21
Für Emma war die folgende Woche seltsam angenehm. Es war, als sei sie völlig der Zeit entrückt.
Fürst Sandre hatte die drei Frauen nach der Szene im Pavillon allein gelassen und war seither nicht zurückgekehrt. Countess Martin erzählte ihnen später, er sei in seinen Palast zurückgekehrt, um Jean-Pierre und seinen Männern Anweisungen zu geben, wie sie den Schnitter gefangen nehmen konnten.
Jeden Tag traf ein neues Kleid von Madam Mercier ein, das Emma trug. Auch wenn ein Teil von ihr sich mit der Situation unwohl fühlte, weil sie nun schon so tief in Lady Fancheres Schuld stand, gab es einen anderen Teil von ihr, dem sie bisher nie nachgegeben hatte … Nun, dieser Teil von ihr war bei jeder Anprobe eines neuen Kleids hocherfreut, sei es nun aus grünem Samt oder schokoladenbrauner Seide.
Lady Fanchere aß gut, machte über den Tag verteilt kleine Nickerchen und ging früh zu Bett, und Emmas Überzeugung, dass es ihr gelingen würde, dieses Kind zu halten, wuchs mit jedem neuen Tag. In sechs Monaten würde Lady Fanchere ihrem Ehemann ein gesundes Kind gebären. Davon war Emma überzeugt.
Lady Fanchere und Lady de Guignard erlaubten Emma jedoch nicht, in ihre gewohnte Rolle als bezahlte Gesellschaftsdame zurückzukehren. Sie behandelten sie wie eine junge Verwandte, die auf ihre erste Saison vorbereitet werden musste. Daher wurde Emma mit den Mitgliedern der internationalen Gesellschaft bekannt gemacht, die für einen Kuraufenthalt in Aguas de Dioses weilten. Die beiden Damen genossen einen so tadellosen Ruf, dass fast ausnahmslos jeder Emma mit ausgesuchter Höflichkeit behandelte. Die einzige Ausnahme bildete die alte Mrs Mortensen, die ihr prompt eine Stellung als Gesellschafterin anbot und sich verschnupft zeigte, weil Lady Fanchere ihr erklärte, Emma stünde nicht länger für eine so niedere Position zur Verfügung. »Einmal Bürger, immer Bürger, sage ich immer«, hatte Mrs Mortensen darauf erwidert. »Irgendwann wird sich ihre Abstammung schon durchsetzen.«
Die Countess Martin kam wie zufällig an ihnen vorbei und erklärte: »Miss Chegwidden ist eine direkte Nachfahrin von Wilhelm dem Eroberer. Ihr Blut ist somit reiner als Ihres, Mrs Mortensen. Und es hat zudem einen starken dänischen Einfluss.« Mit diesen Worten glitt sie bereits wieder davon.
»Hmpf!« Doch Mrs Mortensen sagte anschließend nichts mehr.
Countess Martin hatte eine gut gehütete Geschichte der Familie Chegwidden wiederholt. Emma fragte sie nicht, woher sie die Geschichte kannte.
Sie fragte nicht, weil nichts, das bei Tageslicht geschah, für sie noch große Bedeutung hatte. Was zählte, waren die Nächte, in denen der Schnitter in ihrem Schlafzimmer auftauchte. Er kam nicht, weil er Informationen haben wollte. Nach der Abreise des Fürsten konnte sie ihm nichts mehr erzählen. Er kam allein ihretwegen.
Er erschien stumm und schnell wie der Wind, und einmal hörte sie sogar in der Ferne den Donner grollen, als er in ihre Kammer wirbelte. Sie lief ihm entgegen und warf sich ihm in die Arme, dann küssten sie sich leidenschaftlich und voller Sehnsucht. Sie berührten einander, und jede Nacht legten sie mehr Kühnheit an den Tag. Er liebkoste ihre Ohren. Ihre Schultern. Ihr Kreuz und die Spitzen ihrer Brüste. Er drückte sie gegen die Wand und hielt sie dort mit seinem Körper gefangen, während in beiden das Verlangen wuchs.
Aber trotz ihrer wiederholten Einladung verließ er sie immer wieder, und sie träumte danach von ihm mit einer Leidenschaft, die ihr so kühn schien, dass ihr einst so langweiliges Leben eine Kehrtwende nahm.
Sie sorgte sich natürlich ständig um seine Sicherheit, aber langsam begann sie selbst zu glauben, dass er tatsächlich ein Phantom war, das an den Wachen vorbei und in ihre Arme schlüpfen konnte.
