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Dodd.eps

Am späten Samstagnachmittag kam Fürst Sandre in Jean-Pierres Gemächer. Er hielt einen Bogen Papier in der Hand, der mit einem roten Siegel versehen war. Seine Miene wirkte finster.

Jean-Pierre richtete sich auf. Er hatte soeben konzentriert eine Karte von Moricadia betrachtet und verneigte sich eilig. »Wie kann ich Euch helfen, Euer Hoheit?«, fragte er.

»Ich habe hier einen Brief von unserer Cousine Eleonore. Sie schreibt, sie habe Gerüchte gehört, dass der Schnitter heute Nacht den Leuten von Moricadia erscheinen werde und eine Rebellion anzettelt, um meine Herrschaft zu zerschmettern.«

»Aber Hoheit, solche Gerüchte haben wir schon früher gehört.« Jean-Pierre hatte die Gerüchte ignoriert und sich stattdessen lieber der Aufgabe gewidmet, alle Ecken und Winkel Moricadias auf der Suche nach dem Versteck des Schnitters zu durchkämmen.

»Eleonore klingt sehr beharrlich und scheint äußerst besorgt um meine Sicherheit zu sein. Sie ist keine Frau, die ohne Grund Alarm schlägt.«

»Soll ich jemanden schicken, der sie herholt, damit wir sie befragen können?«

Sandre klopfte mit dem Brief gegen seine Fingerspitzen. »Nein. Eleonore ist die Einzige, die … Nein, ich kann sie unmöglich befragen, als wäre sie eine Verbrecherin.«

Jean-Pierre verstand durchaus, warum Sandre zögerte. Er hatte Aimée getötet, und Eleonore wusste das. Er fürchtete, dass er nun schließlich auch Eleonores Liebe verloren hatte. Dieser Brief jedoch war ein Zeichen, dass sie immer noch an das Gute in Sandre glaubte, der von vielen anderen schlechter gemacht wurde, als er war. Tief in seiner korrupter Seele brauchte Sandre sie, um weiterzumachen. Solange sie in aller Unschuld an ihn glaubte, war alles gut.

Jean-Pierre hingegen hielt sie für eine Närrin.

»Soll ich sie besuchen und in ihrem Heim befragen?«, schlug er vor.

»Nein! Fanchere würde mir das sehr verübeln.«

»Warum sollte dich das kümmern?«

»Er ist ein stiller Mann, doch er verfügt über große Macht. Ich möchte ihn lieber nicht verärgern.«

Jean-Pierres behänder Verstand hatte auch Fanchere als einen möglichen Schnitter ausgemacht, und er zog ihn auch jetzt wieder in Betracht. Fanchere sprach so selten, dass er bestimmt still genug war, um diese Rolle auszufüllen. »Wie lauten nun Eure Befehle, Hoheit?«

»Nimm deine Leute und reite die Straßen ab. Schau, ob du den Schnitter finden kannst. Schau, ob an diesem Gerücht etwas Wahres dran ist.«

Jean-Pierre wollte seinen Fürsten darauf hinweisen, wie viel nützlicher er sein konnte, wenn er das verdächtige Verhalten der Reichen beobachtete. Aber Sandre band ihm weiterhin die Hände, weil er verhindern wollte, dass die zahlungskräftigen Zocker und Vergnügungssüchtigen das Land verließen. Jean-Pierre hatte seine Stellung als rechte Hand von Fürst Sandre noch nicht so weit gefestigt, um sich gegen ihn zu stellen. Es fehlte ihm noch an Einfluss und Geld, denn beides konnte er nur dann erlangen, wenn Sandre ihm vertraute. Und damit der Fürst ihm endlich vertraute, musste er herausfinden, wer den Schnitter versteckte. Das musste ihm bald gelingen – nachdem er heute Nacht die Straßen abgesucht hatte. Er verneigte sich. »Wie Ihr befehlt, mein Prinz.«

Als Michael auf Old Nelson Richtung Palast ritt, lächelte er unter der schwarzen Maske, die die obere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Es war Samstagabend, der volle Mond segelte an einem wolkenlosen Himmel dahin und beleuchtete die Straße, als wollte er sie segnen. Er hörte das Geräusch vieler Hufe, die auf ihn zugaloppierten.

Die Palastwache war wieder in Bewegung.

