2
Emma war verloren. Sie lief die hell erleuchteten Korridore auf und ab, stolperte in verdunkelte Zimmer, wohin Paare sich zurückgezogen hatten, um sich zu lieben. Dann stolperte sie rückwärts schnell wieder heraus, murmelte eine Entschuldigung und wünschte, sie wäre in England, wo die Paarungsrituale eher im Geheimen stattfanden und nicht so animalisch waren.
Schließlich fand sie eine Tür zum Garten und trat auf die Terrasse. Sie schaute zu dem Chateau zurück. Von hier konnte sie die Musik aus dem Ballsaal hören und sah die Lichter, die durch die hohen Fenster nach draußen fielen. Wenn sie sich genau umschaute, fand sie den Weg zurück ins Haus bestimmt und konnte dort ihre Suche erneut beginnen.
Aber wie ging es dann weiter? Sie hätte ihre Mission immer noch nicht erfolgreich erfüllt, und sie wusste, was es sie kosten würde, wenn sie Lady Lettices Befehlen nicht gehorchte.
Moricadia war ein wunderschöner kleiner Edelstein hoch oben in den Pyrenäen. Gesegnet mit spektakulären Ausblicken, ländlichen Almen und heißen Quellen, denen man nachsagte, sie könnten die Kranken heilen. Aber Emma stand hier unter dem Sternenzelt, starrte auf einen sprudelnden Springbrunnen und wünschte, sie wäre reich, adelig und schön, statt arm, gewöhnlich und gut ausgebildet zu sein. Was brachte es einer Frau, wenn sie gesunden Menschenverstand und einen scharfen Verstand hatte, wenn ihre Hauptaufgabe doch darin bestand, einem schwitzenden Biest frische Luft zuzufächeln und nachts die von Hühneraugen übersäten Füße zu massieren? Wenn Gott schon keines ihrer Gebete erhörte, hätte sie wenigstens gedacht, Er könne ihr die Fähigkeit verleihen, heil ihren Weg von Punkt A zu Punkt B zu finden, ohne unterwegs verloren zu gehen. Wenigstens dieses eine Mal, damit sie das Taschentuch von dem Biest anfeuchten konnte.
Wie ihr Vater so schön gesagt hatte, war sie immer ein schüchternes Kind gewesen. Aber sie hatte auch immer einen analytisch arbeitenden Verstand besessen, und das war eine Gabe Gottes, die sie nutzen sollte, um ihr Leben und das vieler anderer Menschen besser zu machen.
Daher trat sie an den Springbrunnen und tauchte Lady Lettices Taschentuch in das Becken, bis es ordentlich nass war. Dann holte sie es heraus und wrang es aus.
Als sie ein warmes, kratziges Lachen hinter sich hörte, machte sie einen Satz und ließ das Taschentuch fallen. Sie drehte sich um und stand dem tragischen Engländer Michael Durant gegenüber.
»Ich bin Euch gefolgt, weil ich Euch den Weg zu den Waschräumen zeigen wollte. Wie ich sehe, habt Ihr eine bessere Lösung gefunden.« Er nickte zu dem Springbrunnen.
»Es ist nicht so, wie Ihr denkt.« Das war ihr schlimmster Albtraum. Er würde sie bestimmt an das Biest verraten. Dann würde sie in einem fremden Land auf die Straße gesetzt, ohne irgendwelche Mittel und ohne eine Vorstellung, wohin sie sich wenden konnte. Sie würde bestimmt sterben – oder ein schlimmeres Schicksal als den Tod erleiden. »Ich bin nicht absichtlich hier herausgegangen …«
Er hielt eine Hand hoch. »Bitte. Lady Lettice hat Eure Fähigkeit, verloren zu gehen, sehr deutlich gemacht. Was sie aber wohl nicht bedacht hat, ist vermutlich Euer Improvisationstalent. Miss …?«
»Chegwidden.« Sie machte einen Knicks, wie man es ihr in Miss Smiths Schule für junge Damen beigebracht hatte. »Emma Chegwidden.«
Im Ballsaal hatte sie Michael Durant heimlich beobachtet. Dort war er ihr nicht besonders vornehm erschienen. Er war eher ein großer, grobschlächtiger Kerl mit schweren Knochen. Sein schwarzer Anzug war aus feinstem Stoff geschneidert und sprach von einem ausgezeichneten Geschmack, sie hätte drauf gewettet, dass er bei den besten Schneidern Londons ein und aus ging. Doch die Sachen passten ihm nicht gut: Die Anzugsjacke spannte über den breiten Schultern, die Hose schlackerte um die Hüften. Das Ganze ließ ihn wie ein Schlachtross wirken, das man in die Kleidung eines Edelmanns gesteckt hatte. Seine Haare waren rot, ohne einen Hauch Grau. Seine Augen leuchteten hell und strahlend grün. Die Haut war gebräunt; er schien ein Mann zu sein, der sich gern unter freiem Himmel aufhielt.
