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Michael stand an dem gähnenden Abgrund, der direkt in den Kerker führte. Dieser Eingang führte in die Hölle. Der Übermut, der ihn nach dem Sieg über Sandre erfasst hatte, den er nun seinem Schicksal überlassen würde, machte einer starren Angst Platz, die von hinten auf ihn zukroch. Er fürchtete sich vor der Dunkelheit und der Kälte da unten, vor dem Schleim und den Ratten und einem Tod, der schrittweise erfolgte, bei dem ein Mann von diesem Leben ins nächste hinüberglitt, ohne überhaupt zu merken, dass er die Domäne gewechselt hatte.
Er machte den ersten Schritt die Treppe herunter. Er hatte noch nicht einmal das erste Tor erreicht, und trotzdem stieg ihm schon der vertraute Geruch nach Dreck und Schimmel in die Nase und füllte seine Lungen. Er konnte kaum noch atmen. Trotzdem machte er einen Schritt nach dem nächsten.
Emma war irgendwo hier unten in diesem Kerker, wo jede Hoffnung starb.
War sie noch am Leben?
Natürlich. Sandre hatte keinen Spaß daran, sie einfach umzubringen. Er lebte, um zu quälen, und er liebte seine besonderen Haustiere – für sie reservierte er die königliche Zelle. Michael wusste, dort würde er sie finden.
Langsam stieg er weiter hinab, bis er den ersten Treppenabsatz erreichte, wo Gotzon hockte und döste. Der Höllenhund.
Michael beugte sich über ihn, rüttelte an seiner Schulter und flüsterte: »Gotzon, lass mich rein.«
Gotzon grunzte und wachte auf. Er starrte Michael an und musste grinsen. »Ich wusste, dass Ihr nicht fortbleiben könnt. Nicht, wenn dieses schöne Mädchen im Kerker verrottet.«
»Das stimmt.« Michael hob den Ring mit Sandres Schlüsseln. »Ich bin gekommen, um sie zu holen.«
Gotzon lachte. Ein lautes, vergnügtes Lachen wie das eines falschen St. Nikolaus. »Das könnt Ihr nicht. Morgen wird sie Sandre heiraten, oder wir hängen sie auf. Wenn sie sich Sandre nicht unterwirft, kriege ich sie heute Nacht. Wir alle kriegen sie. Das wird ein schönes Fest, ich will es auf keinen Fall verpassen, nur weil ich Euch die Tür öff…«
Michael rammte sein Messer tief in Gotzons weichen Bauch.
Gotzons Mund bewegte sich lautlos, und seine Augen standen überrascht vor.
Michael zog das Messer heraus und wischte es an seinem Taschentuch sorgfältig ab.
Gotzon sank zu Boden und brach zusammen. »Ihr«, flüsterte er. Dann brach sein Blick, und er starb zu Michaels Füßen.
Der Gerechtigkeit Genüge getan.
Michael trat über den Leichnam hinweg und nahm den Ring mit einem Dutzend Schlüsseln vom Haken an der Wand. Er probierte den größten zuerst; der dritte öffnete schließlich das erste Tor. Er wollte die Schlüssel schon wegwerfen, bremste sich aber. Lieber nicht. Er durfte nicht riskieren, dass jemand hinter ihm herkam und ihn einschloss.
Also ging er mit Fürst Sandres persönlichen Schlüsseln in der einen Hand und Gotzons Schlüsseln in der Tasche weiter nach unten.
In den Halterungen weit oben an der Wand flackerten Fackeln. Er nahm sich eine und stieg die dunklen Stufen hinunter. Die kleine Insel aus gelbem Licht begleitete ihn und besiegte tapfer die finstere Dunkelheit. Feuchtigkeit tropfte von der Decke. Die Panik umschloss wie eine eisige Hand Michaels Hals, es fiel ihm schwer, Luft zu bekommen oder zu schlucken. Jeder Schritt hallte unheimlich von den Steinwänden zurück, und unterwegs stieß er auf Orientierungspunkte, die der Stoff seiner Albträume waren.
Dort. Dort hatte Sandre ihm die Brandnarbe an der Schulter zugefügt.
Michael verlangsamte die Schritte.
Dort. Rickie hatte ihn mit einer Peitsche gezüchtigt, bis das Blut an seinen Beinen hinabrann.
Dieser Ort stank nach vergangenen Schrecken.
