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»Findet Ihr, ich sollte das hier auch mit nach Italien nehmen?« Aimée fuhr mit der Hand über das weiß lackierte Holz ihres großen Klaviers, das in dem riesigen Musikzimmer ihres imposanten Anwesens stand.
»Spielt Ihr denn regelmäßig?« Emma beäugte ängstlich das knapp drei Meter lange Ungetüm.
»Ach, nein.« Aimée wackelte mit ihren kurzen Fingern. »Dafür sind meine Hände zu klein.«
»Dann denke ich, Ihr solltet ein Klavier dort mieten, wo Ihr Quartier nehmt.« Lady Fanchere hatte Emma zu Aimée geschickt, damit sie ihr beim Packen ihrer Habseligkeiten und dem Schließen des Hauses half. Jetzt wusste Emma auch, warum. Während Aimée den Krimskrams ihres Lebens sortierte und ausrangierte, musste jemand als Stimme der Vernunft fungieren.
Aber Emma hatte die letzten beiden Nächte am Bett von Michael Durant gewacht und ihn versorgt. Er lag im Witwensitz der Fancheres und kämpfte gegen das Fieber. Während ihrer Abwesenheit kümmerte Rubio sich so aufmerksam um ihn, als ob sie Brüder wären. Doch jede Minute, die sie bei Aimée damit verbrachte, ihr beim Packen zu helfen, machte sie sich Sorgen. Und das machte sie zornig.
Warum sorgte sie sich um das Schicksal eines Mannes, der sie belogen hatte? Der sie verführt hatte? Mein Gott, er hatte ihr sogar Vorwürfe gemacht, weil sie Fürst Sandre gestattete, um ihre Gunst zu werben. Dabei hatte er die ganze Zeit gewusst, warum sie das tat, er hatte sie sogar mit der Aussicht verspottet, er, Michael Durant – der Erbe des Duke of Nevitt – könne um sie werben wollen. Dabei hatte er sie bereits verführt und sie dazu gebracht, sich in den Schnitter zu verlieben. Also in ihn!
Wenn er nicht an dieser Infektion starb, würde sie ihn umbringen.
»Meine Liebe, geht es Euch nicht gut? Ihr seht so traurig aus.« Aimée wirkte ehrlich besorgt.
»Ich fürchte, ich bin vielleicht ein wenig müde.« Keine gute Entschuldigung, aber es stimmte wenigstens, und auf die Schnelle war es alles, was Emma einfiel.
»Setzt Euch hierhin.« Aimée zog das Laken von einem der Stühle. »Elixabete, lauf schnell und hol Emma ein Glas Wasser.«
Elixabete blieb stocksteif stehen. Sie hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen.
Emma hatte Mitleid mit dem armen Kind. »Nein, wirklich. Das ist nicht nötig. Wenn ich mich einen Moment lang ausruhen kann, genügt mir das vollauf.«
Lady Fanchere hatte Elixabete mitgeschickt, damit sie die beiden Frauen unterstützte, kleine Pakete trug und Botengänge machte. Aber das Kind war nicht die Hilfe, die Emma sich erhofft hatte. Nicht, dass Emma es Elixabete verdenken konnte. Vielleicht lag es an Emmas Erschöpfung, dass sie so überempfindlich war, aber sie empfand Aimées Haus als gespenstisch. Es war riesig. Größer als das Haus der Fancheres und mit zwei geschwungenen Treppen, die von der riesigen, marmorgefliesten Eingangshalle hinauf zu der Galerie im zweiten Stock führten, an die sich die Korridore anschlossen, an denen zahllose Türen mit Zimmern dahinter grenzen. Und noch mehr Zimmern, sodass man das Gefühl hatte, sich darin zu verirren und nie mehr zurückzufinden.
Alles im Haus – die Marmorfliesen und die Säulen, die Wände, die Möbel, die Vasen und jedes kleine Accessoire – war weiß und makellos. Sogar die Bilder an den Wänden waren blasse Wasserfarbkompositionen in verschiedenen, blassen Grautönen, und selbst die Diener waren in Weiß gekleidet – blasse Geister, die stumm durch diese schreckliche Parodie eines Himmels huschten.
Als Emma sich taktvoll nach der Einrichtung erkundigte, hatte Aimée erklärt: »Das ist Rickies Werk. Er wollte, dass das Haus sauber aussieht.«
Wenn man Emma fragte, sah das Haus nicht sauber aus. Es wirkte wenig einladend, geradezu karg. Gespenstisch. Sie wies Aimées Diener an, die Möbel mit Laken zu bedecken und Lady Fancheres Diener, Aimées Reisetruhen zur Kutsche zu tragen. Dabei ertappte sie sich immer wieder, wie sie sich umschaute, weil sie überzeugt war, jemand beobachte sie. Einmal beobachtete sie auch Elixabete dabei, wie sie sich umdrehte und dabei die Fäuste erhob, als wollte sie sich gegen dieses Nichts verteidigen.
