35
Emma untersuchte den Finger. Es war ein glatter Schnitt, der entschlossen durchgeführt worden war. Nur noch das unterste Fingerglied hing an Brimleys Hand.
Der Diener Henrique hielt für Emma die Medizintasche auf.
Sie nahm einen dünnen, sauberen Lappen heraus und wickelte den Lappen um den Fingerstumpf. Sie drückte den Stoff fest um die Wunde, um einen Druckverband anzulegen. »Mr Brimley, was ist passiert?«
Ehe Brimley darauf antworten konnte, nahm die Köchin die Schürze herunter, die sie gegen den Mund gepresst hatte, und begann zu reden. »Er kam nach unten und war absolut ruhig. Er verkündete, wir bräuchten eine ernsthafte Verletzung, die wir vorzeigen können, weil dieser großmüttermordende Bastard Jean-Pierre de Guignard auf dem Weg hierher sei, um den Schnitter aufzustöbern. Wir Moricadier wissen ganz genau, was da draußen im Witwenhaus vor sich geht. Aber uns war nicht bewusst, dass Mr Brimley das auch weiß. Sobald wir also begriffen, dass er Bescheid weiß, dachten wir … Nun, wir dachten … Er ist schließlich so gut darin, jedem seine Aufgabe zuzuweisen, und darum dachten wir, er solle entscheiden, wem von uns wir diese ernsthafte Verwundung zufügen sollten.«
Emma blickte ihn an. Es bestürzte sie, dass die Moricadier über Michael Bescheid wussten. Noch mehr bestürzte sie, das Brimley davon wusste, und am meisten, dass er diese Tat vollbracht hatte, um sie alle zu retten. »Also habt Ihr das Fleischerbeil genommen und Euch selbst den Finger abgehackt?«
Er erwiderte ihren Blick. »Ich hätte niemals jemanden von meinen Leuten um etwas gebeten, bei dem ich zögern würde, es mir selbst zuzufügen.«
Das war der Grund, warum englische Butler das Rückgrat der zivilisierten Gesellschaft waren.
»Hol mir eiskaltes Wasser«, wies Emma die Köchin an. »Mr Brimley, habt Ihr den Rest vom Finger noch?«
»Ja.« Er zog ein blutiges Taschentuch aus seiner Brusttasche und gab es ihr.
»Wir werden ihn wieder annähen«, erklärte sie ihm.
»Wird er dann nicht verfaulen?« Einer von den schlaksigen Botenjungen starrte sie aus großen Augen grausamerweise fasziniert an.
»Vermutlich«, erklärte sie ihm. »Aber es ist einen Versuch wert. Wenn wir keinen Erfolg haben, können wir später immer noch amputieren.«
»Wenn Ihr ihn wieder annäht, wie soll das dem kindermordenden Schwein Jean-Pierre de Guignard dann irgendetwas beweisen?«, wollte einer der Wachleute wissen.
»Wir werden den Finger behutsam wieder auswickeln und ihm zeigen.« Sie drückte Brimleys Hand in die Schüssel mit Eiswasser, die die Köchin neben ihnen auf den Tisch stellte. »Ihr tut ja alle so, als wäre Jean-Pierre noch schlimmer als der Fürst.«
»Die de Guignards sind ausnahmslos eine Teufelsbrut. Aber Jean-Pierre hat Augen, die so hell sind, dass sie fast weiß aussehen.« Die Köchin schauderte. Sie sah wie ein großer Berg Gelee aus, der in Wallung geriet. »Er hat im Palast auf seine eigenen Leute geschossen. Der ist ein gespenstischer Kerl, genau das ist er.«
»Hört mir alle zu!« Brimley zuckte, als wollte er in die Hände klatschen, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich ziehen. »Jeden Augenblick wird de Guignard hier eintreffen. Räumt diese Schweinerei auf. Die blutigen Lappen werft ihr hier in den Mülleimer. Werft sie nicht draußen auf den Abfallhaufen. Sollte er danach suchen, müssen wir sie zur Hand haben, um zu beweisen, dass das hier wirklich passiert ist. Und ich weiß es ja durchaus zu schätzen, dass die jungen Mädchen um meinen kleinen Finger weinen. Aber es war schließlich nur ein kleiner Finger, und ich bin immer noch ein Brite.«
Mit erstickter Stimme widersprach Tia. »Nein, Mr Brimley. Ihr seid kein Brite mehr. Ihr seid jetzt einer von uns.«
Die Mädchen fingen wieder an zu heulen.
