Drei Dirigenten
Rettung: Wilhelm Furtwängler
Gesetzt, es begänne der Bestand der Werke zu zerfallen. Es verstummten langsam die redenden; sichtbar würde ihre Intention, die fern erkannte unrealisierbar zugleich. Die Tradition, die den Vortrag je und je regelte, in bestätigter oder zumindest gesicherter Freiheit dem personalen Einsatz des Interpreten Raum ließ, verlöre ihre Gewalt. Der Interpret, befreit von ihr selber, fände sich unvermittelt dem kahlen Werk gegenüber; seine Freiheit würde gebrochen vom Zwang, durch die zerbröckelnden Zwischenschichten des Traditionsgeschiebes hindurch auf das fremde, bereits erkaltende Werk zu stoßen, seinen harten Umriß zu reproduzieren. Mechanische Mittel wären dazu allein angetan; in dem aller naturwüchsigen Gemeinschaft künstlerischer Übung enthobenen Werk könnte die Person des Interpreten sich anders nicht mitteilen als durch die Kraft, mit der sie sich um der Wahrheit willen eliminiert. Das Ende der Möglichkeit von Interpretation zeigte sich an.
Dann wäre es wohl die Zeit, daß ein Interpret, dessen Wesen die schwindenden Werke heiß umschließt und ihr endendes Leben dicht bewahrt; der selber so ganz existente Person ist, daß er für sein Teil nie des Rechtes sich begeben dürfte, beredte Innerlichkeit abzubilden – daß ein Interpret, in dieser Zeit geboren zwar und offen ihrer fordernden Erkenntnis, aber nach Wahlverwandtschaft der anderen zugehörig, die Macht seiner Innerlichkeit daran wendete, die Werke vorm Zerfall zu retten, der der Zerfall ihrer Innerlichkeit ist; mit ihnen zu retten die Interpretation vor der Verwandlung in Photographie; dies alles nach dem Gebot einer Subjektivität, die sich selbst nur behaupten mag, wenn sie ihre objektiven Korrelate behauptet.
So allein ist Wilhelm Furtwänglers Direktionsweise zu verstehen. Sie geht darauf aus, die Werke in ihrer Fülle zu erhalten, eingebettet in den Glanz, den Geschichte ihnen brachte; die Innerlichkeit ihrer expressiven Gehalte durch die Innerlichkeit des Interpreten zu restituieren. Da aber interpretative Tradition in der Tat abstarb, so muß er von sich aus die Leistung vollbringen, die sonst von Tradition eben geleistet ward; ja die bedrohte als Entität zu verteidigen, muß er die Reste real bestehender Tradition, die er als tot erkennt, tilgen erst, mit der Macht der Innerlichkeit neu dann beginnen. Aber zwischen ihm und dem verlassenen An sich der Werke, dem sein Beginn begegnen könnte, waltet mittelnd ein Drittes: die expressive Kundgabe des Dirigenten selbst, der produktiv eintritt, ehe die Not der Reproduktion leibhaft ihn faßt. Geleitet von der Idee der expressiven Fülle, die er als Einzelner nochmals den Werken zumißt, komponiert er selbst die zerfallenden Werke nochmals; die Innerlichkeit, aus der er musiziert, fände Reproduktion als Reproduktion nicht mehr in ihnen. Sein Dirigieren nähert sich der Improvisation: nicht der freien des Virtuosen, sondern einer strengen und sachlichen, deren treibende Phantasie dahin zielt, eine Stufe der Geschichtlichkeit heimzubringen, die den Werken heute verloren ist. Damit erklärt sich – in geschichtlicher Hermeneutik, nicht psychologisch – das rätselhafte Ineinander von sachlicher Treue und improvisatorischer Kühnheit, das alle Aufführungen Furtwänglers primär bezeichnet. Dem Werk, das bewahrt werden soll, gilt die Treue; der Bewahrung des verlorenen die Improvisation. Sie hat ihre Regel am Vergangensein. Wenn Furtwängler ein Brucknersches Alla breve zu nie gewagter Breite dehnt, so darum, weil er das extensive Pathos der Orgelwellen der Entzauberung durch die Zeit entreißen, sein verrinnendes Leben wiederfinden möchte. Dazu aber reichte das originale Tempo nicht aus. In ihm ist das Pathos verblichen. Es aufzugraben, kann Furtwängler nicht umhin, die authentischen Dimensionen des Werkes anzutasten. Er rückt die Breite, die vormals im Gehalt des Werkes verschlossen war, die das Tempo trug und keine Hilfe brauchte vom Tempo, ins Licht überdeutlicher, gleichsam vergrößernder Zeitmaße und zitiert die Gehalte, die die Interpretation nicht mehr lenken. Er weiß, daß die erotische Unendlichkeit des zweiten Tristan-Aktes uns nichts gilt, verwandelt das Stück, auf seinen traumhaft verborgenen Naturgrund zu dringen, in ein Notturno tönender Stimmen, die unterhalb der Sucht aus sich heraus singen. Er dirigiert so, wie Pfitzner komponieren möchte. Was unmittelbar zu realisieren dem Komponisten verwehrt ist, will tröstend dem Vermittler gelingen, der endlich das produktive Vermögen des Autors einholt, wie es je nur der Improvisator besaß. Damit mag tatsächlich das Ende der Reproduktion erreicht sein. Vor der Reinheit, mit der Furtwängler dies Ende musiziert, gibt es keine andere Auskunft als Liebe. Sie macht vergessen, ob Rettung der Werke, abgelöst von Furtwänglers einzelnem Willen, noch geraten mag.