Dort. Gotzon hatte ein Seil um seinen Hals gewickelt, es über einen Stützbalken geworfen und ihn daran aufgehängt. Sandre und Rickie hatten gelacht, während Michael verzweifelt um sich trat und das Seil um seinen Hals umklammerte. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, fingen sie von vorne an. Und noch einmal. Und noch einmal.
Seit er den Kerker hatte verlassen dürfen, hatte sich sein ganzer zerstörerischer Zorn auf Sandre gerichtet. Er hatte nicht bemerkt, wie dieser Ort, an dem Sandre ihn gefangen gehalten hatte, noch immer seine Seele gepackt hielt.
Der Kerker war zu tief unter der Erde, weshalb sich nur die widerlichsten Kreaturen hertrauten. Nicht mal die größten Palastkatzen würden auch nur versuchen, eine der Ratten zu fangen, die heimlich an den Wänden entlanghuschten.
Emma war irgendwo hier unten. Sie war hier.
Der Gang führte immer weiter nach unten in die Finsternis, und er wanderte durch einen nicht enden wollenden Albtraum.
»Michael.« Eine leise Stimme flüsterte seinen Namen. »Michael.«
Überrascht drehte er sich in die Richtung, aus der diese geliebte Stimme kam. »Emma?«
»Hier!«
Ihre Stimme, die so eifrig klang, war zugleich ganz leise und rau, als ob … Lieber Himmel! Hatten sie auch Emma aufgehängt? Hatten sie sie vom Seil geschnitten und wieder aufgehängt?
»Sprich mit mir.« Er fuhr mit der Fackel nach links und rechts, immer an den Türen und Gitterstäben vorbei.
»Du musst nach rechts und ein Stück zurück. Bitte. Bitte, Michael. Dieses Mal darfst du kein Traum sein.«
Er folgte der verzweifelten Stimme und stieß die Fackel gegen die Gitterstäbe, bis das schwache Licht sie berührte. Eine kleine, kaum sichtbare Gestalt, die auf einer Pritsche an der gegenüberliegenden Wand kauerte.
Dieser dreckige Mistkerl hatte sie in der Königszelle untergebracht – in der Zelle, in der auch Michael für zwei lange, verzweifelte Jahre untergebracht war.
Er steckte nacheinander die beiden Schlüssel von Fürst Sandre ins Schloss. Der zweite passte, und mit einem Quietschen ging die Tür auf. Er bedeutete ihr, aus der Zelle zu kommen. »Komm, beeil dich.«
Ketten rasselten. »Ich kann nicht.«
Sie hatten sie an die Wand gekettet. Natürlich hatten sie das getan.
Er schloss die Augen und war einen Moment von der Pein, die sie hatte erleiden müssen, völlig paralysiert. Von ihrer Hilflosigkeit.
Dann öffnete er die Augen. Die Pein blieb, sie schmeckte säuerlich, und er schluckte vergebens dagegen an.
So schmeckte Angst.
»Michael?« Ihre Stimme zitterte. »Du hast die Schlüssel.«
»Ja.« Er hielt Sandres Schlüssel in der Hand. Darum zog er Gotzons Schlüssel aus der Tasche und nahm sie in Augenschein. Sie lagen schwer und kalt in seiner Hand, und er war von so schrecklichem Entsetzen gepackt, dass er sich nicht bewegen konnte.
Wie konnte er in diese dunkle Erdhöhle gehen, in der Stunde auf Stunde folgte, Tag auf Tag ohne Licht und Wärme, ohne den Klang einer menschlichen Stimme oder die Wärme einer Berührung? In dieser Höhle dehnte sich jeder Augenblick unendlich, bis allzu bald Sandre zurückkam und ihn aus der Zelle zerren ließ, um ihn dann Rickie zu überlassen, wie eine Katze der anderen eine Maus zum Spielen überließ.
»Michael, ich brauche dich.« Emmas Stimme war nur ein Hauch.
Emma. Wenn er sich nicht bald in Bewegung setzte, würde sie sterben.
Er machte einen ersten Schritt in die Zelle. Die Angst streifte seine Haut wie eisige Spinnweben. Noch ein Schritt. Der vertraute Geruch nach Schimmel und Moder erfüllte seinen Kopf. Noch ein Schritt. Sein Verstand schrie: Das ist eine Falle! Raus hier!