Seine Hand zuckte. »Ich weiß euer Mitgefühl durchaus zu schätzen, aber jetzt ist es genug! Wenn ihr weinen müsst, verschwindet in eure Kammern. Wir müssen den Anschein erwecken, wieder zur Tagesordnung übergegangen zu sein. Los, rührt euch! Geht wieder an die Arbeit, und wenn ihr das nicht könnt, bleibt wenigstens außer Sichtweite, sobald de Guignard hier auftaucht. Denkt dran, die Sicherheit des Schnitters hängt jetzt allein von euch ab.«
Innerhalb einer Minute war die Küche bis auf die Köchin, ihre drei Gehilfinnen und die beiden Spülmägde leer. Die Frauen arbeiteten harmonisch Hand in Hand an dem Abendessen. Eine der Gehilfinnen schniefte, was ihr aber einen Schlag in den Nacken von der Köchin eintrug. Eines der Mädchen kam mit einem Eimer Sand zum Tisch. Sie hatte einen feuchten Lappen in der Hand und wollte die roten Flecken wegschrubben. Sie warf einen Blick auf Brimleys Fingerstumpf, aus dem immer noch langsam Blut strömte, und drehte sich weg. Sie ging gefasst zum Komposteimer in der Ecke des Raums und gab ihre letzte Mahlzeit von sich.
Emma verspürte tiefes Mitgefühl mit dem Mädchen. Sie trocknete Brimleys Hand ab.
»Ich hätte vorher an einen Druckverband denken sollen«, meinte Brimley. »Natürlich haben wir das gemacht, damit möglichst viel Blut zu sehen ist.«
»Wir hätten nicht Euer Blut benutzen müssen. Es gibt genug Tiere hier in der Küche, Mr Brimley«, rief die Köchin vom Herd.
»Darauf hätte ich eher kommen sollen«, sagte er.
»Vielleicht wart Ihr abgelenkt, weil Ihr ein Ziel vor Augen hattet.« Vorsichtig fügte Emma den abgetrennten Finger wieder ans Fingerglied. »Ich werde ihn später wieder annähen, sobald ich Zeit dafür finde. Für den Moment werden wir ihn nur verbinden.« Als sie das tat, achtete sie darauf, dass die zwei Teile des Fingers sich unter dem Verband berührten.
Henrique tauchte in der Tür auf. »De Guignard reitet gerade die Auffahrt herauf.«
Brimley nickte. »Junger Mann, erinnert Euch daran, was ich Euch beigebracht habe. Ihr seid der stolze Repräsentant der Fancheres, und in dieser Stellung bewegt Ihr Euch langsam und würdevoll.«
Henrique erwiderte das Nicken. Er imitierte Brimleys würdevolle Haltung, drehte sich um und schritt die Treppe zur Eingangshalle hinauf.
»Henrique wird es noch weit bringen.« Stolz schwang in Brimleys Stimme mit. »Nun, Miss Chegwidden. Wenn Ihr Euch derweil in die Bibliothek begeben und dort unübersehbar hinsetzen wollt. Tut so, als würdet Ihr lesen. Ich glaube, das wird die richtige Strategie sein.«
»Ihr gehört eigentlich ins Bett, Mr Brimley«, sagte Emma.
