23

Dodd.eps

Als Emma in ihr Schlafzimmer eilte, wischte sie sich ein paar Wuttränen von den Wangen.

Wie konnte Durant es nur wagen, sich ihr gegenüber so kritisch zu äußern? Was wusste er schon über Frauen »wie sie«? Sein ganzes Leben war das eines Privilegierten gewesen. Zumindest bis auf die letzten zwei Jahre. Es war dumm von ihr, sich um seine Meinung zu scheren, wenn er lieber in Moricadia blieb und sich dem Müßiggang hingab, statt irgendetwas zu unternehmen, um die Sorgen seiner Familie zu zerstreuen. Er war ein Mann, der nur wenig Ehre und Loyalität im Leib hatte.

Dennoch konnte sie nicht vergessen, wie gut er zu Elixabete und Damacia gewesen war. Und sie wusste, dass sie zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort von seinem Interesse an ihr bezaubert gewesen wäre.

Sie konnte sich einfach keinen Reim auf diesen Mann machen. Erst war er faul, dann war er nett zu ihr. Danach warnte er sie, sich um ihrer selbst willen vor Fürst Sandre zu hüten. Anschließend beschuldigte er sie, nicht besser als eine Straßenhure zu sein, die ihren Körper für Geld verkaufte.

Sie wollte gerade die zweite Treppe zu ihrer Schlafkammer hochlaufen, die bei den Dienstbotenquartieren unter dem Dach lag, als Tia sie aufhielt. »Miss Chegwidden, erinnert Ihr Euch noch an mich? Ich bin das Mädchen, das Euch an Eurem ersten Tag hier betreut hat.«

»Du bist Tia.« Tia verhielt sich merkwürdig. Sie schaute Emma nicht an und gab sich extrem unterwürfig. »Was ist denn los?«

»Ich danke Euch für Eure Güte.« Tia machte einen Knicks. »Ich bin hier, um Euch zur Seite zu stehen. Euer Gemach wurde woandershin verlegt.«

»Es wurde verlegt?« Emma rieb mit dem Taschentuch über ihre rotgeweinten Augen. »Aber warum denn?«

»So lauteten meine Anweisungen, Ma’am. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet …«

Emma schaute die enge Treppe hinauf. Dann beeilte sie sich, dem Mädchen zu folgen. »Also gut. Aber ich muss noch meine Sachen holen.«

»Ich habe bereits alles in Euer neues Gemach bringen lassen. Es war nicht besonders viel, darum brauchte ich dafür keine Hilfe.« Tia sagte es so ungerührt, dass Emma genau spürte, wie es gemeint war. Das Mädchen übte damit insgeheim Kritik an ihr.

»Tja, ich vermute, da hast du recht.«

Das Mädchen führte Emma den breiten Gang entlang, vorbei an alten Ölgemälden und goldgerahmten Spiegeln. Sie blieb vor einer breiten Tür stehen. Sie öffnete die Tür und wartete, dass Emma vor ihr eintrat.

Emma schnappte unwillkürlich nach Luft, als sie den großen, üppig ausgestatteten Raum betrat. Ein Orientteppich aus braunem, rotem und cremefarbenem Flor bedeckte den Großteil des gebohnerten Holzfußbodens. Ein Spiegel hing über dem Toilettentisch, auf dem sich zahlreiche Tiegel und Töpfchen drängten. Ein roter Samtpolstersessel stand auf einer Seite des offenen Kamins, in den jemand vorsorglich Holzscheite gestapelt hatte.

Während Emma sich ungläubig umschaute, kniete Tia schon vor dem Kamin und entzündete ein Feuer. »Es ist zu warm für ein Feuer«, wandte Emma ein.

»Sobald die Sonne untergeht, wird der Abend sehr frisch, und Ihr werdet die Wärme nach Eurem Bad zu schätzen wissen.«

Nach meinem Bad?

Tia schloss die bernsteinfarbenen Samtvorhänge vor den Fenstern und öffnete die Bettvorhänge. Dahinter verbarg sich ein riesiges Bett. Sie ging zu einem großen Schrank und öffnete ihn. »Ich habe Eure Kleider hier aufgehängt«, erklärte sie. »Eure Unterwäsche und die Nachtwäsche findet Ihr hier.« Sie zeigte Emma die Kommodenschubladen. »Außerdem habe ich mir die Freiheit genommen, schon ein Nachthemd und einen Morgenmantel für Euch herauszulegen.« Sie wies zum Bett.

