19

Dodd.eps

Emma saß in ihrem Bett und hatte sich Kissen in den Rücken gestopft. Das Buch lag offen in ihrem Schoß.

Alles war so wie in der letzten Nacht. Ihr Nachthemd war weiß, sauber und abgetragen, und sie hatte es wieder bis zum Hals zugeknöpft. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten und sorgfältig über eine Schulter drapiert. Wie schon am vorangegangenen Abend grollte in der Ferne Donner und kam langsam näher. Ein erster Lufthauch wehte durch das offene Fenster als Vorbote des Sturms.

Aber Emma las nicht. Sie lauschte. Lauschte, ob sie die Schritte eines Mannes auf dem Gang hörte.

Das Hotel war still. Alle schliefen.

Sie sollte sich lieber nicht wünschen, dass er kam. Sie hatte sich heute absolut dumm verhalten. Es war eins, wenn man glaubte, dem Mann etwas schuldig zu sein, der einen vor dem sicheren Tod gerettet hatte.

Letzte Nacht hatte sie ihm diese Schuld zurückgezahlt.

Aber warum hatte sie so interessiert zugehört, als Fürst Sandre ihr seinen Plan darlegte, wie er den Schnitter gefangen nehmen wollte? Warum hatte sie sich so verzweifelt gewünscht, einen Weg zu finden, ihm von der Falle zu berichten?

Sie konnte sich ruhig einreden, dass es so war, weil sie von den Zuständen in der Unterstadt entsetzt war und helfen wollte. Das stimmte schließlich auch. Aber ihre angespannte Erwartung bewies ihr an diesem Abend, dass es noch etwas anderes gab, das sie antrieb.

Sie wollte den Schnitter wiedersehen. Sie wollte, dass er ihr dankbar war. Sie wollte, dass er Fürst Sandre entkam, damit er in ihre Arme zurückkehren konnte und sie so küsste, wie er sie letzte Nacht geküsst hatte. Denn letzte Nacht hatte sie eine ganz neue, unerwartete Facette ihrer eigenen Persönlichkeit kennengelernt. Sie war oberflächlich und ließ sich leicht von einer Leidenschaft hinwegfegen – sie, die Tochter eines Pfarrers!

Sie lachte leise.

Die Kerze flackerte im Luftzug.

Emma schaute die Kerze an. Dann sah sie ihn – eine reglose Gestalt, gekleidet in ein Leichentuch. Er stand im Schatten und wartete.

Sie hätte darauf vorbereitet sein müssen, ihn wiederzusehen, doch sie schnappte überrascht nach Luft. Zuckte zusammen. Schrie leise. »Du bist es.« Sie legte die Hand auf ihr hämmerndes Herz und wiederholte: »Du bist es. Du hast mir Angst eingejagt!«

Er antwortete nicht.

»Wie bist du hier reingekommen?«

Natürlich antwortete er noch immer nicht. Aber er trat ins Licht.

Er glitt mit einer unheimlichen Lautlosigkeit durch den Raum. Es war fast, als wäre er tatsächlich ein Geist, obwohl sie sehr genau wusste, dass er das nicht war. Letzte Nacht hatte er ihr das bewiesen.

»Hast du meine Nachricht bekommen?«, fragte sie.

Die Freude, die sich auf seinem Gesicht kurz abzeichnete, schwand sofort wieder. Er zog seine weißen Handschuhe aus und steckte sie unter den Gürtel. Dann legte er eine Hand über sein Herz und verbeugte sich.

Sie lehnte sich entspannt gegen das Kopfteil des Betts und erwiderte das Lächeln. »Gut.« Sie hatte ihm helfen können. »Mr Lawrence ist dein Freund? Du hast ihn mir geschickt?«

Erneut verneigte der Schnitter sich.

Sie sah seine bloßen Hände; sie hatten lange Finger, breite Handflächen. Waren gebräunt und sahen aus, als könnten sie zupacken. Der Anblick dieser Hände bewegte sie. Es kam ihr vor, als habe er ihr eines seiner Geheimnisse enthüllt, indem er ihr einen Teil von sich zeigte, den sonst niemand kannte.

»Ich werde weiter für dich spionieren«, erklärte sie.

Er schüttelte heftig den Kopf. Ein ausdrückliches Nein.