Er verneigte sich. »Es ist mir ein Vergnügen, Miss Chegwidden. Stammt Ihr etwa von den Chegwiddens in Yorkshire ab?«
»Von ebendiesen.« Wie dumm, erleichtert zu sein, nur weil Durant ihre Familie kannte, die zwar verarmt, aber durchaus respektabel war. Doch seine Worte wärmten sie. »Mein Vater war Vikar in der Kapelle zu Freyaburn nahe St. Ashley.«
»Ich kenne die Gegend gut. Sehr schön dort. Sehr ursprünglich. Vermisst Ihr Eure Heimat?«
»Oh ja. Im Frühling, wenn der Wind über das Moor pfeift und das Heidekraut niederdrückt, dann …« Ihr Atem stockte. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, nie an zu Hause zu denken. Törichte Tränen schossen ihr in die Augen, die sie oft genug zum Gespött der Leute machten.
Aber er sagte nur: »Ich finde, Moricadia unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von England, denkt Ihr nicht auch?«
»Sehr.« Sie schluckte hart und gewann die Fassung wieder. Dann zeigte sie nach Osten. »Die Stadt ist so weltoffen, hell und voller wohlhabender Besucher, die nach Zerstreuung suchen.«
»Eigentlich ist Tonagra«, er nahm ihren Finger und zeigte in die entgegengesetzte Richtung, »eher dort.«
»Oh.« Seine Korrektur war ihr nicht peinlich. Nein, ihr wurde vielmehr bewusst, wie lange es her war, seit sie mit einem anderen Menschen Kontakt gehabt hatte – zumindest einem Menschen, der es nicht darauf anlegte, sie zu erniedrigen. Seine Berührung war warm und drang durch ihren dünnen Baumwollhandschuh. Eine sanfte, leichte Berührung.
»Aber ich habe Euch unterbrochen.« Er ließ ihre Hand los, als sie nicht sofort weitersprach, fragte er: »Miss Chegwidden?«
Leicht verwirrt aufgrund ihrer mäandernden Gedanken sprach sie hastig weiter. »Hier in Moricadia sind die Spielsalons riesig und wunderschön ausgestattet. Und ja, ich wiederhole mich, so viele Besucher! So viel Wohlstand! Die Chateaus sitzen wie kleine Punkte auf den Berghängen, ähnlich den Sternen am Nachthimmel. Aber andererseits sind die Menschen hier so arm, und ich habe das Gefühl, als könnte keine menschliche Behausung und kein Bemühen der Zivilisation diese gewaltigen Berge oder die verwilderten Wälder an den Hängen bezähmen.« Sie erinnerte sich an die enge, gewundene Straße, auf der sie in Lady Lettices Mietkutsche hergekommen waren. Wie die Wälder scheinbar immer näher rückten, wie sie einzelne Felsen entdeckte, die aus dem Dunkel aufragten, wenn sie einen Gipfel erreichten. Emma erschauerte und zog den Schal enger um ihre Schultern.
Als ihr bewusst wurde, dass er sie beobachtete, wurde sie rot.
Im Ballsaal hatte sie ihn für einen Aufschneider gehalten. Noch ein Adeliger, der mit seiner eigenen Tragödie kokettierte, um sich so das Mitgefühl der Anwesenden zu sichern und im Gespräch zu bleiben.
Hier draußen machte er einen ganz anderen Eindruck auf sie. Er schien amüsiert zu sein und brachte mehr als nur ein bisschen Mitgefühl für ihre Misere auf. Doch er sah zu viel. Er verstand ihre Gefühle zu gut, und bei Nacht, da nur die Sterne ihnen Licht spendeten, verfügte er über eine Ruhe, die sie beunruhigte. Wie ein Tiger, der auf seine Beute lauerte. Sie sollte zusehen, dass sie nicht als wehrloses Opfer endete.
Darum musste sie behutsam vorgehen. Für den Moment wirkte Durant auf sie freundlich, doch er konnte genauso widerlich und spöttisch sein wie die anderen Gentlemen, die sich um Lady Lettice drängten. Vermutlich war er noch um einiges gefährlicher, denn er lud sie ein, sich ihm anzuvertrauen.
