18

Dodd.eps

Lady Fanchere blickte Fürst Sandre nach, als er sich entfernte. Dann nahm sie Emmas Arm und steuerte die Tür an. »Kommt. Wir müssen Aimée suchen.«

»Ja.« Weil Aimée sich vor Fürst Sandre in Acht nehmen musste. Und weil Lady Fanchere dieses streitsüchtige Funkeln in den Augen hatte.

Sie marschierten zur Doppeltür, überquerten den Platz und betraten ihr Hotel. Dort fanden sie Aimée in der Hotelhalle. Sie saß auf einem Stuhl und sah sehr besorgt und elend aus.

Völlig untypisch für sie schien das Lady Fanchere gar nicht aufzufallen. Sie legte eine Hand unter Aimées Arm und zog sie auf die Füße. »Komm mit. Wir gehen jetzt in Madam Merciers Laden.«

Aimées Augen leuchteten auf. »Wir gehen einkaufen?«

»Ja. Komm schon, Aimée. Du weißt doch, wie sehr ich deinen Rat in modischen Fragen schätze.« Lady Fanchere steuerte wieder auf den Ausgang zu. Sie versprühte eine Energie, wie Emma es bei ihr bisher noch nicht erlebt hatte.

»Was kaufen wir denn ein?«, fragte Aimée.

»Kleider für Emma.« Lady Fanchere ging voran und steuerte die Oberstadt an.

»Was? Aber warum?« Aimée beschleunigte ihre Schritte, um zu Lady Fanchere aufzuschließen.

»Wozu brauche ich denn noch mehr Sachen?« Emma strich über den Rock ihres Kleids. Dieses Kleid schätzte sie sehr und hatte es die letzten zwei Tage getragen, ohne es zu zerreißen oder mit Ruß zu beflecken.

»Aber Ihr könnt nicht in so einem Kleid in den Palast gehen«, erklärte Lady Fanchere.

Aimée atmete erschrocken ein. »Eleonore, warum ist es denn so wichtig, was sie trägt, wenn sie in den Palast geht? Sie ist nur deine Gesellschafterin.« Aimée warf Emma einen entschuldigenden Blick zu.

Emma nickte. Sie war überhaupt nicht beleidigt, denn Aimées freimütige Bemerkung lag auch ihr auf der Zunge.

»Das ist nicht wahr.« Lady Fanchere drehte sich um und stand nun mitten auf der Straße vor den anderen beiden Frauen. »Emma, ich vermute, Ihr wisst, dass ich mit Sandre über Euch gesprochen habe.«

»Ich dachte mir schon, dass es sich um mich drehte.« Emma biss sich auf die Unterlippe. »Mylady, er kam gestern in mein Zimmer, und ich habe ihn angefleht, wieder zu gehen. Ich habe ihm gesagt, es gehöre sich nicht. Ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste.«

»Das glaube ich Euch, Emma. Manchmal jedoch, wenn ein Mann reich ist und schon alles hat, muss ein Mädchen nichts anderes machen außer seine Aufmerksamkeit zu erregen. In Eurem Fall hat Sandre Euch im Nachtgewand gesehen …«

»Ich wünschte, das hätte er nicht getan!«, rief Emma erregt.

»… und war von Eurer Schönheit und Eurem Anstand sehr angetan«, vollendete Lady Fanchere. »Ich habe ihm erzählt, dass Ihr eine junge Frau mit einem bewundernswerten Charakter seid, und ich würde nicht zulassen, dass er Euch verführt. Er versicherte mir darauf, seine Absichten seien ehrenhaft.«

»Ehrenhaft?« Emmas Mut sank. In was für eine verzwickte Lage hatte sie sich nur gebracht? »Was meint Ihr damit?«

Lady Fanchere sprach es endlich aus. »Wenn Ihr einverstanden seid, würde er gerne mehr Zeit mit Euch verbringen, um herauszufinden, ob Ihr und er gut zueinanderpassen.«

»Ob sie zueinanderpassen?« Aimée riss entsetzt die blauen Augen auf und legte die Hand aufs Herz.