Dann beleuchtete die Fackel Emmas Gesicht, das ihm zugewandt war. Sie wirkte dünn und müde, aber sie betrachtete ihn mit strahlenden Augen, als ob er stark und tapfer sei.
»Hör auf«, murmelte er.
»Aufhören? Womit denn? Ich kann mich nicht bewegen.« Ihre Hände waren an die Wand gekettet, die Füße zusammengekettet, und die Kette von den Füßen führte hinauf zu den Händen.
Er sank vor ihr auf die Knie, legte die Fackel behutsam auf den Boden und versuchte, im spärlichen Licht an Gotzons Schlüsselring nach einem kleineren Schlüssel zu fahnden, der in die Handschellen passte. »Hör auf, mich so anzusehen. Als käme ich ohne Angst hier runter, um dich zu retten.« Er fand den Schlüssel und probierte ihn an den Fußfesseln aus.
Seine Hände zitterten, und der Schlüssel landete neben dem Schlüsselloch. Der metallische Laut gellte ihm in den Ohren.
»Sandre hat mir erzählt, dies sei früher deine Zelle gewesen. Er hat mir erzählt, was er dir angetan hat. Ach, Michael.« Sie hob die Hand und versuchte, seine Wange zu berühren, aber die Kette rasselte, weil sie allzu schnell und noch Zentimeter von seinem Gesicht entfernt das Ende erreichte. »Du wusstest, was dich hier unten erwartet, als du hergekommen bist. Du wusstest, dass sie dich ein zweites Mal gefangen nehmen und foltern könnten. Du wusstest, dass du bei meiner Rettung getötet werden könntest. Trotzdem bist du gekommen. Ich hoffe, du bist meinetwegen gekommen. Aber ich weiß auch, dass du vor allem deshalb gekommen bist, weil du immer das Richtige tust.«
Erneut schob er den Schlüssel ins Schloss, aber das Zittern wurde immer schlimmer. Er konnte es nicht. Er konnte einfach nicht den letzten Schritt machen, um sie zu befreien.
Er war ein Versager.
»Ich mache nicht das Richtige«, erwiderte er leise. »Ich tue das, was ich tun muss.«
Sie lachte. Sie schaffte es tatsächlich, zu lachen! Bestimmt hatte hier unten noch nie jemand gelacht, und dieser Laut schaffte es, die Dunkelheit zu vertreiben. »Du hättest nichts davon tun müssen. Nach deiner Freilassung aus dem Kerker und nachdem du einen Weg gefunden hattest, aus Lady Fancheres Zelle zu entkommen, hättest du einfach heim nach England gehen können. Wer hätte dir einen Vorwurf gemacht? Stattdessen hast du das Kostüm des Schnitters angelegt und bist für die Gerechtigkeit geritten. Als du erfahren hast, dass ich gefangen genommen wurde – und das, nachdem du mich davor gewarnt hast, zu reiten –, hättest du mich der Bestrafung überlassen können, die ich vermutlich auch verdient habe. Stattdessen stellst du dich diesem Schrecken. Du warst gerade eben noch völlig gelähmt vor Schreck. Trotzdem bist du hereingekommen, weil du mich retten willst. Es ist eine bewusste Entscheidung, den ehrenvollen Weg zu gehen. Tapferkeit ist auch eine bewusste Entscheidung. Und du bist der mutigste Mann, den ich kenne!« Sie versuchte, ihn zu berühren, aber erneut erreichte sie das Ende ihrer Handfessel. »Ich wäre jedenfalls irgendwann hier unten wahnsinnig geworden. Aber ich wusste, dass du kommst und mich rettest. Das hat mich am Leben erhalten.«
Während sie sprach, ließ das Zittern seiner Hände nach.
Er öffnete die Fußfesseln und dann die Handschellen. Danach zog er sie einfach in die Arme und hielt sie eine Minute lang an sich gedrückt. Nur eine Minute, länger nicht. Er vergaß nicht die verschlossene Tür der Zelle und auch nicht den langen Gang, den sie überwinden mussten. Außerdem war da noch der Palast über ihren Köpfen, in dem die Diener und Soldaten des Fürsten lauerten.
Er und Emma mussten von hier verschwinden, ehe der Fürst auf den Tisch kam.
Doch diese eine Minute, in der sie sich aneinander festhielten, war so viel mehr: Licht und Leben. Ihre Liebe wurde erneut bekräftigt.
