Worte ohne Lieder
... Du hättest zu tun mit der Eisenbahn,
und nicht zu tun mit der See.
Bert Brecht
Wie wenig wissen doch Liebende. Da meint einer, der tief abends im Winter auf den verspäteten Zug angestrengt wartet; der an der Sperre beobachtet, ob das Licht über der fernen Einfahrt sich entzündet, von dem er nicht einmal weiß, ob es das rechte ist; der stets wieder den Beamten nach der Größe der Verspätung fragt, der ihm unfreundlich antwortet, er habe es bereits gesagt, fünfundzwanzig Minuten – da meint einer, diese sei es nun ganz und gar und wirklich, die als letzte fast das Abteil verläßt; die schlank im Pelzmantel auf die Sperre zukommt, an der noch dampfenden Lokomotive vorbei, den kleinen schwarzen Hutkoffer in der Hand, gefolgt vom grünen Gepäckträger mit dem größeren Lederkoffer: diese sei es nun selber. Sobald sie Arm in Arm die Bahnhofshalle verlassen und redend den Platz überqueren, hat er, umschlossen von ihrer Gegenwart, bereits wieder vergessen, daß es bloß die Ankunft war, auf die er wartete. Im Bilde der Ankunft aber war sie nur die leichte Staffage, den wartenden Blick ins Dunkel zu geleiten. Dort lag die Eisenbahn als Spielzeug, Modell jeder künftigen, und kleine flachgepreßte Figürchen bevölkerten den rosa Blechbahnhof, die Dame im Mantel samt dem Gepäckträger. Damals waren allein die Kofferstücke rund und zum Greifen; die Leute aber, von vorn gesehen, bildeten bloß eine zackige Kante. Seitdem hat er nichts anderes sich gewünscht, als einmal wieder Figuren so zu halten und hin und her zu schieben, wie die Passagiere es waren, die umfielen, wenn die Lokomotive gegen den Bahnhof fuhr, falls der zu dicht an die Schienen gerückt war; aber jetzt welche, so plastisch und beredt wie damals allein die Koffer, die sie nun gleichsam ergänzen. Die Ankommende liebte er als eine vollständige Figur, die ihm damals fehlte und die jetzt kein langes Leben retten könnte, sondern einzig der jähe Augenblick ihres Erscheinens. Längst ist es in der Nacht vergessen. Jedoch wenn beide am nächsten Tag, gegen Mittag schon, das Hotel verlassen, dann erkennt er: die kleine rotweiße Fahne, die über dem Hotel flattert, ist die gleiche, die er damals mit der hohlen Fahnenstange aus Blech über dem allerersten Bahnhof aufpflanzte.
Es ist erstaunlich und kaum wohl von Psychologen offen ausgesprochen worden: wie selten unsere Gefühle, zumindest die offiziellen unter ihnen, Konsequenzen haben. Sie bleiben, auch wenn sie echt sind, bei sich selber und gehen nur verzerrt ins Verhalten der Menschen ein. Kaum daß sie mehr dort ihre Macht oder Ohnmacht erproben dürfen; von Anbeginn bescheiden sie sich im Monolog, und unsere Handlungen werden eben noch von ihren Reflexen gestreift. Der hat seine Geliebte, seine wahrhaft und einzig Geliebte an den Irrsinn verloren; und während er um sie trauert, jeden ihrer Briefe nachliest, Spuren der Krankheit darin zu finden; den Klang ihres Namens festhält und beschwörend wiederholt: hat er eine andere sich genommen; nicht weil er die erste vergessen hätte, auch nicht um sich zu trösten oder in der Gleichgültigkeit der Verzweiflung, sondern darum allein, weil sein befangenes Gefühl den Gang eines Lebens nicht mehr zu erreichen vermag, das nach dem Rhythmus von Gelegenheit und Zugriff unerbittlich abläuft. Wenn dann später sich herausstellt, daß die erste nicht irrsinnig war, sondern bloß taktvoll den Geliebten verlassen wollte, so rechtfertigt ihn höhnisch das gleiche Leben, das ihn zur Untreue verführte. – Oder die Frau, die einen liebt und mit ihm von sich selber redet; die weint, sobald er sie angreift, und unter seinen Worten gänzlich sich zu verändern meint, indem sie sich zu erkennen beginnt: am nächsten Tage wird sie vor ihren Eltern leugnen, daß sie ihn kennt, obwohl die Mutter kein Recht hätte, ihr Vorhaltungen zu machen, und die Veränderung ihres Lebens, mag sie selbst als eine der Gesinnung vollständig sein, wird nicht hinreichen, sie zu bewegen, morgen dort den Tee mit ihm zu nehmen, wo sie gesehen werden könnte. Darüber jedoch wird ihm alles wirkliche und vergebens erwartete Zeichen ihrer Zugehörigkeit so wichtig, daß er sie zu lieben vergißt. Die Übermacht der gesellschaftlichen Mächte über unsere Existenz kommt mehr als an den Konflikten daran zutage, daß sie die Konflikte überhaupt nicht mehr zulassen, sondern ersticken; daß der einzelne sie verschluckt. Es sind schon die besten und glücklichsten Beziehungen, die es überhaupt zu Konflikten bringen. Darum: weil vom einzelnen Menschen aus die Realität kaum mehr ergriffen, nie mehr verändert werden kann, haben heute Gefühle allemal etwas Tröstliches; bei ihnen hält man sich schadlos. Aber sie sind trügerisch; sobald das leiseste von ihnen in unser Leben eindränge, genügte es, alle sichere Ordnung darin zu zerstören.