»Beachtet mich einfach nicht, Mylord«, erklärte sie möglichst gelassen. »Das sind nur dumme Gedanken.«
»Ganz und gar nicht. Sie zeigen großes Einfühlungsvermögen.«
»Ihr seid hier schon sehr lange, nicht wahr?«
»Das stimmt, ja.«
»Ist es Eurer Familie nicht möglich, das Lösegeld zu zahlen?«
»Welches Lösegeld?«
»Das nötig ist, um Euch freizukaufen, damit Ihr heimkehren könnt.«
»Meine Familie wäre von dieser Anfrage aufs Höchste überrascht. Sie halten mich für tot.«
»Wie schrecklich für Eure Familie! Könnt Ihr ihnen nicht heimlich eine Nachricht schicken, um ihren Kummer zu lindern?«
»Ich habe mich dagegen entschieden.«
Entsetzen und Abscheu ließen sie erstarren. »Ihr habt aber doch Familie. Eine Mutter, einen Vater …«
»Und zwei Brüder.«
»Und Ihr habt entschieden, nicht in den Schoß der Familie zurückzukehren?«
»Ich würde sie niemals bitten, Geld zu schicken, nur damit es die Taschen der de Guignards füllt.«
Sie hätte alles gegeben, wenn sie ihren Vater zurückbekäme. Hätte jeden Betrag gezahlt, hätte gefleht und gebettelt. Und dieser Mann weigerte sich, seinen Verwandten Nachricht zu schicken, weil … weil … »Dann ist Stolz der Grund für Eure Zurückhaltung? Ihr wünscht nicht, Moricadia zu verlassen, und der Schmerz Eurer Lieben kümmert Euch nicht?«
Er machte einen Schritt auf sie zu.
Plötzlich erinnerte sie sich wieder, dass sie allein im Garten stand. Niemand wusste, wo sie steckte. Michael Durant war ein mächtiger Adeliger, und sie hatte ihn soeben indirekt kritisiert.
Sie machte einen Rückzieher. »Ich habe wohl meine Grenzen überschritten, verzeiht. Aber Ihr solltet Euch wegen Eures Egoismus’ wirklich schämen.«
»Ihr habt in beiden Punkten recht.« Seine Stimme klang höflich und zurückhaltend. »Darf ich Euch behilflich sein, Lady Lettices Taschentuch zu retten?«
Sie schaute in den Brunnen, wo das weiße Quadrat in dem klaren Wasser schwamm. »Vielen Dank, das kann ich allein.« Ohne sich von ihm abzuwenden, beugte sie sich herunter, fasste das Taschentuch mit den Fingerspitzen und wrang es über dem Brunnen leicht aus. »Lady Lettice macht das also, um mich zu beschämen.« Das war eine bittere Pille, die sie nur schwer schlucken konnte. Alle lachten jetzt über sie, und sie konnte nichts dagegen tun.
»Sie ist keine Dame, glaube ich.«
»Nein.« Sie wrang das Taschentuch noch einmal aus und stellte sich vor, es sei Lady Lettices Hals.
»Und keine besonders angenehme Frau.« Er stieg die Treppe hinauf und schaute zu ihr hinunter. »Wollen wir wieder in den Ballsaal gehen?«
Sie dachte, er wollte sie dorthin führen, und folgte ihm misstrauisch.
Er hielt ihr die Tür auf und beobachtete sie, während sie hindurchging.
Sie straffte die Schultern.
»Hier entlang.« Er zeigte zum Ende des Korridors, und während sie gingen, fuhr er fort: »Ich erinnere mich, dass sie die einzige Tochter einer Fabrikantenfamilie war und ihres Vermögens wegen von Baron Surtees geheiratet wurde.«
»Als sie siebzehn war, soll sie eine große Schönheit gewesen sein.« Emma sagte nicht, dass Lady Lettice inzwischen ein großes Biest war. Sie vermutete, dass Durant, der sein Umfeld sehr aufmerksam beobachtete, das bereits erkannt hatte.