Als also am Morgen des achten Tages Lady Fanchere und Aimée an ihre Tür klopften, öffnete sie sofort.
Die Zofe, die Emma zugeteilt war, stand einen Schritt hinter den beiden Damen.
Lady Fanchere lächelte.
Aimée nicht.
An die Zofe gerichtet sagte Lady Fanchere: »Packt Miss Chegwiddens Sachen. Beeilt Euch! Wir reisen noch heute ab.«
»Was?« Emmas gute Stimmung verflog in Sekunden. »Wir reisen ab? Heute schon? Aber warum? Wohin reisen wir denn?«
»Wir reisen heim, um uns vorzubereiten.«
»Worauf denn, Mylady?«
Lady Fanchere überreichte ihr ein Stück schweres Papier, das sorgfältig gefaltet und mit rotem Wachs versiegelt war.
Emma brach das Siegel und faltete das Papier auseinander. Sie las: An Miss Emma Chegwidden. Fürst Sandre von Moricadia erbittet Eure Gegenwart zum Ball im fürstlichen Palast … Sie blickte zu den beiden Damen auf. »Aber das ist ja schon morgen Abend!«
»Ja! Ist das nicht wunderbar? Ich dachte, Sandre sei schon so früh abgereist, weil er den Schnitter gefangen nehmen wollte – und ich bin überzeugt, dass dies sein Hauptaugenmerk war. Er sorgt sich sehr um unsere Sicherheit. Aber er hat außerdem ein gesellschaftliches Ereignis arrangiert, bei dem alle Moricadier Euch kennenlernen können!«
Emma schaute die beiden Damen nacheinander an. Sie suchte nach irgendeiner Form der Bestärkung, obwohl sie wusste, dass sie nichts dergleichen bekommen würde. Ginge es nach Lady Fanchere, sollte sie froh und glücklich sein, wieder mit Fürst Sandre in Kontakt zu treten. Nun, und irgendwie stimmte das auch, denn dann konnte sie wieder für den Schnitter spionieren.
»Ich weiß, was Ihr jetzt denkt«, vertraute Lady Fanchere ihr an.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Emma.
»Aber ich habe bereits mit Madam Mercier gesprochen. Eure neue Garderobe ist bis auf Euer Ballkleid vollständig fertiggestellt, und sie wird sich jetzt mit voller Kraft dieser Aufgabe widmen. Sie wird es morgen eigenhändig vorbeibringen.« Lady Fanchere wandte sich an Aimée. »Hast du dich inzwischen entschieden? Wirst du mit uns zusammen abreisen?«
»Kommt Ihr denn nicht mit zum Ball?«, fragte Emma beunruhigt.
»Ich habe keine Einladung bekommen.« Aimée lächelte steif.
»Du bist ja auch erst kürzlich verwitwet. Es wäre kaum angemessen, wenn du schon wieder an einem so ausgelassenen Ereignis wie einem Ball teilnehmen würdest.« Lady Fanchere legte den Arm um die offensichtlich nicht von Gram gebeugte Aimée. »Aber Fanchere würde sich bestimmt freuen, dich noch länger hier wohnen zu lassen, wenn du wünschst, noch ein paar Tage länger in der Schönheit von Aguas de Dioses zu verweilen.«
»Ich glaube, es wäre sicherer, wenn ich mit euch abreise«, sagte Aimée.
»Aber Aimée!« Lady Fanchere blitzte sie vorwurfsvoll an. »Du kannst doch nicht noch immer allen Ernstes glauben, dass Sandre …«
»Oh doch. Darum werde ich mit euch abreisen und Emma helfen, sich auf ihr Debüt in der moricadischen Gesellschaft vorzubereiten.« Aimée klang erschöpft und gar nicht so fröhlich wie sonst.
»Das wäre wirklich wunderbar, Lady de Guignard. Ich würde Eure Unterstützung sehr zu schätzen wissen«, antwortete Emma ehrlich. Sie wünschte sich wirklich, nicht auf Aimées Freundlichkeit verzichten zu müssen. Zugleich aber verschwendete sie keinen Gedanken an den Ball, Lady Fancheres Hoffnungen oder Fürst Sandres Brautwerbung.
Sie konnte nur an eines denken. Wenn sie Aguas de Dioses so überstürzt verließ – würde der Schnitter sie dann wiederfinden?