Schon der Husten spricht fürs Klassenbewußtsein. Dem Husten von Leuten aus den herrschenden Schichten ist die Wichtigkeit anzuhören, die er wenigstens für die Hustenden besitzt: die pure Krankheit oder den zufälligen Reiz kann er nicht zugestehen, sondern gibt sich allemal so, als handle es sich um die Vorbereitung zu einer Ansprache, die nicht unterlassen werden dürfe, ohne die objektiv notwendige Durchführung der Ansprache zu gefährden. Der Husten von Kleinbürgern kennt nicht die Wichtigkeit der Sache, für die er einsteht; er ist sich selber wichtig, lang und umständlich; wird um der Gesundheit willen gehustet, die zur Ordnung gehört und der das Leben untersteht; prüfend hört er sich zu. Der proletarische Husten klingt gepreßt und aggressiv, immer unreflektiert und ohne daß er eine Bedeutung sich setzte. Er wird nicht für die kommende Rede oder die gegenwärtige Gesundheit gehustet, sondern um die Lunge vom Staub zu reinigen. – So sind noch die animalischen Äußerungen unseres Lebens Zeichen von gesellschaftlichen Differenzen. Man möchte fragen, wo eigentlich das Wesen Mensch erfragbar sein soll, das vielleicht noch in der Geste des Todes eingeschlossen ist von einer geschichtlichen Figur, von der es sich nicht losreißen läßt.
Mutiger als das gewagteste Verbrechen mitten im überfüllten Opernraum; mutiger als die tollkühnste Verfolgung durch den Amateur-Kriminalisten, der sich unmenschlichen Gegnern in die Hand gibt und dem sicheren Martertod ins Auge sieht, getröstet allein von der größeren Sicherheit des guten Endes: mutiger als all dies erschien mir von jeher in Detektivromanen die Art, in der alle Menschen hier ihre Namen tragen. Sie treten mit ihnen, den echten und den falschen, auf, als seien sie ihnen vom Beginn der Zeiten her zum Augenblick ihrer Geburt zugesprochen, und nicht der leiseste Zweifel beirrt sie, wenn sie sich sogleich im vollen Schmuck des Namens präsentieren. Wieviel Mut gehört doch dazu, überhaupt zu heißen. Während die ernsten Romanschriftsteller alles erdenklichen Taktes bedürfen, damit ihre Figuren von der Rüstung des Namens nicht erstickt werden – zu Anfang der Wahlverwandtschaften entschuldigt Goethe sich gleichsam, daß der Held Eduard heißt, obwohl der Name des reichen Barons in den besten Jahren doch unauffällig und diskret bleibt und nicht einmal den Nachnamen herbeizieht –: tragen sie in Detektivromanen stark und frei die Schwere der Namen, wie wenn es von selbst sich verstünde; wie mythische Helden der Vorzeit, deren Ruhm zum Himmel ansteigt und im Echo des Namens von dort auf sie zurückfällt, ohne sie zu zerschmettern. Brentheim und Racoszy, Maxime Kalff und der Wucherer Jaerven, Miß Winterslip und Jennyson – indem sie schlankweg also heißen, ist jeder Name ein Versprechen, denn allein die Größe des Schicksals vermag nachträglich die Gewißheit der Namen zu legitimieren. Der Detektivroman selber aber ist dann nichts anderes als die Geschichte von solchen, die ihren Namen Ehre gemacht haben.