»Ich will aber. Wirklich, es ist ganz leicht. Ich muss nur Fürst Sandre umschmeicheln, die Augen weit aufreißen und ihn fragen, ob ich je vor dem großen, bösen Schnitter in Sicherheit sein werde.« Emma machte einen verführerischen Schmollmund. Das war eine Fähigkeit, von der sie bisher keine Ahnung gehabt hatte, dass sie sie besaß. »Dann wird er mir bestimmt alles sagen.«

Der Schnitter runzelte die Stirn und schüttelte dann erneut den Kopf.

»Warum nicht? Er hat seine Spione überall. Ich habe die Unterstadt besucht, und er hat davon erfahren. Er wusste, wen ich besucht habe und was ich dort getan habe. Jemand von dort muss es ihm gesagt haben, und das ist nicht gerecht. Du musst wissen, wer seine Spione sind.«

Das werde ich schon herausfinden.

Sie verstand ihn, selbst ohne Worte. »Ich will dir aber helfen.« Sie musste ihm ja nichts von Fürst Sandres Absicht erzählen, um sie zu werben. Oder davon, wie sehr er sie ängstigte. Sollte der Schnitter ruhig glauben, dass es ihr leichtfiel, für ihn zu spionieren. »Ich habe dir doch geholfen, oder?«

Draußen grollte der Donner und kam immer näher. Erneut flackerte die Kerze im Luftzug.

Er nickte. Dann bewegte er die Lippen, als wollte er etwas sagen, doch er legte die Hand über den Stoff, der seine Kehle bedeckte. Dann fuhr er mit einer ungeschickten Bewegung herum – es war das erste Mal, dass sie ihn so hektisch erlebte – und stolperte zur Tür.

»Warte!« Sie kroch aus dem Bett.

Er drehte sich um. Sie glaubte zu bemerken, dass er es mit einem gewissen Eifer tat.

Drei Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. »Willst du mich denn gar nicht küssen?«, stieß sie hervor.

Er erstarrte.

Beschämt schloss sie die Augen. Hatte sie das wirklich gerade gesagt?

Seine Stiefel schlurften über den Boden. Der Duft des Schnitters – nach Leder, Pferd und Mann – überflutete ihre Sinne.

Sie riss die Augen auf.

Er stand jetzt direkt vor ihr. Seine Hand schwebte über ihrem Kopf, und gerade so, als könnte er ihr nicht widerstehen, berührte er leicht ihre Haare. Ganz langsam ließ er die Finger über ihren dunklen Zopf gleiten und folgte ihm über ihre Schulter zu der Stelle, wo er auf ihrer Brust ruhte.

Sie stellte einen nackten Fuß auf den anderen.

Er betrachtete ihr Gesicht, als könne er sich von diesem Anblick nicht losreißen. Sein Blick war intensiv. Leidenschaftlich. Ihr schien es, als sei sie in seinen Augen die bezauberndste Frau auf der Welt. Als wünschte er sich nichts sehnlicher, als diesen Moment mit ihr zu genießen.

Langsam und stockend atmete sie tief ein.

Sein Blick glitt zu ihren Brüsten, die sich gegen das dünne Material drückten.

Seine Hand war ihr nah. Sehr nahe. Er hielt ihren Zopf umfasst. Er atmete ebenfalls langsam ein, ganz im Rhythmus ihrer Atemzüge. Er wollte sie. Sie wusste, dass er sie wollte.

Dann schien er sich zusammenzureißen. Er schüttelte einmal mit Nachdruck den Kopf und machte einen Schritt nach hinten.

Sie packte seine Hand und drückte sie gegen ihre Brust.

Die Hitze in ihrem Innern wurde neu entflammt. Es schien, als werde die Baumwolle zwischen ihnen einfach versengt und als stünde sie nackt und vor Verlangen zitternd vor ihm. Sie wollte, dass er seine Hand nach unten bewegte und ihre Brust umfasste. Er sollte ihren Nippel streicheln. Sollte irgendwie dafür sorgen, dass dieses schwellende Gefühl aufhörte. Oder sich steigerte.

Seine breite Hand bewegte sich. Er hob ihre Brust leicht an, drückte die Handfläche gegen ihr sehnendes Fleisch. Er nahm den Nippel zwischen Daumen und Zeigefinger und massierte ihn leicht.

Eine überraschende Empfindung ließ sie rückwärts taumeln.

Er fing sie auf. Sein Arm lag um ihre Taille und half ihr, sich wieder aufzurichten. Dann hielt er sie, während er ein zweites Mal über ihren Nippel strich. Seine Finger nahmen einen langsamen, beständigen Rhythmus auf.