Emma glotzte nur sprachlos die mit Spitze verzierten Sachen an.

Ein leises Klopfen an der Tür ertönte.

»Das wird das Wasser sein.« Tia ließ eine Prozession aus Dienstmädchen ein, die Krüge mit dampfendem Wasser in das Gemach trugen. Zwei kräftige Mägde aus der Spülküche folgten mit einer großen Badewanne zwischen sich.

Brimley tauchte in der Tür auf. Er trug ein Tablett, auf dem ein kaltes Abendessen angerichtet war. Das Tablett überreichte er Tia, die es auf dem Tisch neben dem Bett abstellte. Während er darüber wachte, dass die Badewanne ordnungsgemäß aufgestellt und befüllt wurde, fragte Brimley: »Ist alles zu Miss Chegwiddens Zufriedenheit?«

Sie starrte ihn entsetzt an.

Er sprach mit seiner professionellen Butlerstimme zu ihr, und er weigerte sich, sie anzusehen.

Das war der Grund, weshalb er nicht mit ihr gesprochen hatte, als sie das Château betrat. Das war eindeutig ein Zeichen des Respekts, den er vor ihr verloren hatte.

Er musste aus genau diesem Grund nach oben gekommen sein. Weil er ihr zeigen wollte, dass er sie nicht länger respektierte.

Das wollte sie nicht. Sie mochte Brimley. Sie respektierte ihn. Aber wie Durant hatte auch er sie gewarnt, sich in die inneren Angelegenheiten Moricadias einzumischen. Wie konnte sie ihm also erklären, warum sie so gehandelt hatte? Sie wollte, dass Brimley begriff, wie klug sie vorging. Seiner Ansicht nach, war ihr Vorgehen der Inbegriff von Dummheit.

Sie sagte daher mit leiser Stimme: »Ja, vielen Dank. Alles ist zu meiner vollsten Zufriedenheit.«

»Dann ist Tia Euch als persönliche Zofe recht?«

Emma warf Tia einen Blick zu. Das Mädchen stand mit brav vor dem Bauch gefalteten Händen da und gab das Bild einer gehorsamen Dienerin ab. Emma hatte selbst oft genug so dagestanden. Das Mädchen blickte starr auf den Boden. »Tia ist mir sehr recht, ja.«

»Sehr gut, Ma’am.« Brimley verneigte sich, wandte sich ab und verließ auf der Stelle das Gemach.

Die anderen Diener verschwanden mit ihm. Keine der Frauen schaute sie an. Sie wurde von ihresgleichen geschnitten. Etwa nur, weil sie sich über die anderen stellten? Oder weil sie Fürst Sandre so sehr verabscheuten, der sich anschickte, um sie zu werben?

Nur Tia blieb. Sie half Emma aus ihren Sachen und in die Badewanne. Während Emma das Bad genoss, huschte das Mädchen hierhin und dorthin. Sie entfachte das Feuer weiter, wärmte die Handtücher und die Bettdecke vor und goss in ein Kristallglas einen tiefroten Wein. Sie half Emma, die Haare zu waschen, und als sie fertig gebadet hatte, half Tia ihr aus der Wanne. Sie trocknete Emma ab und hielt ihr das Nachthemd hin, damit sie es einfach nur über den Kopf ziehen konnte. Sie reichte ihr auch den Morgenmantel, sodass Emma nur die Arme in die Ärmel stecken musste.

Die ganze Zeit sprach Tia kein Wort und schaute Emma nicht an.

Schließlich brach Emma das erdrückende Schweigen. »Du kannst die Badewanne jetzt wieder holen lassen. Danach lass mich bitte allein, damit ich bis morgen früh meine Einsamkeit genießen kann.«

Tia wirkte überrascht. Als hätte sie eigentlich damit gerechnet, dass Emma unter der unausgesprochenen Kritik zusammenbrechen würde. Aber sie tat, wie ihr geheißen, und stellte den Wein und das Tablett mit Essen auf den Tisch vor dem Kamin, ehe sie kurz verschwand. Wenige Minuten später war die Wanne fort, und Emma war allein.