»Ich habe tatsächlich das Gefühl, meine Beine sind recht wacklig.« Er wirkte ehrlich überrascht. »Wenn die Köchin mir also eine Tasse Tee macht, bleibe ich lieber hier. Ich denke, dieser Ort wird für unsere Konfrontation schon in Ordnung gehen.«
Emma schob ihre Tasche unter den Tisch und warf einen letzten prüfenden Blick auf den Verband um Brimleys Finger. Die Vorstellung, die Verletzung so unzureichend versorgt zurückzulassen, widerstrebte ihr zutiefst. Dann lief sie nach oben, griff sich wahllos ein Buch aus dem Regal und setzte sich in der Bibliothek in einen Sessel.
Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick öffnete Henrique die Eingangstür und rief: »Bitte tretet ein, Mr de Guignard.«
Jean-Pierre kam hereingetöst. Seine Stiefel stapften laut auf den Marmorfliesen. »Wo ist sie? Wo steckt Miss Chegwidden?«
Emma beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er an der Tür zur Bibliothek vorbeistapfte. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, ein schwarzer Mantel wehte hinter ihm her. Auf sie machte er nicht den Eindruck, als sei er eine Teufelsbrut.
»Sie ist in der Bibliothek, Sir. Wenn Ihr gestattet, werde ich ihr Eure Ankunft melden …«
Sie hörte seinen Mantel knallen, als er sich abrupt umdrehte. Sie blickte gespielt überrascht auf.
Jean-Pierre stand in der offenen Tür und musterte sie von oben bis unten. Die Köchin hatte recht. Seine Augen waren blass, und die schwarzen Pupillen in der Mitte wirkten wie Löcher. »Miss Chegwidden?« Er zog nicht einmal den Hut.
»Ja, die bin ich. Aber ich bin nicht mit Euch bekannt, Sir«, sagte sie.
»Ich bin Jean-Pierre de Guignard.«
»Etwa Fürst Sandres Cousin?«
»Ich fühle mich geschmeichelt, dass Ihr schon von mir gehört habt.« Er hätte seinen Sarkasmus und seine Verachtung kaum deutlicher zum Ausdruck bringen können. »Was tut Ihr da?«
Sie drehte das Buch um und schaute auf den Buchrücken. Sie las angeblich etwas, das Als die Welt noch jung war – eine Geschichte der Auserwählten hieß. Dann schaute sie ihn an, als sei sie ernsthaft um seine Beobachtungsgabe besorgt. »Ich … lese?«
»Man sagte mir, Ihr sorgt für jemanden in diesem Haushalt, der verletzt sei.«
Dann stimmten Brimleys Informationen also. »Das habe ich. Das tue ich auch jetzt noch. Unser Butler Mr Brimley wurde heute früh verletzt. Im Moment bedarf er meiner Hilfe allerdings nicht.« Sie legte das Buch beiseite, stand auf und trat ihm entgegen.
Er roch nach Absinth. Er hatte also getrunken, ihrer Erfahrung nach wurden Männer labil und streitsüchtig, wenn sie getrunken hatten.
Sie ließ ihre Stimme fest klingen und hielt Augenkontakt. Sie wich nicht vor ihm zurück. »Warum dieses Kreuzverhör, Mr de Guignard? Was ist Euer Problem?«
»Zeigt mir diese Verletzung, derentwegen Ihr zu Hause geblieben seid.«
»Wie Ihr wünscht. Hier entlang, bitte.«
Henrique war zur Stelle und führte die beiden die Treppe hinunter und in die Küche. Er schritt so ruhig einher, dass Emma sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, während Jean-Pierre ungeduldig knurrte: »Schneller.«
»Es besteht kein Grund zur Eile«, erklärte sie ihm. »Ich glaube nicht, dass Mr Brimley in nächster Zeit irgendwo hingehen wird. Er hat viel Blut verloren.«
Die Küche, die sie nun betraten, roch, klang und sah genauso aus, wie man es von der Küche eines herrschaftlichen Anwesens erwarten durfte. In Töpfen simmerte etwas auf dem Herd, die Köchin schrie ihre Untergebenen an und schwang drohend die Suppenkelle.
