22

Dodd.eps

»Ihr seid zurück.« Lord Fanchere half den Damen aus der Reisekutsche. Nachdem er seine Frau mit einem Kuss begrüßt hatte, fügte er hinzu: »Du scheinst während deines Aufenthalts geradezu erblüht zu sein.«

Lady Fanchere lachte und erwiderte seinen Kuss. »Es war ein wunderbarer Aufenthalt. Aimée fühlt sich nicht länger von ihrer Trauer niedergedrückt.«

Lord Fanchere küsste Aimées Stirn und nickte, als habe er nie daran gezweifelt, dass der Kurort seine Wirkung verfehlen würde. »Ich war fast froh zu hören, dass der Fürst einen Ball angeordnet hat. Denn ich wusste, das würde dich schon bald heim zu mir bringen.« Sein Blick glitt zu Emma, und er nickte ihr brüsk zu. »Wie ich sehe, hast du ein neues Vorhaben.«

Lady Fanchere legte ihre Hand in seine Ellbogenbeuge. »Ich kann es gar nicht erwarten, dir alles darüber zu erzählen.«

»Ich habe bereits Gerüchte gehört«, sagte er und führte sie ins Haus. Sie gingen die Treppe hinauf und verschwanden.

Brimley dirigierte den Tanz der Schrankkoffer und beaufsichtigte den Transport ins Haus.

Emma machte vor ihm einen Knicks.

Er schien sie gar nicht wahrzunehmen.

Aimée und Emma betraten die große Eingangshalle. Diener eilten um sie herum und trugen Reisetaschen und Hutschachteln und die neuen Sachen von Madam Mercier nach oben.

Als sie ihre Hüte abnahmen und sie einem Dienstmädchen reichten, fiel Aimées aufrechte Haltung – in sich zusammen. »Jetzt muss ich wohl entscheiden, was ich als Nächstes tun soll. Countess Martin hat noch einmal mit mir gesprochen, und sie warnte mich, dass ich mich von Klippen und hoch gelegenen Orten fernhalten soll. Aber schaut Euch doch nur um!« Sie zeigte aus dem Fenster. »Überall in diesem Land gibt es Klippen, es ist nirgends sicher für mich. Nur hier. Ich möchte am liebsten gar nicht fort. Solange ich bei Eleonore bin, wagt er es nicht, mir ein Haar zu krümmen. Aber ich kann nicht ewig bei ihr bleiben!«

»Ihr sprecht von Fürst Sandre?«

»Ja. Solange ich in Moricadia bleibe, ist mein Leben in Gefahr. Ich weiß, Eleonore glaubt mir nicht. Aber es stimmt: Sandre wird versuchen, mich umzubringen.«

»Ich glaube Euch.« Auf der Rückfahrt war Aimées Elend zunehmend deutlich gewesen, und Emma hatte ausgiebig über ihr Schicksal nachgedacht. »Wenn ich das richtig verstanden habe, habt Ihr über Geld verfügt, als Ihr Rickie de Guignard geheiratet habt.«

»Ich war eine reiche Erbin.«

»Wisst Ihr, ob dieses Vermögen noch unberührt ist?«

»Ich weiß darüber gar nichts. Er hat mir nie Einblick in solche Vorgänge gewährt.«

»Vielleicht könnt Ihr Lord Fanchere bitten, das herauszufinden. Wenn es ein Vermögen gibt, könnt Ihr ihn bitten, Euch zu helfen, das Geld ins Ausland zu übertragen. Ihr könntet dann nach Griechenland, England oder sonst wohin reisen, wo Ihr nicht länger in Fürst Sandres Reichweite wärt.«

Aimée starrte Emma verblüfft an. Doch dann erwachte ein leises Funkeln in ihren Augen. »Das könnte ich tatsächlich tun. Ich habe mir schon immer gewünscht, einmal nach Italien zu reisen.«

»Ihr habt keine Kinder, die Euch hierhalten. Warum geht Ihr nicht fort und verbringt den Winter im Warmen?«