Und damit trat Eleonores Plan in Kraft.

Michael durfte jetzt unter keinen Umständen schwächeln.

Hinter der nächsten Kurve kam ein Dutzend Pferde auf ihn zu. Die Reiter umringen ihn, und Jean-Pierre de Guignard zielte mit der Pistole direkt auf Michaels Herz. Seine Stimme klang kühl, die Hand war ganz ruhig. »Zeig dich uns oder du wirst sterben.«

Michael schob die Maske in die Stirn, dann hielt er die Hände hoch, als wollte er sich ergeben. »Was ist denn los, de Guignard? Ist es jetzt schon ein Verbrechen, an einer Gesellschaft in Moricadia teilzunehmen?«

»Einer Gesellschaft?« Jean-Pierre musterte ihn von oben bis unten. »Was soll das denn für eine Gesellschaft sein, an der Ihr so gekleidet teilnehmt?«

Michael schaute auf seine Verkleidung. Er trug eine schwarze Reithose, schwarze Reitstiefel und ein weites, weißes Hemd, das am Hals offen stand. Außerdem hatte er sich eine schwarze Krawatte umgebunden und trug einen schwarzen, knielangen Mantel. Er schaute Old Nelson an, dem er Schleifen ins Mähnenhaar geflochten hatte. Seine Satteldecke hatte sogar weiße Rüschen. »Was soll denn damit nicht stimmen? Ich fand mein Kostüm eigentlich schnittig, und das meines Pferds auch.«

Jean-Pierre glaubte ihm offensichtlich kein Wort. »Schnittig, das kann durchaus sein.«

»Ich dachte eigentlich, Ihr seid Sandres erster Mann, nachdem Rickie tot ist?«

Diese spitze Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Wie ein Widerhaken grub sie sich unter Jean-Pierres Haut und ließ seine Augen vor unterdrückter Wut weiß glühen. »Das bin ich auch.«

»Wie kommt es dann, dass Ihr nichts über diese Gesellschaft wisst? Alle wurden eingeladen.«

Jean-Pierre schwieg lange. »Offensichtlich nicht alle.«

Michaels Stichelei machte die Wachsoldaten nervös. Ihre Pferde spürten die Unruhe und tänzelten am Zügel. Die Reiter versuchten vergeblich, ihre Pferde zu beruhigen.

Die berittenen Wachleute – tatsächlich jeder, der im Palast diente – fürchteten Jean-Pierre. Sie fürchteten und hassten ihn.

Auf dieser Tatsache ruhte der Erfolg von Eleonores verwegenem Plan.

»Ich bin sicher, Eure Einladung ging nur verloren. Ihr wisst doch, wie sorglos Diener sein können. Oder es ist einfach ein Versehen.« Michael ließ seine Arme sinken.

Jean-Pierre winkte mit seiner Pistole.

Hastig hob Michael die Hände wieder. »Ihr könnt Euch selbst einladen. Es ist eine Maskerade. Niemand wird bemerken, wenn Ihr Euch ohne Einladung unters Volk mischt.« Er sprach beruhigend, obwohl er sich zugleich bewusst war, dass er Jean-Pierre reizte, wie ein dummer Junge, der einen bissigen Hund reizte.

Jean-Pierre musste so wütend gemacht werden, dass er ohne einen zweiten Gedanken zu verschwenden die Initiative ergriff.

Damit Michaels Teil des Plans klappte, brauchte er Zeit.

Gleichzeitig musste er sich den Anschein geben, als spiele Zeit für ihn keine Rolle.

»Wo findet diese Party statt?«, fragte Jean-Pierre.

Michael ließ die Hände nach unter hängen, so schlaff wie tote Fische. »Meine Arme werden langsam müde. Darf ich sie bitte runternehmen? Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich Euch entkommen könnte. Ihr habt schließlich ein Dutzend Feuerwaffen auf meine Brust gerichtet.«

Jean-Pierre schaute seine Männer an, dann Michael. Er nickte knapp. Seine Pistole ließ er aber nicht sinken.

Michael ließ die Arme mit einem Stöhnen sinken. Er rieb die Oberarme, als schmerzten sie.

»Wo findet diese Gesellschaft nun statt?«, wiederholte Jean-Pierre.

»Möchtet Ihr vielleicht, dass ich Euch meine Einladung zeige?« Michael legte die Hand auf seine Satteltasche.