Auch solche Darstellungen, die sich realistisch oder naturalistisch glauben, stecken in Form und Konstruktion voll unaufgelöster Mythologie; während andere, die scheinbar die gesellschaftliche Wirklichkeit artistisch verändern, gerade durch die Technik der Veränderung die mythischen Chiffren auflösen. So ist im Roman seit Balzac trotz aller sozialen Kritik eines fraglos geblieben: daß die Menschen in Beziehung zueinander treten können. Wohl verbiegt die Gesellschaft die Beziehungen, wohl erhebt aus der Unerreichbarkeit der Liebenden unerbittlich am Ende sich Einsamkeit. Aber es ist eine abstrakte und vorgegebene Einsamkeit; eine der Seelen, die von seelischem Trost erleuchtet und gemildert werden kann. Wann aber hätten Romane es sich zum Vorwurf genommen, daß es zu Beziehungen überhaupt nicht kommt; daß die Menschen deshalb sich nicht erkennen, weil sie sich nicht einmal kennenlernen? Jack London etwa hat die Klassendifferenzen als Grenzen der menschlichen Beziehungen dargestellt. Aber im Raume einer homogenen Klasse, der proletarischen, nimmt er Beziehungen an. Die Unmittelbarkeit, die er hier vermutet, ist romantisch. Die Verhältnisse lassen den Menschen weder die Freiheit des Wählens noch einen zureichenden freien Lebensraum, in dem sie kommunizieren könnten; sie ›haben wenig Verkehr‹. Die Qual der kleinbürgerlichen Neugier, des Vereinswesens, des ›Ausgehens‹ am Sonntag sind isoliert beschrieben worden, noch nicht aber gänzlich als Produkte der Klassenherrschaft durchschaut. Die politische Organisation ist die einzige tragfähige zwischenmenschliche Beziehung, die hier übrigbleibt. – Romane aber, die sich ernstlich um solche reale Einsamkeit mühen, wie Kafka oder Greens Adrienne Mesurat, fallen sogleich aus dem Realismus des sozialen Romans heraus; weil sie nicht die Oberflächengestalt der gegenwärtigen Gesellschaft respektieren, in der sie sich selber gibt, sondern eben den Abgrund der Absurdität aufreißen, den sie verdeckt und überspielt: den Abgrund des Wahnsinns, in den die Einsamen einstürzen. Es wäre ernstlich zu fragen, ob realistische Romane überhaupt noch realistisch sind: ob nicht die getreue Abbildung des Erscheinenden ungewollt all das mit übernimmt, was am Erscheinenden Schein ist, und vergißt, was es verhüllt; während erst eine Durchbrechung des geschlossenen Erscheinungszusammenhanges – die auch den Kausalmechanismus nicht umstandslos anerkennt, den er darbietet – die eigentliche, verhüllte Realität erreichen und enthüllen könnte, indem in der frisch zusammengesetzten Figur der Erscheinungszusammenhang plötzlich als Widersinn kenntlich wird. Dies Verfahren rechtfertigt sich freilich erst, indem es sich der gesellschaftlichen Theorie einfügt.
Es ist die eigentümliche Faszination bemerkt worden, die die Phänomene des Snobismus auf den ausüben, der sie beschreibt; derart, daß er dem Snobismus selber verfällt. Bei Sternheim wußte jeder Skribent davon zu erzählen; bei Proust bedarf es nicht einmal der Kenntnis der Briefe, den Snobismus einer Gesinnung aufzuspüren, die zugleich die unerbittlichste Analyse des Snobismus leistet, die je unternommen ward. Andererseits ist gerade im Snob-Milieu, das Proust darstellt, Snobismus eines der ärgsten und entehrendsten Schimpfwörter; bezeichnet den Eindringling, der sich mit einer Sphäre identifiziert, in die er nicht hineingehört. Ebenso steht das Wort in Hofmannsthals »Schwierigem«. Es wechselt überhaupt sein Profil so vollständig nach dem gesellschaftlichen Standort, von dem aus es gesprochen wird, wie manche alpine Gipfel nach dem Tal, aus welchem man sie visiert. Von oben ist der Snob der ambitionierte Streber, der die Aristokratie nachahmt, ohne zu ihr zu zählen; von unten erscheint snobistisch jede Haltung gesellschaftlicher Exklusivität – besonders den selbst Ambitionierten. Gemeinsam ist alldem: daß der gesellschaftliche Rang selber unerfragbar, der Diskussion enthoben sein soll; wie Proust in jenem Brief es andeutet, in dem er davon redet, er erblicke noch im Unsinn der menschlichen Stufenleiter Spuren der Gestalt einer wahren Ideenwelt. Der Snob aber ist der, der solcher Unerfragbarkeit sich unterwirft und in ihr erlischt; nach der Definition eines nicht feststellbaren Autors das »Kenotaph seiner selbst«. Die Aura des Unerfragbaren, die ihn verzehrt, ist so stark, daß sie selbst den noch in sich hineinzieht, der ihr von außen naht, um sie zu sprengen. Im Schutzkreise des Snobismus werden alle Gesten ohnmächtig, die nach ihm tasten. Solange nicht die Politik das eine Wort findet, das allen Snobismus verschwinden ließe, gibt es dagegen keine Auskunft als die Feindschaft der nächsten Nähe. Nur dem vermag die Aura sich zu lösen, der bis in die leere Zelle ihres innersten Geheimnisses gedrungen ist. Das mag auch der Grund für die rätselhafte Sympathie zwischen Snobismus und Avantgarde abgeben.
