady Fanchere, Emma und Durant allein, während zwei Lakaien die Teller abräumten und den Boden säuberten.
Lady Fanchere lachte leise. Sie bedeutete Emma, sich zu setzen. »Ich danke Euch, Michael. Das war sehr clever. Ich wurde es langsam leid, mit ihnen zu reden. Also – ich habe eine Aufgabe für Euch. Wärt Ihr so gut, Emma zu begleiten, damit sie ihre Sachen von Lady Lettice holen kann?«
»Oh, nein!« Bei dem Gedanken, Lady Lettice noch einmal zu begegnen, rang Emma die Hände. »Es ist nicht nötig …«
»Oh doch, und wie es nötig ist. Ich will, dass Ihr Euch wohlfühlt, und dazu gehören auch Eure Sachen. Eure Kleider. Erinnerungsstücke.« Lady Fanchere blickte Emma direkt in die Augen. »Und Eure medizinischen Gerätschaften.«