Jean-Pierre überlegte nicht lange. »Ja, zeigt mir die Einladung.«

Michael zog die Lederklappe nach oben. Die Klappe traf Old Nelson an der Kruppe, und wie aufs Stichwort tanzte der Wallach auf dem Pfad seitwärts.

Jean-Pierre schnappte: »Bringt Euer Pferd unter Kontrolle.«

»Das tue ich ja!« Michael machte sich einen Spaß daraus, die Zügel straff zu ziehen, im Sattel zu schwanken und sich wieder aufzurichten. Er tätschelte Old Nelsons Hals, bis der wieder ruhig war. »Er ist in die Jahre gekommen und übellaunig, und ich bin nicht mehr der Reiter, der ich vor zwei Jahren war … vor meiner Einkerkerung.«

»Mich interessiert weder Eure Unfähigkeit, im Sattel zu bleiben, noch Euer alter Gaul«, blaffte Jean-Pierre. »Ich will diese Einladung sehen!«

»Ich versuche ja, sie Euch zu zeigen!« Michael zog einen Wollschal aus der Tasche.

»Wofür ist der denn?«, wollte Jean-Pierre wissen.

»Ein Geschenk für meine Gastgeberin.« Michael sprach ganz langsam und vorsichtig, als halte er Jean-Pierre für einen Deppen in Sachen Anstand und Benimm.

Einer von Jean-Pierres Männern sprach leise und drängend auf ihn ein. »Mylord.«

Michael zog einen Lederholster und eine Pistole aus der Tasche.

»Ist das auch ein Geschenk für Euren Gastgeber?«, fragte Jean-Pierre.

»Nicht jeder, den ich auf der dunklen Straße treffe, ist so freundlich und charmant wie Ihr, de Guignard.« Jetzt ließ Michael sich vom Sarkasmus hinreißen. »Manche sind sogar Diebe und Räuber, und natürlich gibt es noch die Legende vom Schnitter, der die Angewohnheit hat, gute Männer aufzuhängen.«

»Mylord«, drängte Jean-Pierres Mann erneut.

»Halt die Klappe, Quico«, blaffte Jean-Pierre den Mann an. Zu Michael gewandt fragte er: »Dann glaubt Ihr nicht, dass der Schnitter ein Ghul ist?«

»Natürlich nicht. Ich bin kein Kind und kein Narr, um zu glauben, dass der Geist eines längst verstorbenen Königs über die Straßen Moricadias reitet.« Michaels schwarzer Lederhut hatte eine breite Krempe und beschattete das Gesicht, weshalb selbst bei Vollmond sein Gesichtsausdruck dem Gegenüber verborgen blieb. »Der Schnitter ist auf jeden Fall ein Mann aus Fleisch und Blut.«

»Ihr glaubt also nicht, Miss Emma Chegwidden könne der Schnitter sein?«

Michael erwiderte den Blick von Jean-Pierre standhaft. »Wie soll eine Frau mit dem Körperbau von Emma Chegwidden denn einen Mann von der Größe Rickie de Guignards aufhängen?«

»Doch sie ist im Kostüm des Schnitters geritten. Und wir werden sie morgen für dieses Verbrechen aufhängen.«

»Davon habe ich gehört.«

»Ihr kennt diese Engländerin. Sie schien Euch zu mögen. Wollt Ihr sie nicht retten?«

»Natürlich will ich das. Aber glaubt Ihr wirklich, ich würde noch einmal in diesen Kerker hinabsteigen, um sie zu befreien?«

»Mylord!« Quico klang inzwischen ehrlich verzweifelt.

»Was ist denn?« Jean-Pierre fuhr wütend zu Quico herum.

Stumm wies Quico zum Ende der Straße.

Auf einem großen weißen Pferd in vollem Galopp ritt auf der Straße … der Schnitter.

Mit einem Schrei stürzten Jean-Pierre und seine Männer auf den Pferden hinter der geisterhaften, furchteinflößenden Gestalt her.

Michael blickte ihnen so lange nach, bis er sicher war, dass Jean-Pierre aus dem Sattel gesprungen war und den Schnitter eigenhändig vom Pferderücken zog.

Dann stopfte er die Pistole zusammen mit Emmas Schultertuch zurück in seine Satteltasche und ritt schnell wie der Blitz Richtung Palast.