Er tat ihr nicht weh. Doch diese Empfindung trieb sie fast in den Wahnsinn. Das schmerzliche Ziehen in ihren Brüsten und ihrem Schoß verstärkte sich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und hämmerte in der Brust bis hinauf in den Hals. Mit seiner Berührung brandmarkte er sie. Sein Geruch umhüllte sie. Emma blickte in sein Gesicht. Wenn sie ihn wenigstens sehen könnte. Richtig sehen. Aber wie schon zuvor bedeckte die Maske die obere Hälfte seines Gesichts und reichte bis über seine Wangen. Die dicke weiße und schwarze Schminke verlieh ihm das Aussehen eines knöchernen Ghuls. Eine Kapuze bedeckte seine Haare.

Wenn sie ihm im Licht des Tages begegnen würde, könnte sie ihn nicht wiedererkennen. Und dieser Mann hielt ihre Brust in der Hand und ihre Leidenschaft im Zaum. »Bitte«, flüsterte sie.

Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. Es war nur ein Hauch, nur ein Versprechen.

Ihre Lippen öffneten sich ihm seufzend.

Sein unausgesprochener Schwur wurde Wirklichkeit. Sein Kopf neigte sich ihrem zu, und ihre Lippen berührten sich leicht. Er erkundete sie mit seinem Atem und seiner Zunge, bis sie die Augen schloss und verlangend wimmerte.

Ein Blitz zuckte und erhellte die Welt hinter ihren geschlossenen Augen. Der Donner knallte. Es war ein herrliches, wildes Schauspiel.

Er hielt sie immer noch von sich weg. Sie lag zwar in seinen Armen, doch er hielt unwillkürlich Abstand.

Sie näherte sich ihm.

Er zog sich von ihr zurück.

Zugleich reizte er sie. Liebkoste ihre Brust unendlich zärtlich, bis sich in ihrem Innern eine dunkle Qual aufbaute, die mit dem hellen Blitz draußen verschmolz.

Als sie es nicht länger aushielt, krallte sie sich in das flatternde Leichentuch, in das er sich gehüllt hatte, und zog sich an ihn.

Er lachte lautlos an ihren Lippen. Seine Hand ließ von ihrer Brust ab und glitt hinauf zu ihrem Hals. Er öffnete behutsam die winzigen Knöpfe, die ihr Nachthemd verschlossen hielten.

Die Öffnung offenbarte nichts. Die meisten Kleider hatten einen weiteren Ausschnitt als ihr Nachthemd jetzt aufwies. Aber sie waren allein, es war finstere Nacht, und sie standen in ihrem Schlafzimmer. Sie trug nichts unter dem hauchdünnen Baumwollstoff. Als er die Finger unter den Kragen schob und über die zarten Knochen ihres Schlüsselbeins streichelte, fühlte sie sich nackt. »Bitte.« Dieses Mal war es weniger ein Flehen, sondern vielmehr Zeichen ihrer Befangenheit.

Selbst sie wusste, dass es dafür jetzt zu spät war.

Er drückte sie gegen die Wand und zwang ihren Kopf in den Nacken. Seine Lippen waren an ihrer Kehle, glitten hinauf zu ihrem Ohr. Sein heißer Atem streifte ihre empfindliche Haut. Seine Brust und das Kostüm rieben sich an ihr, und ihre Nippel zogen sich hart zusammen. Sie war von dieser neuen Empfindung vollends überwältigt.

Ihre Wahrnehmung wurde geschärft. Sie nahm ihn viel deutlicher wahr. Sie war sich ihrer selbst bewusst, wie sie immer verzweifelter nach ihm verlangte. Tränen der Sehnsucht brannten hinter ihren geschlossenen Lidern.

Er schob seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine und hob sie leicht an, bis sie rittlings auf seinem Bein saß.

Diese Berührung brachte sie dazu, das Kreuz durchzudrücken. Sie erschauerte und grub die Fingernägel in seine Schultern. Es war ungehörig, das zuzulassen. Ein Mann – dieser Mann – durfte nicht so viel über ihren Körper wissen. Er durfte nicht so geübt ihr Verlangen ausnutzen und zugleich … Oh Gott. Die schaukelnde Bewegung setzte ihre Nervenenden in Brand, es loderte bis in ihre Fingerspitzen, ihre Brüste und tief in ihrem Unterleib. Sie wurde vor Befangenheit fast ohnmächtig, die Verzweiflung hatte sie ebenso gepackt wie dieses plötzliche Fest der Sinne, nach dem sie sich so lange verzehrt hatte, ohne es zu wissen.

