17

Dodd.eps

Emma beobachtete Lady Fanchere und Fürst Sandre aus der Ferne. Sie wusste ziemlich genau, was das Thema ihres Gesprächs war, und sie fragte sich, was Lady Fanchere wohl zu ihm sagen würde. Aber obwohl ihre Zukunft von dieser Unterhaltung abhängig war, wurde sie davon nicht so sehr eingenommen, wie man meinen sollte. Stattdessen überlegte sie, wie sie dem flüchtigen Schnitter eine Nachricht übermitteln konnte.

»Miss Chegwidden?« Die Stimme eines Fremden ließ sie herumfahren. Sie starrte ihn an. Sein Englisch war fehlerlos. Er war ein attraktiver Mann, aber auf eine intensive, grüblerische Art, die sie glauben ließ, er müsste wohl ein unangenehmer Zeitgenosse sein. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, seine Sachen sahen aus, als stammten sie von einem der besten Schneider Londons. Und er kam ihr überhaupt nicht bekannt vor.

»Ich bin Miss Chegwidden«, bestätigte sie.

»Wie schön, Euch wiederzusehen.« Er verbeugte sich mit der makellosen Eleganz eines geborenen Gentleman.

Also war sie ihm schon einmal begegnet. Aber wo? »Ich fürchte, ich erinnere mich nicht …«

»Ihr erinnert Euch nicht an mich. Natürlich, warum solltet Ihr auch?« Er lächelte sie an, als erwartete er nichts anderes. »Ich bin Raul Lawrence, der Sohn von Viscount Grimsborough. Wir sind uns einmal kurz bei einer Veranstaltung in St. Ashley begegnet. Ihr wart damals noch sehr jung, aber irgendwie ergab sich die Gelegenheit zu einem Besuch, und Ihr wart mit einer meiner Schwestern bekannt. Ich glaube, Ihr kanntet sie aus der Schule.«

»Natürlich.« Sie konnte sich immer noch nicht an ihn oder seine Schwester erinnern. Aber sie war auf jeden Fall oft genug in St. Ashley gewesen, sei es zu Weihnachten oder am Maifeiertag. Und in ihrem Internat war sie vielen adeligen Frauen begegnet, die sie nur flüchtig wahrnahmen. Manche waren auch nett zur Tochter des Rektors. Andere nicht so sehr. Offensichtlich gehörte seine Schwester zu den freundlichen Mädchen, weshalb Emma jetzt vorgab, sich zu erinnern. »Wie schön, Euch wiederzusehen. Seid Ihr in Moricadia zu Besuch?«

»Ich lebe hier.«

»Hier?« Sie schaute sich in dem Versammlungsraum um. Ihr Blick ruhte auf Fürst Sandre und Lady Fanchere, und wieder einmal fragte sie sich, was zwischen den beiden vorging, dass Lady Fanchere so ernst wirkte und Fürst Sandre eindringlich auf sie einredete.

»Nicht hier. Aber in Moricadia. Mir gehört eine Villa nicht weit von Aguas de Dioses. Es ist ein bisschen wie eine Rattenfalle, fürchte ich, denn das Anwesen liegt mitten im Wald, und es gibt weit und breit keine anderen Häuser. Aber mir gefällt es so.« Er wies einladend auf die Promenade. »Wollen wir ein Stück gehen?«

Sie kannte ihn eigentlich gar nicht. Doch sie waren an einem öffentlichen Ort, und er war ein Engländer. Es war also durchaus anständig, und nur weil sie ein nagendes Unwohlsein verspürte, hieß das nicht, dass sie seine Einladung nicht annehmen sollte. Sie stand auf und gesellte sich zu ihm und den anderen Mitgliedern der moricadischen Gesellschaft, die durch das große Atrium schlenderten, miteinander redeten und ihr widerliches Wasser tranken. »Warum habt Ihr Euch in diesem Land niedergelassen?«

Mr Lawrence verscheuchte mit einer Handbewegung einen Diener, der ihnen ein Tablett mit Bechern hinhielt. »Ich bin eigentlich im Exil hier. Mein Vater ist ein kleiner Tyrann, und ich scheue es, mich von ihm an die Kandare legen zu lassen. Außerdem hat er es geschafft, dass ich auf Jahre in der Gesellschaft in Ungnade gefallen bin. Ich bin also nicht gerade besonders wohlgelitten im bon ton

Er klang wie ein Außenseiter. Das hatten sie gemeinsam. Sie und der Schnitter. »Warum ist das so, Mr Lawrence?«

»Ich bin ein Bastard«, erklärte er rundheraus.

