39
»Das hat meinem Vater gehört.« Aimée zeigte Elixabete die kleine Holzfigur eines Pferds, die sorgfältig geschnitzt und poliert war. »Einer unserer moricadischen Arbeiter hat die Figur aus einem Eichenstumpf gefertigt, und Vater hat sie ihm abgekauft. Die Familie wurde von ihrem Land vertrieben. Von … nun, du weißt, von wem.«
»Von den de Guignards.«
»Ja. Sieh doch nur, welche Kunstfertigkeit in dieser Arbeit steckt.« Aimée hielt die Statue hoch, sodass sie im Sonnenlicht badete, das durch das Fenster strömte. »Moricadier reiten heutzutage nicht mehr, zumindest die meisten von ihnen. Sie haben nicht genug Geld, um Pferde zu füttern und ihnen Ställe zu bauen.«
»Ich liebe sie«, erklärte Elixabete leidenschaftlich.
»Ja, Moricadier haben ein Gespür für Pferde, und die Pferde wissen das. In diesem Stück Handwerkskunst siehst du den Respekt und die Bewunderung für die Kreatur.« Aimée strich liebevoll über die Figur. Sie genoss das weiche Spiel von Muskeln und Knochen, das in dieser Holzfigur hauste.
Ihre Schlafkammer war wie der Rest des Hauses in weiße Laken gehüllt. Die Dienerschaft war entlassen. Ein Wagen kam heute, um Aimées letzte Habseligkeiten zu holen, ehe sie das Haus verschloss und ging.
Sie hatte es noch niemandem erzählt, vor allem nicht ihrer lieben Freundin Eleonore, aber Rickies Tod hatte sie befreit. Sie würde niemals nach Moricadia zurückkehren.
Impulsiv drückte sie Elixabete das Pferd in die Hand. »Das behältst du.«
»Nein. Nein, das gehört doch Euch! Euer Vater hat es Euch geschenkt.« Elixabete versuchte, ihr die Statue zurückzugeben.
»Ich reise nach Italien, und ein moricadisches Pferd gehört nach Moricadia in die Hände eines moricadischen Kindes.« Aimée zerzauste die Haare des Mädchens. »Behalte es in Erinnerung an mich.«
Ein Rumsen vor dem Haus ließ die Fenster klirren, die Frau und das Mädchen schauten einander alarmiert an.
»Hier ist doch niemand«, flüsterte Elixabete. »Das Haus ist verlassen.«
»Fancheres Männer sollten später noch den Wagen bringen, um meine letzten Sachen zu holen. Glaubst du, sie sind in die Eingangshalle gefahren? So hört es sich nämlich an.« Aimée verzog missbilligend die Nase. »Das würde ziemlich viel Unordnung mit sich bringen, ich will nicht noch länger bleiben und mich darum kümmern müssen.« Sie schaute auf die letzte Reisetruhe. »Ich bin hier fast fertig. Liebes, geh nach unten und schau für mich nach.«
»Nein. Bitte, Lady de Guignard.« Elixabete drängte näher heran und drückte das Pferd an ihre schmale Brust. »Ich mag dieses Haus nicht.«
Aimée blickte sich in ihrem farblosen Schlafzimmer um. »Aber warum denn nicht, Kind?«
»Hier gibt es Gespenster.«
Aimée lachte. Dann aber ging ihr auf, wie herzlos es von ihr war, das Kind auszulachen. Elixabete hatte wirklich Angst. Darum erklärte sie beruhigend: »Nein, ich schwöre dir, hier gibt es keine Gespenster. Niemand ist in einem der Zimmer gestorben. Das Haus ist noch ganz neu, und selbst während wir hier gewohnt haben, hat doch niemand wirklich hier gelebt.«
Erneut hörten sie ein Rumsen vor dem Anwesen.
»Dann ist es das Haus selbst«, flüsterte Elixabete. »Das Haus ist böse.«
»Liebes, es ist bestimmt nicht das Haus, das so viel Lärm macht. Das sind auch keine Gespenster. Die Leute sind entweder mit dem Wagen in die Eingangshalle gefahren, oder«, bei der Vorstellung dieser zweiten Möglichkeit hob sich ihre Stimmung, »jemand vor der Tür versucht, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Geh schon und sieh nach, was da los ist. Ich möchte es gern wissen.«
Elixabete starrte sie mit vor Angst weit aufgerissenen Augen an.
»Nun geh schon.« Aimée gab ihr einen Klaps auf den Hintern. »Ich verspreche dir, niemand wird dich erschrecken.«
Elixabete machte einen Knicks und schlich aus dem Raum.
Aimée packte die letzten Sachen ein und schaute sich im Raum um. Sie lachte leise. Elixabete fürchtete sich vor den Gespenstern, die in diesem Haus umgingen. Aimée hatte sich früher vor allem vor dem Mann gefürchtet, der hier mit ihr gewohnt hatte. Nach Rickies Tod wusste Aimée, dass dieses Haus sicher war.