Aber aus dem Mülleimer schauten blutige Lappen hervor, stellte Emma zufrieden fest, und die Spülmagd hatte es noch nicht geschafft, die Blutflecke vom Tisch zu schrubben.
Brimley saß genau dort, wo Emma ihn zurückgelassen hatte, und trank eine Tasse Tee. Er blickte fragend auf, als sie die Küche betraten. »Sir!« Er versuchte, sich zu erheben, und sank erschöpft zurück. »Entschuldigt bitte meine Verwirrung. Ich habe nicht damit gerechnet, in der Küche Besuch empfangen zu müssen.« Unheilvoll starrte er Henrique an.
Henrique verbeugte sich. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Mr Brimley. Mr de Guignard bestand darauf, Euch umgehend zu sehen.«
»Man hat mir erzählt, Ihr seid verletzt.« Jean-Pierres Augen blitzten unheilvoll.
»Ich fürchte, bei einem fehlgeleiteten Versuch, der Köchin die richtige Methode zu zeigen, um ein Huhn zu zerteilen, habe ich mir mit dem Fleischerbeil den kleinen Finger abgehackt.« Brimley hielt seine bandagierte Hand hoch.
Jean-Pierre trat näher. »Für mich sieht Euer Finger intakt aus.«
»Das liegt daran, dass ich die Hoffnung hege, er wird wieder anwachsen. Wenn Ihr darauf besteht, kann ich den Verband …« Emma wollte auch an den Tisch treten, doch Jean-Pierre war schneller.
»Nicht nötig. Das kann ich auch allein.« Er streckte die Hand aus und riss den Verband ab.
Blut spritzte durch die Küche.
Die Köchin schrie.
Zwei zimperliche Spülmägde verloren das Bewusstsein.
Das erste Mal an diesem Abend erlebte Emma, dass Mr Brimley einen Schmerzenslaut von sich gab.
»Mr de Guignard!« Emma eilte an Mr Brimleys Seite, riss Tücher aus ihrer Tasche und versuchte, den Blutstrom zu stillen. »Habt Ihr den Verstand verloren? Was habt Ihr nur getan?«
Jean-Pierre untersuchte Brimleys Finger. Dann warf er ihn auf den Tisch. »Dann stimmt es also. Entschuldigt, Miss Chegwidden, dass ich an Euch gezweifelt habe. Und bei Euch, Mr Brimley«, er verbeugte sich leicht, »möchte ich mich für die verursachten Schmerzen entschuldigen. Ich mache nur meine Arbeit.«
Nachdem er die Küche verlassen hatte, sagte Brimley schwach. »Das habe ich auch.«
»Ich würde sagen, Ihr habt Eure Arbeit über die Pflicht hinaus erfüllt«, erklärte Emma ihm. Dann sagte sie an die Köchin gewandt: »Holt ein paar starke Männer. Wir müssen Mr Brimley ins Bett bringen.«
Zu ihrer Überraschung erschienen diese starken, jungen Männer fast augenblicklich. Es waren zum Großteil Gärtner. Dienstmädchen und Lakaien strömten in die Küche. Henrique und Elixabete waren unter ihnen. Bis Emma die Blutung wieder gestillt hatte, war die Küche so voll wie vorhin bei ihrem ersten Erscheinen. Sie wechselte einen verblüfften Blick mit Brimley.
»Wenn Ihr irgendetwas braucht, egal was, dann fragt uns«, sagte die Köchin. Ihre Stimme war heiser und ernst. »Wir werden alles für Euch tun. Es wird uns eine Ehre sein, Euer Leben zu retten, wie Ihr das Leben unseres Helden und unser Land gerettet habt.«
Die Dienstmädchen knicksten gleichzeitig, und die Männer verneigten sich vor Brimley und Emma. Es war eine so aufrichtige Anerkennung, dass Emma nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte.
Zum ersten Mal, seit sie England verlassen hatte, war sie zu Hause.