»Ob wir … Ihr meint, um zu … heiraten?« Das war nicht in Emmas Sinn gewesen, als sie den Schnitter in ihrem Bett versteckt hatte. Und ebenso wenig, als sie Fürst Sandre ermunterte, ihr seine Pläne darzulegen, wie er den Schnitter fangen wollte. Jetzt hatte sie ein wirklich ernstes Problem.

Lady Fanchere lächelte. Ihre Augen funkelten vergnügt. »Ihr seht verwirrt aus.«

»Das bin ich auch. Euch muss doch klar sein, dass ich das bin.« Emma verschluckte sich fast. »Ich bin doch nur … eine bezahlte Gesellschafterin!«

»Eleonore, hast du denn den Verstand verloren?« Aimée schrie beinahe. »Emma kann unmöglich den Fürsten heiraten!«

Die Leute auf der Straße drehten sich zu ihnen um und guckten.

Emma drückte das Kinn auf die Brust und wünschte sich sehnsüchtig, irgendwo anders zu sein.

»Pssst, Aimée. Sei doch still.« Lady Fanchere hakte sich bei ihnen unter und führte sie den Hügel hinauf und in einen kleinen, eleganten Laden.

Eine modisch gekleidete Frau mittleren Alters, die ganz in Schwarz gehüllt war, schaute von den Stoffballen aus Seide, Satin und Baumwolle auf. Ihre Augen erhellten sich, und sie kam ihnen eilig entgegen. »Lady Fanchere, Lady de Guignard, willkommen! Was kann ich für Euch tun?«

»Madam Mercier, dies ist Miss Chegwidden.« Lady Fanchere zeigte auf Emma.

Madam Mercier bedachte Emma mit einem flüchtigen Blick und hatte sich schnell ihr Urteil gebildet. »Ja, und?«

»Ich möchte, dass Ihr für Miss Chegwidden eine neue Garderobe entwerft.«

Madam Mercier schaute Hilfe suchend Aimée an.

Mit einer Sachlichkeit, die für ihr Wesen völlig untypisch war, fragte Aimée: »Aus welchem Grund, Eleonore?«

»Nein. Bitte, Lady Fanchere.« Emma fühlte sich schuldig und unwohl. Die ganze Sache war ihr schrecklich peinlich, und sie wünschte sich verzweifelt, dieser sich rasant in die falsche Richtung entwickelnden Sache zu entkommen.

»Seid doch nicht dumm.« Lady Fanchere legte den Arm um Emmas Taille und lächelte Madame Mercier an. Es war ein Lächeln, mit dem eine Adelige eine Person niederen Stands zu bedenken pflegte. »Stellt Euch einfach vor, Miss Chegwidden ist meine Tochter, die ich für ihre ersten Bälle und Gesellschaften ausstaffieren lassen möchte.«

Emma wandte ein: »Ihr seid nicht so alt, meine M…«

»Doch, das bin ich«, erwiderte Lady Fanchere kurz angebunden. Etwas ruhiger blickte sie ernst in Emmas Augen. »Ich bin wirklich so alt, und ich will das hier tun. Es wird ein richtiger Spaß. Davon habe ich schon mein ganzes Leben lang geträumt. Bitte tut mir den Gefallen.«

Was konnte Emma noch dagegen einwenden? »Eure Freundlichkeit weiß ich wirklich zu schätzen, und ich werde nie vergessen, wie tief ich in Eurer Schuld stehe, Lady Fanchere, aber …«

Lady Fanchere hatte kein Interesse an einem Aber. Sie verkündete: »Gut! Dann lasst uns mal schauen, was Ihr für uns tun könnt, Madam Mercier.«

Madam Mercier wechselte einen zweiten beredten Blick mit Aimée. Dann kam sie näher. Nachdenklich tippte sie sich gegen das Kinn, während sie Emma umkreiste, als wäre sie eine Schaufensterpuppe. »Ja. Ja. Sie ist jung. Schöne Haare. Eine exzellente Figur. Die Augen … hm. Hexenaugen. Stürmisch. Undurchschaubar. Die Farbe ändert sich je nach Stimmung. Im Mittelalter hätte man sie verbrannt. Lady Fanchere, ich werde Miss Chegwidden sehr hübsch aussehen lassen. Äh … wie viel plant Ihr …«

»Scheut keine Kosten und Mühen«, wies Lady Fanchere die Modistin an.