»Ich habe zudem gehört, dass Surtees nach gut zwanzig Jahren in dieser elenden Ehe die Flucht gelang, indem er verstarb.«
»Ihr seid wirklich lieblos, Mylord.« Sie atmete tief durch, um nicht laut aufzulachen, während sie sprach. Erst als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, fügte sie hinzu: »Aber im Grunde habt Ihr recht. Lady Lettice tut und lässt, was sie will. Sie hat seinen Titel und ihr eigenes Vermögen, das nach der Ehe noch recht unberührt war, engagierte eine respektable Gesellschafterin, die keine eigenen Mittel hat, keine Familie und daher keine Möglichkeit, ihr zu entkommen. Das bin ich, übrigens. Und dann hat sie sich aufgemacht, eine große Europareise zu machen.«
»In der Hoffnung, ihr nächstes Opfer … äh, ihren nächsten Ehemann kennenzulernen und zu heiraten.«
Seine Größe beunruhigte sie. Sie betrachtete verstohlen seine Hände. Große Hände. Mit dicken Knöcheln und schweren Knochen. Breiten Handtellern. Hände, die von seiner Kampferfahrung gezeichnet waren. Eine weiße Narbe führte quer über einen Knöchel seiner linken Hand. Er hatte etwas oder jemanden geschlagen, und dabei war die Haut aufgeplatzt. Und sie spazierte allein mit ihm durch die Nacht. Resolut sprach sie weiter: »Ursprünglich hat Lady Lettice nach einem jungen Engländer gesucht, weil sie dachte, es sei eine gute Idee, einen Gentleman zu heiraten, der sie in der englischen Gesellschaft in die höchsten Kreise führt. Aber die jungen Männer waren ihr zu sprunghaft und schmeichelten ihr nicht genug.« Emma fuhr mit dem Finger über die leichte Erhebung an ihrem Kinn. »Darum hat sie sich klugerweise den Gentlemen vom Kontinent zugewandt. Sie sind so viel weltgewandter im Umgang mit Frauen ihres Alters und ihres Reichtums.«
»Das kann ich mir vorstellen. Hier entlang.« Durant wandte sich nach rechts, dann wieder nach links. Er führte sie durch Flure, die von geschlossenen Türen gesäumt wurden und von vereinzelten Kerzen nur spärlich beleuchtet wurden.
»Seid Ihr sicher?« Sie hätte schwören können, dass sie wieder Richtung Garten unterwegs waren.
»Ich verirre mich nie.« Er klang absolut selbstsicher.
Ein lästiger Mann. Er verirrte sich vielleicht nicht, aber er steckte augenscheinlich in Schwierigkeiten. Schärfer als beabsichtigt fragte sie: »Was habt Ihr angestellt, dass man Euch als politischen Gefangenen eingesperrt hat?«
Er blieb stehen.
Sie blieb ebenfalls stehen.
»In Moricadia ist es nicht besonders ratsam, seine Nase in politische Angelegenheiten zu stecken.« Er tippte mit dem Finger gegen ihre Nasenspitze. »Denkt daran.«
Seine Unterstellung erzürnte sie, und sie erwiderte: »Etwas so Dummes würde ich sicherlich nicht tun.«
Seine Augenbrauen, die weich und wohlgeformt waren, hoben sich zweifelnd. »Natürlich nicht. Ihr seid überaus sensibel.«
Erst seine Erwiderung ließ sie erkennen, dass sie ihn tatsächlich gerade als dumm bezeichnet hatte. »Mylord, ich wollte nicht …«
»Völlig in Ordnung. Ihr habt ja irgendwie recht. Hier.« Er öffnete eine Tür zur Rechten.
Plötzlich waren Musik und Gelächter wieder zu hören, und als Emma durch die Tür spähte, sah sie den Speisesaal, in dem Lady Thibaults Diener bereits für eine mitternächtliche Mahlzeit eindeckten. Dahinter konnte sie durch offene Glastüren den Ballsaal sehen.
Sie konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken. Sie war rechtzeitig zurückgekehrt und hatte Lady Lettices Zorn nicht auf sich geladen. Außerdem war sie nicht mehr mit dem geheimnisvollen Michael Durant allein.
»Habt Ihr Lady Lettices Taschentuch noch?«, fragte er.
»Ich verliere nichts, Mylord.« Sie zeigte es ihm. Die ganze Zeit hatte sie es festgehalten. »Ich verliere nur mich selbst.«
»Jetzt seid Ihr in Sicherheit. Ich lasse Euch nun allein, damit Ihr in aller Ruhe zu Lady Lettice zurückkehren könnt.« Er verbeugte sich. »Es war mir ein Vergnügen, Miss Chegwidden.«
Sie machte einen Knicks. »Mylord, ich danke Euch von ganzem Herzen.« Sie sah ihm nach, als er davonging. Dieser Mann war wirklich erstaunlich. Auf der einen Seite machte er einen netten Eindruck und rettete sie aus einer Notlage. Andererseits war er so herzlos und ließ seine Familie in dem Glauben, er sei tot. Trotzdem überwog die Dankbarkeit. Denn nur seinetwegen war sie so zeitig in den Ballsaal zurückgekehrt. Das Taschentuch war feucht und Lady Lettices gemeines Spiel hatte sie für sich entscheiden konnte.
Natürlich würde Lady Lettice infolgedessen schlechte Laune bekommen, denn sie verlor nicht gerne. Die nächtliche Pflicht, diese garstige Frau aus ihrem Korsett zu schälen, würde vermutlich noch quälender. Aber manchmal war es eben doch gut zu gewinnen – egal, welche Konsequenzen ein Sieg hatte. Jetzt stand diesem Triumph dank Michael Durant nichts mehr im Wege.