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Dodd.eps

Moricadia, 1849

Als das Streichquartett aufhörte zu spielen, erkannte Comte Cloutier, dass dieser Moment genau richtig war, um die Aufmerksamkeit aller Gäste in Hörweite auf sich zu ziehen. »Lady Lettice, habt Ihr von dem Geist gehört, der nachts hier durch die Gegend reitet?«

Auf jeden Fall zog er die Aufmerksamkeit des Engländers Michael Durant auf sich, dem Erben des Duke of Nevitt. Auf Lord und Lady Thibaults exklusivem Ball hatte bisher nur wenig seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermocht. Diese Veranstaltung war das Ebenbild aller englischen Bälle, an denen er bisher teilgenommen hatte, und ebenso ähnelte er frappierend den preußischen Bällen, den französischen Bällen, den venezianischen Bällen … Er war durch ganz Europa gereist und hatte unterwegs beobachtet, dass die Reichen einander so lange gegenseitig imitierten, bis einer langweiliger wirkte als der andere.

Auch an diesem Abend spielten die Musiker, die Gäste tanzten, und das Essen war vorzüglich. Das Spielzimmer war gut besucht. Fürst Sandre und seine Schergen verliehen der Veranstaltung einen fürstlichen Hauch.

Aber bisher hatte Michael nichts belauscht, das für ihn von Bedeutung war. Bis jetzt. Und er wusste, das lag daran, dass Cloutier noch nicht realisiert hatte, wie schwerwiegend sein Fehltritt tatsächlich war. Er ahnte nicht, dass er schon morgen fort wäre. Man würde ihn aus Moricadia herauswerfen und nach Frankreich zurückschicken, spätestens dann würde er seinen Hang zur Schwatzhaftigkeit verfluchen.

Sichtlich interessiert näherte Michael sich der Gruppe Verehrer, die sich um Lady Lettice Surtees drängten.

»Ein Geist?« Lady Lettice stieß einen kleinen, schrillen Schrei aus, der eher zu einem jungen Mädchen passte. »Nein! Bitte sagt mir, was es mit diesem Geist auf sich hat.« Ehe Cloutier antworten konnte, drehte sie sich zu ihrer Gesellschafterin um, einer etwa zwanzig Jahre jungen Frau. »Mach dich nützlich, Mädchen!«, schnappte sie. »Fächle mir Luft zu! Mit so vielen Bewunderern zu tanzen ist schrecklich ermüdend.«

Das Mädchen – ein armes, unterdrücktes Ding mit einer Spitzenhaube auf dem stumpfen braunen Haar – nickte stumm. Aus dem großen Retikül, das sie an der Taille trug, zog sie einen elfenbeinfarbenen Fächer mit zarter Spitze, nahm hinter Lady Lettices rechter Schulter Aufstellung und begann, ihrer plötzlich erröteten und erhitzten Herrin frische Luft zuzufächeln.

Lady Lettice beklagte sich: »Es ist hier drin einfach zu warm. Findet Ihr nicht auch, dass es zu warm ist, Lord Escobar?«

Escobar wich nicht von ihrer linken Seite. »In der Tat, Senorita, es ist ungewöhnlich warm für einen Sommerabend in diesen Breiten.«

Es war eine ziemlich plumpe Schmeichelei, Lady Lettice als »Senorita« zu bezeichnen. Sie war eine Witwe in den frühen Vierzigern, ihre Wangen wurden bereits leicht schlaff – im Alter würde das ihr größter Makel sein. Aber ihr Busen war beeindruckend und wurde durch das ungehörig tief ausgeschnittene, gerüschte Mieder des Kleids noch betont. Ihre Taille wurde vom Korsett heftig eingeschnürt, weshalb sie vermutlich nur schwer Luft bekam und es kaum verwunderte, dass das Tanzen sie ermüdete.

Keine dieser Äußerlichkeiten war besonders wichtig. Denn Lady Lettice war wohlhabend, und das halbe Dutzend Männer, das sich um sie drängte, wusste davon. Sie rangelten um den besten Platz neben ihrem vergoldeten Stuhl, boten ihr Kelche mit gekühltem Champagner an, grinsten breit und musterten hinter ihrem Rücken prüfend die hübschen Debütantinnen, die an den Wänden des Ballsaals standen. Mädchen, die allemal hübscher und viel jünger waren, die aber ohne das nötige Vermögen daherkamen, das für eine gute Partie so wichtig war.

»Nun erzählt mir von diesem Geist, Cloutier.« Lady Lettice zog ein weißes Baumwolltaschentuch zwischen ihren Brüsten hervor und betupfte ihre verschwitzte Oberlippe.