Jetzt konnte er sich wieder ihrer vollen Aufmerksamkeit gewiss sein.

»Das tut mir leid, ich habe Euch wohl sprachlos gemacht«, sagte er. »Aber es stimmt. Daher lebe ich hier in dieser Gesellschaft, die Glücksspielern und Verdammten aufgeschlossen gegenübersteht.«

»Seid Ihr das denn?«, fragte sie ernst.

»Ja. Ich bin tatsächlich ein kleiner Rebell.«

Als diese Worte zu ihr durchdrangen, wandte sie sich ihm überrascht zu und blickte ihn an. Rebell? Hatte er sich gerade als Rebell bezeichnet? Meinte er das so, wie sie dachte?

Er lächelte und neigte den Kopf. »Ja, ich denke, Ihr und ich, wir sind beide Rebellen.«

Sie blieb abrupt stehen.

Er legte die Hand auf ihren Arm und zog sie behutsam mit sich. »Geht weiter, Miss Chegwidden. Tut so, als würdet Ihr Euch angenehm unterhalten und gebt Euch etwas interessiert.«

Sie schritt an seiner Seite weiter und dachte fieberhaft nach. Sie versuchte verzweifelt, alle Puzzleteile zusammenzufügen. War Mr Lawrence ein Freund des Schnitters?

Aber nein. Er war auf grausame Weise attraktiv, und sein Charme war eher düster. Er strahlte eine so skrupellose Sinnlichkeit aus, dass es sie nervös machte, neben ihm herzugehen. Er war jedenfalls kein guter Mann.

War er dann ein Spion der de Guignards? Hatte jemand den Schnitter letzte Nacht aus ihrem Zimmer schlüpfen sehen und hatte sie gemeldet? Suchte dieser Mr Lawrence also nach Informationen, die nur sie ihm geben konnte?

Aber nein. Denn immer noch lächelnd und charmant bemerkte er: »Letzte Nacht habt Ihr eine Beule in Eurer Matratze gehabt, wenn ich recht informiert bin.«

»Woher wisst Ihr das?«, fragte sie leise und aufgebracht.

»Vielleicht bin ich ja der Schnitter.«

»Nein, das seid Ihr nicht.« Sie wusste selbst nicht, warum sie sich da so sicher sein konnte. Aber sie war es.

Raul Lawrence lachte tief und grollend. »Dann bin ich vielleicht ein Freund von ihm. Denn nur er selbst oder ein Freund kann wissen, wo genau Ihr ihn versteckt haben.«

»Das stimmt.« Hatte sie also seinen Charakter falsch eingeschätzt? Erneut dachte sie intensiv nach, denn sie musste das alles richtig verstehen. Das Leben eines Mannes – und ihr eigenes Leben – hingen davon ab. »Oder Ihr arbeitet vielleicht für Fürst Sandre und habt ihn längst gefangen genommen und gefoltert, damit er Euch diese Information preisgibt.«

»Glaubt mir, wenn Fürst Sandre den Schnitter gefasst hätte, wärt Ihr schon längst in den königlichen Kerker gewandert«, sagte Mr Lawrence tonlos.

Sie wusste bereits genug über die de Guignards, um zu wissen, dass das stimmte. Erneut schaute sie zu Fürst Sandre und Lady Fanchere hinüber. Ihr Gespräch schien sich dem Ende zu zu neigen. Bestimmt würde es Fürst Sandre nicht entgehen, dass sie mit einem Mann spazieren ging. Das würde ihm nicht gefallen, denn während er Lady Fancheres Ausführungen lauschte, beobachtete er sie mit gerunzelter Stirn.

»Könnt Ihr dem Schnitter eine Nachricht überbringen?« Sie sprach leise und drängend.

»Geht weiter, Miss Chegwidden.«

Sie zwang ihre Füße, sich vorwärtszubewegen.

»Lächelt, als ob wir alte Freunde sind, die in unbedeutenden Erinnerungen schwelgen.«

Sie setzte ein Lächeln auf.