In der Ferne konnte sie das tiefe Grollen des Donners hören. Als missbilligte auch der Himmel alles, was sie dachte und tat. In diesem großen Gemach fühlte sie sich klein, schmutzig und billig. Sie hatte sich diesen Luxus unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erkauft, und auch wenn sie selbst wusste, dass sie das Richtige tat, musste sie sich ebenso bewusst machen, wie es für alle aussah, wenn sie Fürst Sandre gestattete, um sie zu werben. Außer Lady Fanchere verachtete sie jeder, denn sie wirkte wie eine Straßenhure, die nach der großen Chance griff, dem Elend und der Hoffnungslosigkeit ihres Lebens zu entkommen. Es gab in der Geschichte viele Frauen, die genau das getan hatten. Aber nur wenige hatten sich einem so erniedrigenden und brutalen Bräutigam gegenüber gesehen wie Fürst Sandre es war.

Sie setzte sich in den Samtsessel und zog den alten Schal enger um ihre Schultern. Dann nahm sie ihren Kamm und begann, die Knoten aus ihren Haaren zu kämmen.

Wie schon so viele Nächte zuvor saß Jean-Pierre auf seinem dösenden Pferd. Er war ganz still und bewegte sich nicht. Das Gebüsch am Rande der Hauptstraße verbarg ihn gut. Er war allein; zu lange war der Schnitter ihm schon entkommen. Der Fürst würde nicht ewig auf Ergebnisse warten.

Wie schon viele Male zuvor berührte Jean-Pierre den Peitschenschnitt, der sein Gesicht bis auf den Knochen aufgerissen hatte. Die Wunde war rot und entzündet. Wie Fürst Sandre es erhofft hatte, erinnerte diese Wunde ihn ständig an sein Scheitern.

Darum hatte Jean-Pierre in dieser Nacht auf die Hilfe seiner Männer verzichtet. Die Männer waren es allmählich leid, Stunde um Stunde zu warten. Sie tuschelten bereits, weil sie fanden, Fürst Sandre sei davon besessen, den Schnitter zu fangen. Wegen ihres Geredes, das von den Dienern aufgeschnappt wurde, konnte jeder von Moricadia binnen eines Tages wissen, wie sie vorhatten, den Schnitter zu fassen.

Inzwischen schlief Jean-Pierre tagsüber, nachts behielt er die Straße im Auge. Sein Gewehr hatte er geladen und entsichert am Sattel befestigt.

Es war schon nach Mitternacht, und die Schatten verdichteten sich. Der Halbmond segelte hoch am Himmel auf einem Wolkenschiff dahin. In der Ferne hörte er den unvermeidlichen Gewittersturm, und er fluchte heftig.

Jede Nacht erhob sich erneut ein stürmisches Gewitter am Horizont und ließ Wind und Regen über das zerklüftete Land fegen. Helle Blitze setzten die Welt in Brand. Als wäre die Nässe nicht schon schlimm genug, wusste er, dass die Landbevölkerung die Stürme als Beweis ansah, dass der Schnitter das Wetter kontrollierte. Denn tauchte er nicht jedes Mal mit einem Donnerschlag auf und verschwand wie der Blitz?

Abergläubisches Pack.

Er versteifte sich.

Er hörte das Klappern sich nähernder Hufe. Ein Pferd kam die Straße entlanggaloppiert.

Leise zog er das Gewehr aus dem Holster am Sattel.

Der reiche Ire Mr Gillespie Cosgair kam um die Ecke. Er beugte sich tief über den Hals seines Wallachs und schaute sich immer wieder um. Voller Panik trieb er seinen Gaul an.

Er war in Panik? Vielleicht, weil er vom Schnitter verfolgt wurde?

Jean-Pierre legte das Gewehr an.

Ein zweites Pferd kam um die Ecke und raste hinter Mr Cosgair her.

Es war der Count Belmont Martin, der den Iren verfolgte. Sein Blick war starr auf Cosgairs Rücken gerichtet, sein Gesicht war von mörderischer Wut verzerrt.

Erneut hatte Martins Frau ihn zum Hahnrei gemacht.

Jean-Pierre schob sein Gewehr zurück in das Holster.

Und wartete.