»Er wird mir helfen. Bestimmt wird er mir helfen. Das ist die Lösung all meiner Probleme!« Aimée umarmte Emma. »Ihr seid das klügste und freundlichste Mädchen auf der Welt! Ich werde gar nicht erst auspacken, und sobald Fanchere seine Frau ausgiebig begrüßt hat«, sie zwinkerte Emma zu, »werde ich mit ihm sprechen!«

Emma sah ihr nach, wie sie die Treppe hinauftrabte. Sie seufzte erleichtert. Wenigstens hatte sie das Gefühl, irgendetwas richtig zu machen. Sobald Aimée aus Fürst Sandres Dunstkreis verschwunden war, konnte sie ein langes und glückliches Leben führen.

»Miss Chegwidden?« Ein junges Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren knickste vor ihr. Sie war ein hübsches Ding und trug ein winziges Dienstmädchenkleid mit einer weißen Morgenhaube, die für ihren kleinen Kopf zu groß war. Die Bänder der großen weißen Schürze waren zweimal um ihre Taille geschlungen.

Emma konnte das Mädchen nicht einordnen, bis sie die Schlinge bemerkte, mit der ihr Arm an der Seite stabilisiert war. »Elixabete! Wie gut du aussiehst! Wie sauber!« Das war vielleicht nicht unbedingt die taktvollste Bemerkung, aber ohne den Dreck, der Elixabete wie eine zweite Haut umschmiegt hatte, war sie ein recht hübsches Kind, wenngleich sie noch immer viel zu dünn war.

Elixabete störte sich nicht an der Bemerkung. Sie grinste und zeigte ihre kräftigen weißen Zähne.

»Dann hat Lady Fanchere dich also eingestellt?«

»Ja, Ma’am. Und Mr Brimley war sehr um meine Verletzung besorgt.«

Emma erinnerte sich wieder an den Spion, der ihren Besuch in der Unterstadt an Fürst Sandre verraten hatte. »Geht es deiner Mutter gut?«, fragte sie daher.

»Sie ist wohlauf, vielen Dank. Sie hat mir gesagt, ich solle Euch etwas mitteilen.« Elixabete schaute sich prüfend um. Dann senkte sie die Stimme. »Solltet Ihr irgendwann Hilfe brauchen, ruft mich. Ich werde alles für Euch tun. Ihr habt mich, meine Mutter und meine Schwester gerettet, und wir bezahlen unsere Schuld.«

Emma starrte das Kind an. Sie war so jung, so klein … Trotzdem verstand sie, wie wichtig es war, Widerstand zu leisten. Viel wichtiger aber war, dass sie wusste, wie wichtig Loyalität war. Emma wollte ihr versichern, dass sie nie irgendetwas brauchen würde. Tatsächlich aber war sie inzwischen in die moricadischen Angelegenheiten heillos verstrickt. Sie hatte sich so tief hineingeritten, dass die Probleme dieses Lands jetzt auch ihre Probleme waren. Eines Tages musste sie vielleicht eine Nachricht schicken oder um Hilfe rufen. Und obwohl sie allein bei dem Gedanken daran Gewissensbisse bekam, würde sie es tun – und sei es nur, um den Schnitter zu retten. »Ich danke dir, Elixabete. Ich werde daran denken.«

»Ihr seid zurück!« Michael Durant stand in der Tür zur Bibliothek. Seine Stimme war leise und kratzig, doch sie konnte ihn trotzdem auf die kurze Entfernung recht gut verstehen.

»Mylord. Es freut mich, Euch zu sehen.« Emma faltete brav die Hände.

»Ihr seht gut aus.« Er betrachtete sie prüfend von Kopf bis Fuß. Das neue Kleid entging seinem Blick nicht. »Nein, Ihr seht sogar sehr gut aus. Aguas de Dioses scheint Euch gutgetan zu haben.«

»Vielen Dank, ja. Das hat es tatsächlich.«

»Geh, Elixabete.« Durant zeigte in Richtung Dienstbotenquartiere. »Nicht, dass jemand dich mit Miss Chegwidden sprechen sieht. Du weißt, es ist das Beste, wenn du vorgibst, sie nicht zu kennen.«

Was für eine komische Bemerkung! Doch er hatte recht; Durant schien Elixabetes Situation besser zu verstehen als jeder andere.