Madam Mercier machte erneut einen Knicks, und Emma sah das gierige Funkeln in ihren Augen. Sie war soeben auf eine Goldmine gestoßen. Eilig verschwand sie im Hinterzimmer.

»Eleonore, was tust du bloß?«, fragte Aimée erzürnt. »Du willst Miss Chegwidden – eine unschuldige Frau – Sandre ausliefern?«

»Sandre ist nicht so schlimm, wie du immer denkst, Aimée. Und selbst wenn er es ist, hat er inzwischen mit 35 ein Alter erreicht, in dem er sich nach einer Ehefrau umschauen sollte. Gut, ich habe ihn ein bisschen auch in die Richtung gelenkt. Aber er ist zudem in der beneidenswerten Position, sich keine Sorgen darum machen zu müssen, ob seine Zukünftige wohlhabend oder von Stand ist.«

Emma hatte noch nie in ihrem Leben etwas so ernst gemeint wie das, was sie jetzt sagte. »Auf mich trifft nichts davon zu, und diese Ehre ist einfach eine Nummer zu groß für mich.«

»Ihr stammt aus einer respektablen Familie und habt Euch als sehr belastbar erwiesen. Ihr seid freundlich und klug. Für mich habt Ihr alles, was eine Fürstin braucht«, sagte Lady Fanchere.

»Versteh Emma nicht falsch. Aber sie verdient etwas Besseres!« Aimée schaute Emma an. Ihre Augen blitzten empört. »Sandre bekommt keine Braut, die reich oder von Stand ist, weil kein Adelshaus in ganz Europa die Verbindung mit ihm sucht. Er ist wie Heinrich VIII. von England – wenn einer erst genug Leute umgebracht hat, will keiner mehr seinen Kopf an so einen verlieren. Sandre hat diesen zweifelhaften Ruf, sich mit Kriminellen und Halunken im Namen des Profits zu verbünden. Nicht, dass der Adel sich nicht auch mit Halunken verbünden würde. Aber die Halunken katzbuckeln vor ihnen. Die Kriminellen verneigen sich ehrfürchtig vor ihnen. Sandre würde sich hingegen selbst jedem beugen, solange nur seine Spielhöllen weiter betrieben werden können. Außerdem haben die Adeligen anderer Länder aus der Französischen Revolution gelernt und tun wenigstens so, als sorgten sie sich um das einfache Volk. Hier ist das Elend hingegen so groß, dass Sandres Politik für uns alle peinlich sein müsste.«

»Ach, Aimée! Die Trauer um Rickie hat dich ja völlig um den Verstand gebracht.« In Lady Fancheres Augen schimmerten Tränen, und sie sah wie eine Frau aus, die sich zwischen zwei Seiten entscheiden musste.

»Ich bin nicht um den Verstand gebracht, ich bin …« Aimée hielt die Luft an. »Sieh doch nur, Eleonore. Madam Mercier wartet mit einem Berg Kleidern auf den Armen. Ich glaube, sie will sich mit dir beraten.«

Lady Fanchere starrte Aimée an.

»Geh schon«, scheuchte Aimée sie weg. »Du machst dir einfach zu viele Sorgen.«

Weil Lady Fanchere ihre Freundin und Cousine liebte und ihr vertraute, trat sie zu Madam Mercier und ließ sich in ein ausgiebiges Gespräch über den richtigen Stil verwickeln.