»Und zu Eurer Frage … ja, das kann ich.«

»Fürst Sandre hat einen Plan ersonnen, um ihn bei seinem nächsten Ritt in die Falle zu locken.« Rasch erläuterte sie ihm diesen Plan.

»Vielen Dank, Miss Chegwidden. Ihr seid überaus hilfreich. Ich verspreche Euch, diese Nachricht wird ihm zu Ohren kommen. Und jetzt«, er hob die Stimme und fügte hinzu: »Mrs Andersen behauptete, sie würde lieber für einen großen Fauxpas gestraft als für einen kleinen.« Er lachte laut.

Ihre Stimme zitterte, als sie in sein Gelächter einstimmte. Aber sie schaffte es, und es überraschte sie nicht, dass Fürst Sandre im nächsten Moment direkt hinter ihr sprach.

»Was für eine angenehme Überraschung, dass Ihr beide Euch kennt.«

»Euer Hoheit.« Mr Lawrence drehte sich gespielt überrascht um. »Wir kennen uns tatsächlich von früher. Eines der Anwesen meines Vaters grenzt an die Gemeinde, in der Miss Chegwiddens Vater als Pfarrer tätig war.«

Fürst Sandre lächelte kalt. »Dann seid Ihr alte Freunde.«

»Man könnte eher sagen, wir sind entfernt miteinander bekannt. Miss Chegwidden ist eine zu anständige Lady für mich.«

Dieser Gedanke schien Fürst Sandre zu gefallen. »Das ist sie, nicht wahr?«

»Aber es tut gut, in diesem fremden Land eine englische Stimme zu hören.« Mr Lawrence verbeugte sich. »Da ich so nahe wohne, suche ich Aguas de Dioses regelmäßig auf. Es würde mich sehr freuen, Euch beizeiten wiederzusehen, Miss Chegwidden.«

»Das würde mich auch freuen, Mr Lawrence.« Sie lächelte und neigte den Kopf. Sie spielte die einsame Exilantin, als sei sie für diese Rolle geboren worden.

»Habt Ihr Heimweh?« Nachdem Mr Lawrence verschwunden war, trat Fürst Sandre an ihre Seite, und sie spazierten gemeinsam über die Promenade, als seien sie zwei ganz normale Mitglieder der Gesellschaft.

Doch wenn Emma sich umschaute, sah sie, dass die Leute sie anstarrten. Lady Fanchere war zu dem Stuhl zurückgekehrt, den sie vorhin verlassen hatte, und schaute mit einem Lächeln zu ihnen herüber. Die besten Kreise Moricadias beobachteten sie und redeten über den Fürsten und Lady Fancheres ausländische Gesellschafterin. Emma war die Vorstellung verhasst, welche Gerüchte vermutlich schon jetzt in dieser Wandelhalle kursierten – und darüber hinaus. »Ich vermisse England sehr«, gab sie zu. »Aber Moricadia ist ein Land von unvergleichlicher Schönheit, und ich genieße meinen Aufenthalt hier.«

»Ihr diplomatisches Geschick ist beispiellos.« Er schaute nach vorne und lächelte, als habe sie soeben eine Prüfung bestanden. Noch immer überaus gut gelaunt fügte er hinzu: »Ich habe gestern Nacht vergessen, Euch zu fragen, ob Ihr Eure Fahrt in die Unterstadt genossen habt.«

»Meine Fahrt in die Unterstadt?« Emma blieb stehen und wandte sich ihm zu. Sie sah ihn verblüfft an.

Die Leute strömten um sie herum, als ob sie Kiesel in einem Flussbett wären.

»Es war sehr lieb von Euch, den Arm dieses Mädchens zu richten. Wie war noch gleich sein Name? Elixabete. Es ist traurig, dass sie ihren Vater unter so tragischen Umständen verloren hat.«

Emma war entsetzt. Er demonstrierte ihr gerade eindrucksvoll, wie viel er über sie wusste, und sie fürchtete, er wusste auch, was Damacia über ihn gesagt hatte. Ihre größte Angst war, dass er die arme Frau dafür bestrafen würde.