»Ja, Mylord.« Elixabete machte einen Knicks und eilte davon. Sie war ein Kobold in einem zu großen braunen Kleid.

»Warum seid Ihr so bald schon zurückgekehrt?« Er näherte sich Emma. In seinen lebhaften grünen Augen blitzte es neugierig auf.

»Lady Fanchere erhielt die Einladung zum Ball des Fürsten morgen Abend. Wir sind daher zurückgekommen, um uns darauf vorzubereiten.« Sie zögerte, weil es ihr widerstrebte, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Aber was nützte es ihr, wenn sie ihm die wahren Gründe verschwieg? Er würde es ohnehin schon bald herausfinden, und sie fand, es sei besser, wenn er es von ihr hörte. »Ich habe auch eine Einladung bekommen.«

»Tatsächlich?« Mit einer herrischen Geste lud er sie ein, ihm in die Bibliothek zu folgen.

Sie folgte ihm, ohne Fragen zu stellen. Etwas an seiner Art verbot jeden Widerspruch, und sie erinnerte sich, dass er immer noch der Sohn eines Dukes und ein privilegiertes Mitglied der englischen Gesellschaft war.

Er zeigte auf ein zweisitziges Sofa unter dem Fenster.

Sie setzte sich in eine Ecke des Sofas.

Er setzte sich in die andere Ecke. Er war keinen Meter von ihr entfernt. Sehr ernst fragte er: »Seit wann lädt Fürst Sandre eine bezahlte Gesellschaftsdame zu einem seiner fürstlichen Bälle ein?«

Sie hatte das Gefühl, einem strengen, älteren Bruder Rede und Antwort zu stehen. »Er wünscht, um mich zu werben.«

»Habt Ihr denn den Verstand verloren?« Seine Stimme klang kratzig und war voller Abscheu.

Sie erwartete, er werde als Nächstes darauf eingehen, wie ungehörig der Standesunterschied zwischen einem Fürsten und einer Dienstbotin war.

Stattdessen sagte er jedoch: »Habt Ihr denn nicht von seinen Grausamkeiten gehört? Seinen Ausschweifungen? Ihr könnt unmöglich so einen Mann heiraten! Das Leben an seiner Seite wäre für Euch schrecklich, und Euch würde unter seiner Knute ein früher Tod ereilen. Glaubt mir. Es erging vor Euch schon vielen so.«

Sie starrte ihn sprachlos an und wunderte sich darüber, wie energisch er sich zu ihr beugte. Und über die Schatten, die sich auf seine Augen legten und die Eindringlichkeit seiner Worte. Sie wollte ihm versichern, dass sie sehr genau wusste, worauf sie sich einließ, dass sie aber von einem anderen Motiv getrieben wurde als ihrem sozialen Aufstieg.

Aber wie würde das ihr Verhältnis zueinander beeinflussen? Er hatte sie schon vorher gewarnt, sich nicht in die Belange dieses Lands einzumischen. Und er wäre jetzt kaum einverstanden, wenn sie zugab, dass sie dem Mann helfen wollte, der in Moricadia quasi als Staatsfeind gesucht wurde.

Am wichtigsten aber war, dass sie auf keinen Fall auch nur eine Andeutung machen durfte, dass sie dem Schnitter begegnet war.

»Lady Fanchere ist ziemlich erfreut über Fürst Sandres Werbung.« Emma war sehr versiert darin, unverbindlich zu sein. Das hatte sie während ihrer Dienstzeit bei Lady Lettice gelernt.