Sogar Aimées Schlafgemach sah aus, als habe man jede Farbe ausgewaschen. Hier gab es keine Farbe und nichts Charakteristisches. Das verriet Emma mehr als alles andere, wie Aimée das Leben an Rickies Seite empfunden haben musste. Dieser Dame, die Blumen und bunte Kleider so sehr liebte und gerne lachte, war sogar verwehrt worden, ihre eigenen Zimmer einzurichten.
Offensichtlich nahm Aimée die abstoßende Kälte des Hauses nicht mehr wahr, denn sie packte ihre Sachen und lief die Treppen auf und ab, während sie fröhlich plauderte. Vielleicht bedeutete der Anblick ihres Gefängnisses ihr nun nichts mehr, nachdem sie alle Vorkehrungen für ihre baldige Flucht getroffen hatte. Sie entschied, was blieb und was weggeworfen werden konnte, und sie tat es fast blindlings. Dabei verschonte sie allerdings bisher nichts Weißes.
Aimée setzte sich zu Emma. Dann zog sie einen Hocker heran und tätschelte einladend die Sitzfläche.
Elixabete eilte zu ihr und kauerte sich auf den Stuhl. Sie kuschelte sich so eng wie möglich an Aimées Rock.
»Wenn ich nach Italien komme«, begann Aimée verträumt, »habe ich mir überlegt, ein Kätzchen aufzunehmen. Ich habe mir immer eine Katze gewünscht, aber Rickie meinte, sie verlieren zu viele Haare – und Schlimmeres. Ich habe immer gedacht, dieses Schlimmere sei es doch wert, wenn mir dafür die Freude vergönnt ist, ein kleines Geschöpf zu haben, das in meinen Schoß springt oder mir um die Beine streicht.«
Emma beobachtete, wie Aimées Hand über Elixabetes Haare streichelte. Immer und immer wieder. Eine unbewusste Bewegung voller Wohlbehagen und Nähe. »Ihr scheint mir eine Frau zu sein, die Dutzenden Katzen und Hunden ein Zuhause bieten könnte.«
»Ja, so eine Frau bin ich wohl.« Aimée strahlte. »Vielleicht werde ich mir auch einen Hund zulegen, wenn ich nach Italien ziehe. Fanchere hat für mich dort eine Villa gemietet. Da sollte doch jede Menge Platz für Tiere sein.«
Spontan fügte Emma hinzu: »Und vielleicht für einen Liebsten?«
Sofort wich jede Freude aus Aimée Augen. Ihr Gesicht wurde ganz leer und ruhig, sie schaute Emma nicht an und gab keine Antwort.
Das war Emma unendlich peinlich. Sie wusste, sie hätte niemals etwas Derartiges vorschlagen dürfen. Es war für eine unverheiratete Frau zu kühn, etwas in der Richtung auch nur anzudeuten. Aber sie wünschte sich so sehr, dass Aimée ihr Glück fand, sie stellte sich vor, wie Aimée in ihrer Villa lebte, um sich herum Blumen und ihre geliebten Tiere und in den Armen eines zärtlichen Mannes, der sie liebte, gerade weil sie so ein fürsorgliches, wunderbares, dummes Ding war. »Ich entschuldige mich für meine Worte«, sagte Emma. »Sie waren frech und unangebracht.«
»Aber überhaupt nicht, meine Liebe!« Aimée lächelte, aber sie versprühte nicht mehr die gewohnte Lebensfreude. »Was einen neuen Mann in meinem Leben angeht, muss ich wohl diesem Traum eine Absage erteilen. Einmal war mehr als genug.«
Emmas Herz schmerzte um Aimée willen, auch wenn sie absolut verstand, warum es so war. Denn jemanden zu lieben, war mit zu vielen Problemen und zu viel Kummer verbunden. Sobald sie Michael Durant geheilt hatte und er wieder auf den Füßen war, wollte sie aus Moricadia fliehen und nie mehr zurückblicken.
»Vielleicht komme ich als Eure bezahlte Gesellschaftsdame zu Euch nach Italien«, sagte Emma.
Aimées Hand verharrte in der Luft. Ihr aufrichtiges Lächeln war zurück. »Das würde mir gefallen.« Sie reichte Emma die Hand. »Aber mir würde es noch besser gefallen, wenn Ihr als meine Freundin kämt.«
Emma war so berührt, dass ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Sie nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie. »Das würde mir auch gefallen.«
Mit dem freien Arm umarmte Aimée Elixabete. »Und sie wird dich mitbringen, Elixabete. Wir werden dich im Lesen und Schreiben unterweisen und aus dir eine großartige Dame machen. Sollen wir das machen?«
Elixabete nickte und lächelte.
Die drei Frauen schoben die grausamen Geister einfach beiseite und genossen diesen Moment friedvoller Kameradschaft.
Dann stand Elixabete auf. »Wenn wir nach Italien wollen, sollten wir unsere Sachen fertig packen!«