Wenn sie an Italien dachte, an die Sonne, Weintrauben und Musik, dann wollte sie vor Freude weinen. Sie wollte Emma küssen und ihr danken, dass sie auf diese Idee gekommen war, und sie wollte Fanchere umarmen, der das alles möglich gemacht hatte. Vor allem wollte sie Eleonore umarmen und für sie hoffen, dass sie sich die Illusionen über Sandre und Moricadia bewahren konnte. Denn wenn Eleonore jemals herausfand, wozu ihr geliebter Cousin tatsächlich fähig war … Ach, Eleonore war zu gutherzig und verdiente diesen Kummer nicht.
Aimée schaute zur Tür. Elixabete hätte längst zurückkommen müssen.
War das Kind etwa gestürzt und hatte sich verletzt?
Aimée runzelte die Stirn.
Und was war das für ein Rumsen, das sie gehört hatten? Sie hatte Elixabete doch nicht direkt in die Arme von Dieben gescheucht?
»Ach, Aimée.« Sie trat auf den Gang und schalt sich selbst auf dem Weg zur Halle. »Du bist so eine dumme Närrin. Warum hast du daran nicht zuerst gedacht?« Sie eilte zur Treppe, die sich in elegantem Schwung nach unten zum Erdgeschoss erstreckte. Wie das Anwesen der Fancheres besaß auch dieses Haus eine lang gestreckte Galerie über der Eingangshalle.
Anders als bei den Fancheres war hier alles weiß, makellos und farblos.
Sobald Aimée erst in Italien war, wollte sie überall Farbe sehen. Sie wollte Lavendel in Vasen aufstellen, die Wände sollten in Gold und Terrakotta bemalt werden, und sie wünschte sich Vorhänge aus Knautschsamt in königsblau. Dort wäre ihr warm, und sie würde endlich glücklich …
Der Körper eines Kinds lag mit dem Gesicht nach unten auf der Galerie.
Elixabetes Körper.
»Mein Gott!« Aimée rannte auf sie zu. »Was ist passiert? Bist du gestürzt? Kannst du sprechen?«
Elixabete stöhnte. Ihre Augen öffneten sich flatternd.
Blut strömte aus einer halbmondförmigen Wunde an ihrer Stirn.
Aimée fuhr mit dem Finger über das Blut. Es sah fast so aus, als habe jemand das Kind geschlagen.
Elixabete schaute auf das Pferdchen, das sie noch in der Hand hielt. Sie runzelte die Stirn. Ihre Augen gingen ins Leere, und das Mädchen wirkte verwirrt.
»Erinnerst du dich, was passiert ist?«, fragte Aimée.
Elixabete blickte auf. »Lady de Guignard … Wo kommt Ihr denn her? Was ist passiert?« Ihre Augen wanderten umher und richteten sich auf etwas auf Aimées Schulter. Oder dahinter. Das Kind schrie auf und versuchte, sich aufzurappeln.
Aimée drehte sich halb um. Sie erhaschte einen Blick auf jemanden, der hinter ihr stand. Ein Mann, breit gebaut und groß.
Er packte sie von hinten am Kragen und an der Taille.
Sie kreischte. Er hatte ihre Haare erwischt, als er sie packte. »Was tut Ihr da?«, schrie sie und wand sich, um irgendwie bessere Sicht auf ihn zu bekommen.
Elixabete knurrte wie ein Hund, der seine Zähne in einen Knochen graben wollte. Sie packte nach seinem Stiefel.
Er trat das kleine Mädchen gegen den Kopf, dass es rückwärts über die Fliesen schlitterte.
Aimée kreischte. Sie kämpfte gegen den Unbekannten.
Er hob sie hoch und wuchtete sie über die Balustrade.
Einen schrecklichen Moment lang starrte sie auf den Marmorfußboden, der sich tief unter ihr erstreckte.
Dann ließ er sie los.
Sie schrie während ihres Falls die ganze Zeit.
Jean-Pierre hörte, wie sie aufschlug. Er hörte ihr Stöhnen und schaute über das Geländer.
Aimée war mit dem Gesicht nach unten gelandet. Im vergeblichen Versuch, ihren Fall aufzuhalten, hatte sie die Arme ausgebreitet. Blut war über den Boden gespritzt und befleckte die weißen Marmorfliesen. Sie bewegte sich nicht. Sie war tot. Jetzt konnte sie die Gerüchteküche um den Schnitter nicht länger anheizen. Gut so.
Diese Aufgabe hatte er mit Bravour erledigt.
Er hatte festgestellt, dass es gar nicht so schwer war, jemanden zu ermorden, wenn man zur Übung ein paar Mal auf Frauen und Kinder geschossen hatte.