Doch er lachte nur liebenswürdig. »Kommt, Miss Chegwidden. Ich bin schließlich der Fürst, und es ist natürlich meine Aufgabe, alles zu wissen, das in meinem eigenen Land vor sich geht.«

Nein. Eigentlich solltet Ihr das nicht wissen.

Wer von den Leuten im Innenhof des Mietshauses war der Spion? Welche der Frauen am Brunnen hatte ihre Seele verkauft, um ihre Kinder satt zu bekommen?

Emma schaute sich in alle Richtungen um. Zum ersten Mal fühlte sie sich an diesem Ort unwohl.

Wer in dieser Wandelhalle gehörte zu seinen Spionen? Wer beobachtete, lauschte und berichtete jede ungewöhnliche Aktivität an den Fürsten und seine Häscher? Die Vorstellung führte zu einem Jucken in ihrem Nacken. »Euer Hoheit, ich habe nicht geahnt, dass Ihr Euch mit etwas so Unwichtigem belastet. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet …« Sie wusste selbst, wie schroff sie klang. Aber er kannte sie nicht. Vielleicht glaubte er ja, dass sie immer so taktlos war.

Sie entfernte sich von Fürst Sandre, schwamm gegen den Strom der Flaneure. Sie stolperte an Ladys vorbei, die von ihren Zofen begleitet wurden, und an Gentlemen, die so überrascht waren, dass sie ihr Monokel sinken ließen.

Sie brauchte niemanden für dieses Vexierspiel mit dem Fürsten verantwortlich machen außer sich selbst. Sie hatte beschlossen, den Schnitter zu retten. Sie hatte aufrecht im Bett gesessen und ganz genau gewusst, dass sie sich dem Fürsten verführerisch präsentierte, und sie hatte so das Interesse des mächtigsten Mannes von Moricadia geweckt.

Jetzt musste sie den Preis dafür bezahlen. Und das würde sie gerne tun, denn jetzt war Fürst Sandre geneigt, ihr zu vertrauen – nein, er prahlte sogar vor ihr –, und daher konnte sie das Zünglein an der Waage sein, um den Schnitter vor der Rache des Fürsten zu retten.

Fürst Sandre geleitete Emma wieder zu Lady Fanchere. »Ihr nehmt das zu ernst. Wenn ich nicht weiß, was meine Leute sagen und denken, hieße das, sie zu missachten.«

»Ich gehöre nicht zu Euren Leuten«, wandte Emma ein.

»Ich würde diesen Zustand gerne ändern«, antwortete er.

Oh Gott. Sie war nicht bereit, in diesem Tempo weiterzumachen.

Er nahm ihre Hand. »Habe ich Euch jetzt verschreckt?«

»Nein! Überhaupt nicht. Aber Ihr seid ein Fürst, und ich bin nur eine Dienerin.«

Er zog sie etwas zu sich heran. »Ich bin ein Mann, und Ihr seid eine Frau.«

Eine Frau, die solche Aufmerksamkeiten überhaupt nicht gewohnt war. Trotzdem klang es für sie so, als sagte er eine Zeile aus einem Theaterstück auf, das er schon viele Male aufgeführt hatte.

Sie machte sich von ihm los. »Euer Hoheit, es ist nicht angemessen, so mit mir zu reden.« Sie spürte Fürst Sandres aufmerksamen Blick auf sich ruhen und wandte sich an Lady Fanchere. »Mylady, Ihr habt vorhin den Wunsch geäußert, draußen spazieren zu gehen. Wir sollten jetzt Lady de Guignard suchen und zu unserem Spaziergang aufbrechen, damit Ihr beide den Mittagsimbiss genießen könnt und Euch nachmittags ausruhen könnt.«

Lady Fanchere lächelte, als gefiele ihr Emmas sorgfältige Planung. »Ihr seid wie immer die perfekte Gesellschafterin, Emma.«

»Vielleicht sollte ich euch bei dem Spaziergang begleiten«, schlug Fürst Sandre vor.

Aber Lady Fanchere blieb eisern. »Morgen darfst du dich uns gerne anschließen, Sandre. Aber heute ist unser erster Tag hier, und die Zeit ist für uns Frauen reserviert.«

Fürst Sandres Augen blitzten ungeduldig auf, aber er klang recht höflich, als er erklärte: »Dann genießt euren ersten Tag, und ich freue mich schon jetzt auf morgen.«