»Dieser Geist … Sie nennen ihn den Schnitter. Er reitet in der Nacht in aller Stille. Eine riesige weiße Gestalt in zerfledderten Lumpen auf dem Rücken eines weißen Pferds. Seine Haut ist totenbleich, seine Kleider sind kaum mehr als Fetzen, und wo seine Augen sein sollten, sind nur schwarze Löcher. Eine Furcht einflößende Erscheinung, dennoch flüstern die Bauern seinen Namen voller Ehrfurcht und behaupten, er sei der Geist von Reynaldo, der seit zweihundert Jahren tot ist und der letzte König moricadischer Abstammung war.«

»Bauern«, sagte Lady Lettice abfällig. »Bauern haben doch keine Ahnung.«

»Da möchte ich Euch nicht widersprechen«, stimmte Cloutier zu. »Aber nicht nur Bauern haben dieses Gespenst gesehen. Reisende, die in diese schöne Stadt kommen, um von dem Heilwasser zu trinken und sich an den Spieltischen zu vergnügen, haben ihn auch gesehen. Es geht das Gerücht, dass man fliehen sollte, falls man kein Moricadier ist und das Pech hat, dem Schnitter zu begegnen. Denn dieses schreckliche Phantom«, Cloutier senkte seine Stimme, »ist das erste Zeichen des drohenden Untergangs.«

Michael schnaubte. Der Laut durchbrach die entsetzte Stille.

Lady Lettice blickte ihn an. »Ihr seid wahrlich impertinent! Wisst Ihr, wer dieser Mann ist?« Sie zeigte auf Cloutier.

Ihre Gesellschafterin mochte ein graues Mäuschen sein, aber sie war ein kluges, aufmerksames Mäuschen, denn sie quiekte leise, als wollte sie Lady Lettice warnen, und wedelte heftiger mit dem Fächer.

Ihre Herrin schenkte der jungen Frau keine Beachtung. »Er ist der Comte Cloutier und stammt aus einer der vornehmsten Familien Frankreichs. Man schnaubt nicht, wenn er spricht.«

»Das tut man sehr wohl, wenn man Michael Durant heißt und Erbe des Herzogtums Nevitt ist.« Cloutier verneigte sich vor Michael.

»Oh.« Lady Lettice versuchte gar nicht erst, von ihrer eigenen Unhöflichkeit peinlich berührt zu sein. Sie war dafür viel zu aufgeregt, da sich offensichtlich ein neuer, aussichtsreicher Verehrer zu ihnen gesellen wollte. »Mylord. Euer Gnaden.« Sie stotterte, weil sie nicht zu wissen schien, wie sie ihn anreden sollte.

Cloutier erwiderte Michaels Blick. Und obwohl er wusste, dass Lady Lettice mit ihrem Bemühen um Michael zu hoch griff, stellte er sie einander vor. »Lady Lettice Surtees, dies ist Lord …«

»Bitte.« Michael hob die Hand. »In England ist mein Name altehrwürdig. In Moricadia allerdings bin ich nicht mehr als ein politischer Gefangener. Ein Niemand. Ein Mann, der aufgrund der Unterdrückung durch die Herrscherfamilie und Fürst Sandre aus dem ihm vertrauten Leben gerissen wurde. Nennt mich einfach Durant. Es ist der einzig angemessene Titel für einen Mann wie mich, der in Ungnade gefallen ist … Ich gebe zu, ich sollte mich sogar schämen, den Namen meiner Familie so schäbig zu missbrauchen.« Seine Stimme war ein leises Krächzen.

Lady Lettice war erschüttert. »Ein politischer Gefangener? Ich bin entsetzt, Gentlemen. Entsetzt! Wie ist das möglich?«

»Das einzige Gespenst, das in Moricadia umgeht, bin ich, Mylady. Denn ehe man mir heute Abend erlaubte, mein Gefängnis zu verlassen, war meine Existenz kaum mehr als ein Gerücht.« Michael verneigte sich und schlenderte weiter. Seine Tragödie war so meisterhaft vorgebracht, dass er sich damit vermutlich die Bewunderung des Schauspielers Edmund Kean erworben hätte.

»Der arme Mann.« Lady Lettice flüsterte so laut, dass es jedem in ihrer Umgebung in den Ohren gellte. »Was hat er verbrochen?«

Michael blieb hinter einer Marmorsäule stehen und lauschte.

Zunächst antwortete niemand. Dann erklärte Escobar widerstrebend: »Durant ist mit den de Guignards aneinandergeraten. Ihnen gehört dieses Land. Sie herrschen hier. Der erste de Guignard hat einst König Reynaldo abgesetzt und ließ ihn ermorden. Jetzt unterdrücken die de Guignards die Moricadier und treten sie mit ihren juwelenbesetzten Stiefeln.« Er senkte die Stimme. »Es gibt Gerüchte über eine Rebellion und dass der wahre König zurückkehrt, um seinen Thron zu beanspruchen.«

»Wie romantisch!« Lady Lettice fasste sich ergriffen an den Busen.