Mit leiser Stimme redete Aimée hastig auf Emma ein. »Lasst Euch nicht darauf ein, Emma. Ich flehe Euch an. Eleonore will das hier nur um Sandres willen. Sie hört zwar die Gerüchte über ihn, aber sie will ihnen keinen Glauben schenken. Sie will weiterhin glauben, dass er ein anständiger Kerl ist. Aber sie wird sich schon bald der Tatsache stellen müssen, dass das nicht so ist. Sie hat ihn gedrängt, endlich zu heiraten, weil sie fest daran glaubt, die Liebe einer guten Frau werde ihn vor der Verdammnis bewahren, mit der er im Moment spielt.«

Emma hielt ihren Blick nach unten gerichtet. Sie hatte die Hände gefaltet und sprach sehr leise. »Das ist eine große Aufgabe für eine Frau.«

»Genau. Und jetzt will er Euch, und Ihr seid eine gute Frau. Genau das also, was Eleonore sich für ihn wünscht. Mein liebes Mädchen, nehmt es mir nicht übel. Ich bin sehr offen. Ich kenne Männer wie ihn, und ich kenne die kruden Gedankengänge, die sie antreiben.«

Aimée sprach über Rickie, wenn Emma das richtig deutete.

»Ja, Sandre fühlt sich zu Euch hingezogen. Weil Ihr ein hübsches Gesicht und gute Manieren habt. Aber am meisten zieht ihn Eure Tugendhaftigkeit an. Dass Ihr vor ihm keinen anderen Mann hattet und er deshalb gar nicht erst versuchen muss, Euch zufrieden zu stellen. Er will Euch, weil Ihr kein Geld und keinen Adelstitel habt und weil Ihr genau deswegen dankbar sein werdet, an seiner Seite aufzusteigen. Er will Euch, weil Ihr keine Familie und kaum Freunde in diesem Land habt. Er wird die vollkommene Kontrolle über Euch ausüben. Emma«, Aimée nahm Emmas Hände und blickte ihr tief in die Augen. »Ihr seid verarmt und einsam besser dran als gefangen in einer Ehe mit diesem Mann.«

Aimée war verzweifelt. Sie versuchte, Emma einen gut gemeinten Rat zu erteilen, und sie hatte zweifellos in der Vergangenheit ein paar schreckliche Erfahrungen gemacht, die sie dazu trieben. Emma spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Aber nichts konnte etwas an den Fakten ändern. Emma musste bleiben und dieses Spiel bis zum bitteren Ende mitspielen. Das Leben des Schnitters hing davon ab. Und wer konnte schon wissen, wie viele Leben von seinem abhingen? Emma sagte zu Aimée: »Mylady, ich danke Euch für Euren Rat und den Mut, den Ihr mir zusprecht. Ich glaube Euch. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diesem Schicksal zu entkommen. Aber im Moment zwingen mich die Umstände, zu bleiben.«

»Braucht Ihr Geld?«, fragte Aimée drängend. »Ich kann Euch Geld geben, damit Ihr nach England zurückkehren könnt.«

»Das ist es nicht.« Emma schaute zu Lady Fanchere, die noch immer in ihr angeregtes Gespräch mit der Modistin vertieft war.

»Ach, natürlich.« Aimées Augen füllten sich mit Tränen. »Ihr bleibt wegen meiner lieben Eleonore. Sie hat Euch von ihrer früheren Unfruchtbarkeit und ihrer Angst erzählt, dieses Kind nicht austragen zu können. Und Ihr fühlt Euch jetzt für ihr Wohl verantwortlich. Ihr seid so eine gute Frau!«

Was konnte Emma darauf erwidern? Nein, das ist es nicht? Denn das war nur zum Teil der Grund. Es ging ihr auch um den Schnitter und um Damacia und Elixabete … Und nachdem sie als Tochter eines Pfarrers und anschließend als unterdrückte Gesellschaftsdame bisher ein passives Leben gelebt hatte, war das hier endlich Emmas Chance, ein leidenschaftliches und erfülltes Leben zu führen!

Letztlich sagte sie nichts davon, sondern versuchte einfach, brav und besorgt dreinzuschauen. Sie schien damit Erfolg zu haben, denn Aimée seufzte und betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch.

Als Lady Fanchere rief: »Emma, kommt doch einmal. Madam Mercier ist jetzt so weit, dass Ihr die ersten Kleider anprobieren könnt«, wollte Emma am liebsten vor Schuldbewusstsein sterben.

Während sie mit Lady Fanchere sprach und Madam Merciers Vorschlägen lauschte, schlug ihr Herz hart in der Brust. Denn alles, woran sie denken konnte, war die eine Frage.

Ob er sie heute Nacht wieder besuchte?