»Kannst du stehen?«, fragte er schließlich.
»Ja.« Sie kam humpelnd auf die Füße. »Ich habe nur … Beim Sturz von Old Nelson habe ich mich verletzt, und das konnte nicht besonders gut heilen.«
»Natürlich konnte es das nicht.« Er versuchte, beruhigend zu klingen. Wenn er das vorher gewusst hätte … Hätte er sich dann bremsen können? Oder hätte er Sandre dann umgebracht, als er die Gelegenheit dazu hatte?
Er nahm die Fackel vom Boden und half ihr. Doch die schweren Eisenringe mit den Schlüsseln behinderten ihn. Er starrte die beiden Ringe an. Am liebsten wollte er sie wegwerfen, doch er wusste, wie dumm das wäre. Solange Emma und er nicht aus dem Kerker entkommen waren, war es gut möglich, dass er sie noch einmal brauchte.
»Hier.« Sie hob die dreckige, dünne Matte hoch, die Sandre boshaft als Matratze bezeichnet hatte. »Leg sie hier drunter.«
Der Bettrahmen war aus verrosteten Eisenrohren und Metalldraht gefertigt. Er gab ihr die Fackel und hatte im Nu die Schlüssel versteckt. Sie konnten jederzeit zurückkommen und die Schlüssel holen. Und wer wusste schon, ob die Schlüssel einem zukünftigen Gefangenen nicht nützlich sein konnten?
Er nahm die Fackel wieder an sich und legte den freien Arm um ihre Taille. So steuerten sie die Zellentür an.
Sie humpelte und schonte eine Hüfte. »Das wird bald besser«, versicherte sie ihm. »Sobald ich etwas laufe, legt sich der Schmerz.«
Es schien ihr auf dem Weg durch den nachtschwarzen Gang aber nicht besser zu gehen.
Seine Hände ruhten auf ihren Rippen, und er spürte, wie schrecklich dünn sie in so kurzer Zeit geworden war. Seine Wut erwachte mit neuer Kraft. »Haben sie dich hungern lassen?«
»Wenn ich gehungert habe, war es allein meine Schuld.« Auf dem ersten Treppenabsatz hielt sie ihn zurück. »Ich kann nicht weiter, wenn ich dich nicht vorher um Verzeihung bitten darf. Ich konnte während der dunklen Tage und Nächte nur an das eine denken – nämlich dass Lady Fanchere und du alle Hebel in Bewegung setzen würdet, um mich zu retten. Und es war allein mein Fehler, dass ich hier gelandet bin. Ich habe die Beherrschung verloren und bin einfach drauflosgeritten, ohne an etwas anderes zu denken als an die Befriedigung meiner eigenen Rachegelüste. Es ist das eine, wenn ich für meine eigene Gedankenlosigkeit bezahle. Aber dich damit in Gefahr zu bringen … Ach, Michael! Das tut mir so leid.«
Er war verlegen. »Ich kann nicht glauben, dass du mich um Verzeihung bittest, nachdem ich dich so sehr getäuscht habe.«
»Das vergebe ich dir auch nicht.« Sie klang gerissen, und er hörte sogar ihren alten Humor wieder heraus. Sie küsste ihn einmal und legte all ihre Leidenschaft in diesen einen Kuss. »Ich will dich für den Rest deines Lebens dafür bezahlen lassen.«
Er schnaubte, doch dann stockte ihm der Atem. »Dann wirst du mich heiraten?«
»Wenn du mich noch willst. Michael …« Sie streichelte seine Wange. »Ich liebe dich.«
Das war alles, was er hören musste. »Komm. Wir müssen von hier verschwinden. Dies ist nicht der richtige Ort, um sich zu lieben.«
Sie lachte, während er sie halb trug, halb stützte. Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen durch das obere Tor. Sie hatte nicht einmal einen Blick für Gotzon übrig, als Michael die Fackel neben dem Leichnam fallen ließ. Die nächste Treppe war von zahlreichen Fackeln beleuchtet, und am oberen Ende konnte er bereits das weiche Kerzenlicht des Palasts ausmachen.
Sie bewegten sich jetzt schneller voran und hatten schon fast den Kerker verlassen. Sie erreichten den oberen Treppenabsatz …
Doch dort stand Jean-Pierre. Er hielt ein Schwert in der Hand und versperrte ihnen den Weg.