»Das ist es, wenn man davon absieht, dass die de Guignards Durant beschuldigen, den Rebellen zu helfen. In den letzten zwei Jahren hat man geglaubt, er habe dafür mit dem Leben bezahlt. Erst kürzlich ist ans Licht gekommen, dass Lord und Lady Fanchere, die Vertraute und Verbündete von Fürst Sandres sind, ihn unter Hausarrest gestellt haben.« Escobars Stimme war nur noch ein Flüstern, als er ergänzte: »Es heißt, er hat die meiste Zeit dieser vergangenen zwei Jahre im mittelalterlichen Kerker unterhalb des königlichen Palasts verbracht.«

Es wurde totenstill, während die Männer zu Fürst Sandre herüberschauten. Er stand am anderen Ende des Ballsaals in der Nähe des kleinen Podiums, auf dem das Streichensemble spielte. In seiner förmlichen Uniform und mit unzähligen Orden an der Brust sah er adrett und weltmännisch aus. Speichellecker umstanden ihn, und er spielte die Rolle des edlen Fürsten ganz selbstverständlich. Er umschmeichelte die Reichen, die nach Moricadia kamen, um zu spielen, und er gestattete sogar, dass sie ihn mit den Schultern berührten. Ein zugänglicher Monarch, ein Hauch Fürstlichkeit fürs Volk.

Michael verabscheute Sandre für das, was er war. Und für das, was er vorgab zu sein.

»Aber ich verstehe nicht«, beharrte Lady Lettice. »Wie können die de Guignards es wagen, einen englischen Adeligen gegen seinen Willen festzuhalten?«

»Die de Guignards haben schon immer viel gewagt und gewonnen.« Cloutier klang verbittert; seine Familie hatte die vergangenen zweihundert Jahre nicht annähernd so heil überstanden.

»Im Falle Moricadias haben sie gewonnen und anschließend König Reynaldos Linie ausgerottet … Zumindest behaupten sie das. Die Rebellen behaupten aber etwas anderes. Nun, es bleibt die Tatsache, dass die de Guignards sich das alles hier«, Escobar zeigte mit beiden Händen zum Fenster, wo die hell erleuchteten Villen, Spielhöllen und edlen Heilbäder sich an den Hängen der Pyrenäen erstreckten, »unter den Nagel gerissen haben. Aber wir wagen nicht, laut darüber zu zu reden.«

»Warum nicht?« Vor Aufregung wurden Lady Lettices Augen riesengroß.

»Weil Fürst Sandre seine Spione überall hat, und er toleriert keine Andersdenkenden in seinem Land.« Escobar verbeugte sich. »Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigt? Ich habe da drüben einen alten Freund gesehen, den ich begrüßen muss.«

Michael trat hinter der Säule hervor und nickte dem Mann zu, als dieser an ihm vorbeieilte. Kluger Escobar. Er würde sich eine andere reiche Witwe suchen. Eine, die nicht im Zentrum eines heraufziehenden, möglichen Aufruhrs stand.

Mr Graf, ein gut gekleideter, junger Mann von 22 Jahren mit goldenen Locken, die ihm neckisch in die Stirn fielen, nahm sogleich seinen Platz ein.

Mr Graf hatte letzte Nacht im Spielzimmer eine ziemliche Pechsträhne erwischt; er brauchte eine wohlhabende Braut, und zwar möglichst schnell, bevor sein Vater in Deutschland das ganze Ausmaß des Schadens entdeckte.

Natürlich widmete er der kleinen Gesellschafterin keinen Blick, die noch immer eifrig Lady Lettices Hals Luft zufächerte. Die anderen Verehrer ignorierten sie ebenfalls.

Allesamt Narren. Das Mädchen war wie ein nervöses Kaninchen. Die triste, graue Wolle ihres schlichten Kleids schmeichelte ihrer blassen Gesichtsfarbe nicht, und der Schnitt verbarg vollständig, was durchaus eine schön geformte Figur sein mochte. Sie war dünn und wirkte beinahe zerbrechlich. Sie hatte typisch englische Gesichtszüge, und vielleicht hätte Michael sie sogar hübsch gefunden. Aber sie hielt das Kinn gesenkt, die Augen niedergeschlagen, und die Schultern waren nach vorne gekippt, als fürchtete sie, jeden Augenblick auf die Wange geschlagen zu werden.