Es schien, als habe sie ewig darauf gewartet, diesem Wahnsinn zu verfallen. Und doch hatte sie bis zu diesem Augenblick gar nicht gewusst, dass ein Rausch wie dieser existierte.

Sanft biss er sie ins Ohrläppchen, dieser einzelne, stechende, kleine Schmerz war der Funke, den sie brauchte. Die Leidenschaft entzündete sich daran und überflutete ihren Körper. Sie war völlig unvorbereitet und erschauerte. Presste sich gegen seinen Oberschenkel und noch näher an ihn. Sie stöhnte auf und gab sich ganz dem Sturm der strahlend hellen Lust hin. Sie stürmte durch diese chaotische Erfüllung. Und die ganze Zeit klammerte sie sich an ihn, als ginge es um ihr Leben. Sie war ihm näher als je einem anderen Menschen.

Endlich war der lustvolle Sturm über sie hinweggefegt. Sie wurde in seinen Armen schlaff.

Als ihre Atmung sich beruhigte und sie ihre Sinne wieder beisammenhatte, die sich in diesem lustvollen Sturm in alle Windrichtungen verstreut hatten, bemerkte sie schließlich die vom Regen abgekühlte Brise, die durch das offene Fenster strömte. Sie war in dieser winzigen Kammer mit ihm allein. Er drückte nicht länger die Lippen auf ihre Haut, sondern hob sie hoch und stellte sie auf die Füße. Sie klammerte sich wieder an ihn. Dieses Glück sollte kein Ende finden. Doch er ließ sie los. Hielt sie nur noch locker umfasst und ließ die Hände an ihrem Rücken auf und ab streicheln, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Auch er kam langsam wieder zu Atem.

Sie schaute zum Bett hinüber.

Er schüttelte den Kopf, doch ein leises Lächeln zauberte ein Grübchen in seine Wange. Seine Zurückweisung war nicht unfreundlich, sondern vielmehr bedauernd.

»Wirst du morgen Abend wiederkommen?« Hatte sie denn überhaupt keinen Stolz? Keine Raffinesse? Wenn sie derlei überhaupt je besessen hatte, war es in den erhitzten Minuten vollends verloren gegangen.

Er hob die Hände in einer hilflosen Geste.

»Ich weiß. Du hast anderes zu erledigen. Du musst Menschen helfen. Musst Ungerechtigkeiten berichtigen. Aber ich sehe Fürst Sandre morgen wieder.«

Der Schnitter schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine andere Wahl. Er ist Lady Fancheres Cousin.« Er wünscht, um mich zu werben, und Lady de Guignard hat angedeutet, dass seine Beweggründe keine guten sind. »Also kann ich ihm genauso gut zuhören. Wenn ich dich wiedersehe, kann ich dir Informationen weitergeben.« Doch dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke, und hastig fügte sie hinzu: »Aber wenn du glaubst, es ist zu gefährlich, herzukommen, bleib bitte fort. Ich könnte es stattdessen genauso gut Mr Lawrence erzählen.«

Der Schnitter nickte.

»Einverstanden.« Sie lächelte und versuchte, sich den Anschein zu geben, als kümmerte sie nicht, wie er davon erfuhr. »Bitte pass gut auf dich auf.«

Er machte eine Geste, die sie nur zu leicht verstand. Du aber auch.

»Versprochen.«

Er öffnete die Tür und schlüpfte so leise nach draußen, dass sie nicht einmal hörte, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde.

Der Wind frischte auf und hob ihr Nachthemd an, das um ihre Knöchel tanzte. Der Sturm tobte um das Hotel. Er war rasch näher gekommen und wütete mit unbändiger Kraft. Die Luft knisterte von den Blitzen.

Erst spät kehrte ihr gesunder Menschenverstand zurück.

Was hatte sie nur getan?

Sie hatte sich der Sünde hingegeben. Hatte der Leidenschaft nachgegeben. Sie hatte es genossen, in dieser Schande zu schwelgen.

Schlimmer noch … Sie wollte es erneut tun. Mit ihm. Mit dem Mann, dessen Gesicht sie niemals gesehen hatte. Dessen Stimme sie nie gehört hatte. Dessen Mut sie jedoch bewunderte und dessen Körper sie anbetete.

Ob er morgen Nacht zu ihr zurückkehrte?

Oder würde er heute Nacht sterben?