Gegen die Schreibmaschine wird stets noch von Schriftstellern eingewandt: weil sie den Innervationen der Hand nicht gehorche mit ihrer Mechanik, sei sie unfähig, den leibhaften Kontakt zwischen Gedanken und Schrift herzustellen; Schriftsteller, denen es um solchen Kontakt zu tun ist, sollten darum beim Füllfederhalter bleiben. O romantischer und unerfahrener Einwand, der dort noch das Mißtrauen gegen die Technik bewahrt, wo der Gedanke längst der Technik zuhilfe kam. Denn nirgends ist der Kontakt zwischen Gedanken und Wort enger als auf der Schreibmaschine. Freilich nicht zwischen Gedanken und Schrift. Die Hand, die ins Material der Tasten schlägt, kümmert sich nicht um das geschriebene Resultat, das weit dort oben am Horizont der Maschine vorüberschwebt. Sondern sie meißelt aus den Tasten Wortleiber, so deutlich, daß man sie oftmals in den Fingern zu halten meint, unter deren Druck sie sich plastisch aus der Tastenfläche ausformen. Der Prozeß des Schreibens ist auf der Maschine aus einem zweidimensionalen wieder dreidimensional geworden. Die Worte, so viele Jahrhunderte hindurch bloß gelesen, lassen sich wieder abtasten; so bekommen wir sie vielleicht endlich in die Gewalt, nachdem wir allzulange ihrer fremden Herrschaft ausgeliefert waren.
Der Glaube, daß den großen und erhabenen Gegenständen große und erhabene Worte zugeordnet seien, ist unausrottbar. Allemal noch dünkt sich ein Idealist, er sei schwärmender Primaner oder rechtgläubiger Philosoph, edler als ein Materialist; und wenn einer etwa bezweifelt, die Welt, in der wir existieren, sei sinnvoll, so wirft das zunächst nicht auf die Welt, sondern auf ihn ein schlechtes Licht. Die im Besitz der erhabenen Worte sich befinden, werden geneigt sein, denen die Gnade abzusprechen, die sie nicht zu gebrauchen wagen. Aber könnte es sich nicht so verhalten, daß die gemeinten Gehalte längst aus jenen Worten abgewandert sind, weil es ihnen nicht mehr darin gefiel oder weil ihnen offenbar wurde, daß sie in den Worten entstellt und zu falschem Ende eingesetzt sind? Könnten nicht die großen Worte ohnmächtig und verlassen zurückgeblieben sein, während die Gehalte bei den niedrigsten, vergriffensten und unscheinbarsten Schutz gesucht haben, die sie am wenigsten mit Schein verfälschen? Hier ist nun ihr Ort, und so tief sind sie den niedrigen Begriffen eingesenkt, daß sie nicht einmal mehr als deren geheimer ›Sinn‹ herausgehoben und in ihre Ursprungsregion zurückgebracht werden können. Sie bewähren sich allein daran, daß aller Schein vor ihnen zerfällt, während jene niedrigsten Begriffe, die der materiellen Realität, des untersten Trieblebens, der kleinsten konkreten Einsicht standhalten und nicht zerfallen. Nur noch an der Konsistenz der Worte, die sie umschließen, sind die Gehalte meßbar; ihr An sich ist unaussprechlich geworden. Indem sie aber unbenannt sich darstellen, gehen vielleicht ihre Namen unter in einer Wirklichkeit, in der sie selber sich durchsetzen.