Wenn man Michael fragte, wären die Lords und Gentlemen, die verzweifelt um Lady Lettices Aufmerksamkeit buhlten, um sie glücklich in den Hafen der Ehe zu geleiten, gut beraten, wenn sie sich stattdessen ihre geduckte Dienerin anschauten. Michael wusste nicht, ob das Mädchen immer schon so verängstigt gewesen war, aber er würde alles darauf wetten, dass erst Lady Lettice ihren Willen vollständig gebrochen hatte. Die junge Frau wirkte auf ihn, als halte Lady Lettice sie kurz und ließe sie hungern. Auf jeden Fall fürchtete sie sich zu Tode.

Gut möglich also, dass Lady Lettice ihre Verehrer über ihr wahres Wesen täuschte. Doch sobald sie verheiratet war, würde sie dem armen Tropf die Kontrolle nicht überlassen.

Der unglückliche Mr Graf drängelte sich zwischen den ehrgeizigen Count Rambaudi von Piemont und den englischen Lord Bedingfield. Das Ergebnis war desaströs – für die Gesellschafterin. Sie stießen gegen ihren Arm. Der Fächer schlug gegen den Hinterkopf von Lady Lettice und ließ die Löckchen über ihrem Ohr abstehen. Wie ein hungriger Wolf fuhr sie zu der jungen Frau herum. »Du schreckliches Mädchen! Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen?«

»Ich wollte nicht …« Die Stimme der jungen Frau passte zu ihrem Verhalten: leise und verängstigt. Sie zitterte.

In aller Eile richtete Lady Lettice ihre Haarnadeln wieder, doch als die junge Frau versuchte, ihr zu helfen, schlug sie nach ihren Händen. »Verschwinde schon, dummes Ding. Ich sollte dich sofort auf die Straße setzen. Das sollte ich tun.«

»Nein Ma’am, bitte nicht! Es wird kein zweites Mal vorkommen.« Die junge Frau schaute zu den Männern, die sie umstanden, und suchte vergeblich Hilfe. Keiner der verarmten Aristokraten und Gentlemen, schon gar nicht jene, die sie in diese Schwierigkeiten gebracht hatten, scherten sich auch nur im Geringsten um das Schicksal einer Dienerin. »Ich flehe Euch an. Lasst mich bei Euch bleiben.«

»Es tut ihr eigentlich nicht leid«, erklärte Lady Lettice den anderen. »Sie sagt das nur, weil sie eine Waise ohne Familie ist. Ohne meine Freundlichkeit müsste sie verhungern. Nicht wahr, Emma?«

»Ja, Ma’am.« Emma zupfte das Tuch um Lady Lettices Schultern zurecht, dann nahm sie das Taschentuch, das Lady Lettice umklammert hielt, und betupfte ihre Wange.

»Also gut, hör schon auf damit.« Lady Lettice schob sie weg. »Du machst mich rasend. Ich behalte dich, aber wenn du mich noch einmal schlägst …«

»Das werde ich nicht! Ich danke Euch.« Emma machte einen Knicks. Und noch einen.

»Eigentlich …« Lady Lettice nahm das Taschentuch entgegen und starrte es nachdenklich an. Michael konnte förmlich sehen, wie ihr Verstand begann zu arbeiten und etwas Bösartiges ersann. »Ich möchte das hier gerne angefeuchtet haben. Geh zu den Waschräumen und mach es nass.«

»Wie Ihr wünscht, Lady Lettice.« Emma nahm das Taschentuch und eilte davon.

»Seht genau hin, Gentlemen«, sagte Lady Lettice. »Das wird unterhaltsam. Dieses dumme Ding hat absolut keinen Orientierungssinn. Sie geht nach rechts, wenn sie nach links muss, nach Norden, wenn ihr Ziel im Süden ist. Die Waschräume befinden sich rechts, daher wird sie nach links gehen.«

Die Männer um sie herum beobachteten, wie Emma zu der Tür ging und zögerte.

Im Stillen drängte Michael sie, nach rechts zu gehen.

Aber wie versprochen wandte sie sich nach links.

Der kleine Kreis der Speichellecker brach in schallendes Gelächter aus.

Michael verzog das Gesicht.

Lady Lettice kicherte. »Möchten die Gentlemen gerne wetten, wie lange es dauert, bis meine dumme Gesellschaftsdame ihren Weg zu mir zurückfindet?«

»Weidmannsheil!«, rief Bedingfield. »Und ich wette, Euer Taschentuch wird noch immer staubtrocken sein, wenn sie zurückkommt.«

Die kleine Gruppe drängte sich um Lady Lettice, und sie machten sich einen Spaß daraus, ein Mädchen zu verhöhnen, das keinem von ihnen etwas Böses getan hatte.

Michael, der schon immer eine Schwäche für Außenseiter gehabt hatte, ging leise davon. Er wollte die bedauernswerte Gesellschaftsdame vor ihrer eigenen Dummheit bewahren.