»Lady Fanchere ist eine freundliche Frau, die in jedem das Beste sehen will. Und sie ist mit ihrem geliebten Fürsten verwandt.«

»Ich weiß.« Emma schaute aus dem Fenster. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Sie brauchte jetzt Zeit für sich, denn sie wollte sich für den Fall wappnen, dass der Schnitter es irgendwie geschafft hatte, ihr hierher zu folgen. »Ich tröste mich damit, dass der Fürst zwar um mich werben kann, dass ich aber nicht gezwungen bin, seinen Antrag anzunehmen.«

»Sobald Fürst Sandre seine Absichten deutlich gemacht hat und das ganze Land davon weiß, wird es keinen Ausweg für Euch geben. Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr dann noch einfach weggehen können?«

»Solange ich nicht zustimme …«

Durant schnaubte ungehalten. »Meine Liebe, selbst Ihr könnt nicht so naiv sein. Wenn Ihr es wagt, Euch ihm zu verweigern, wird er Euch jagen und zur Strecke bringen, und dann wird er Euch dafür bezahlen lassen, dass Ihr ihn erniedrigt haben.«

Er schalt sie so leidenschaftlich, dass sie schwankte. Doch dann erinnerte sie sich wieder an den Schnitter. Sie tat das alles nur, um ihm zu helfen. »Es ist bestimmt nicht so aussichtslos, wie Ihr es darstellt.« Sie sprang auf und erklärte: »Ich muss jetzt gehen. Es ist Schlafenszeit.«

Durant schaute erstaunt nach draußen. »Aber es ist noch hell!«

»Ich bin müde. Die Reise war anstrengend.«

Er stand groß und abweisend vor ihr und lächelte nicht. »Ich nehme an, Ihr wollt heute Nacht gut schlafen, damit Ihr für den Ball morgen Abend erfrischt seid.«

»Natürlich.« Eine gute Entschuldigung. »Ja, genau!«

»Wisst Ihr, es gab eine Zeit, da habe ich selbst darüber nachgedacht, um Euch zu werben.«

»Seid nicht dumm.« Sie lachte.

Er lachte nicht mit. »Aber was ist ein Mann, der eines Tages ein Herzogtum erben wird, verglichen mit dem Fürsten eines kleinen Lands?«

Ihre Erheiterung schwand so schnell wie sie gekommen war. »Ich glaube Euch nicht. Aber warum macht Ihr eine so gemeine Andeutung?«

»Gemein? Aus welchem anderen Grund als Geld und Sicherheit sollte eine Frau wie Ihr wünschen, einen Mann wie Sandre de Guignard zu heiraten?«

Die Verachtung, die aus seinen Worten sprach, überraschte sie, und ebenso erging es ihr mit dem Zorn, der in ihr aufstieg wie eine Welle mit einsetzender Flut. »Ihr wisst absolut nichts darüber, was eine Frau wie ich sich wünscht. Ihr seid nie so arm gewesen, dass Ihr auf der Straße als Prostituierte hättet arbeiten müssen, wenn Ihr keine Anstellung findet. Ihr habt nie die stinkenden Füße einer niederen Adeligen massiert und wisst nicht, wie es ist, von so einer Frau einfach weggeschubst zu werden, wenn Ihr nicht zu ihrer Zufriedenheit gearbeitet habt. Ihr seid nie durch einen dunklen Wald gelaufen, wo Ihr so sehr gefroren und Euch gefürchtet habt, dass Euch ein einsamer Tod drohte und Ihr Euch ihm mit Freuden in die Arme werfen wolltet.« Sie machte wild gestikulierende Armbewegungen. »Ja, ich weiß, Ihr wart zwei Jahre lang im Kerker, aber Ihr seid dort durch eigenes Verschulden gelandet. Frauen wie ich werden in das Gefängnis aus Armut und Verzweiflung nicht durch unser eigenes Verschulden gebracht, und wir leben und sterben dort ohne Hoffnung, jemals daraus zu entkommen. Also wagt es nicht, Mylord, über mich zu urteilen. Ihr wisst absolut nichts über meine wahren Beweggründe.«

»Emma …« Er hob die Hand, als wollte er ihre Wange berühren. Er blickte tief in ihre wütend blitzenden Augen.

Einen winzigen Moment lang hatte sie ein merkwürdig vertrautes Gefühl … Sie bekam Angst. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass sie so heftig auf sein Missfallen reagierte?

Dann brach die Welle aus Zorn über ihr zusammen, und es war ihr egal. Sie drehte sich auf dem Absatz um und floh aus der Bibliothek.