Darstellung: Hermann Scherchen
Scherchen repräsentiert erstmals wohl nach Art und Gesinnung einen neuen Typus des Dirigenten. Sein Dirigieren ist fundiert in Erkenntnis der Aktualität; nicht umsonst kommt er von Schönberg her. Es ist nicht die Aktualität des modisch Versierten, und das Wort Neue Sachlichkeit, das seinen Stil zunächst recht sicher zu fassen scheint, will, Schlagwort, das es nun einmal ist, bei näherer Betrachtung keinesfalls für ihn taugen. Denn es eignet der Neuen Sachlichkeit des Tages eine schlechte Freiheit des Ansatzes, die ihm abgeht. Ihre Heroen sind solche, die meinen, es ließe nach der Zeit der romantischen Umdunstung sich von Beginn wiederum die Kontur der vollen Gegenstände abzeichnen; und da die bestätigte Realität der Gegenstände an sich geschichtslos nicht wieder einzutreten vermag, so findet solche umstandslose Kritik des Subjektivismus sich belohnt einzig durch den Schein der intendierten Realität, die über kunstgewerblich existenzlose Wiederholung eines in Wahrheit Verfallenen sich nicht erheben darf. Der Aktualität Scherchens aber ist es um die Wirklichkeit der Werke wahrhaft zu tun. Deren Organon ist geschichtliche Erkenntnis eben: nicht die zuschauerhafte des Historikers, sondern die leidenschaftlich gegenwärtig im Material geleistete, die den Stand der Wahrheit in Werken ermißt und zu reproduzieren trachtet. Daher rührt der Zwang, dem der Dirigent Scherchen untersteht. Es kann sich für ihn nicht darum handeln, seine Interpretationen vom expressiven Pathos zu reinigen – darüber entscheidet ihm bloß, ob dies Pathos sich bereits von der material-musikalischen Konstitution des Werkes geschieden hat –, nicht etwa weiter darum, unterschiedslos alle Musik auf den Generalnenner leer unterhaltenden Spiels zu bringen und damit das genießende Publikum von der Krisis der Interpretation abzulenken. Vielmehr stellt er, fragend stets bemüht und ohne Furcht vorm Recht des Gedankens, die Werke dar nach dem konkreten Maße dessen, was in ihnen war und nun aus ihnen heraustritt. Es ergeben sich dabei merkwürdige Konflikte. In Mahlers Neunter, die er mit ganz wenigen sich entdeckte, faßt er den ersten Satz, das vielschichtige Andante, nahezu zum Allegro zusammen, die geheime und unbegreiflich aktuelle Konstruktion aufzudecken, die die schwere Macht der endenden Expression uns noch verdeckt. Diese Expression aber hat zugleich auch die absoluten Dimensionen der Konstruktion bestimmt und das authentische Metron fixiert; zu tief noch ist sie dem Bau eingesenkt, zu ähnlich noch ist jener dem Bilde des Organismus, das er ursprünglich entwarf, als daß Ausdruck und Konstruktion sich bereits scheiden ließen. Gleichwohl ist solche Scheidung gefordert: weil der Anspruch romantischer Musik, Ausdruck und Konstruktion unabtrennbar organisch zu verschließen, vor radikaler Erkenntnis zunichte ward, während er in der zeitnahen Musik Mahlers Leben noch hat. So führt Scherchens Direktionsweise ins Zentrum der geschichtsphilosophischen Problematik der Werke, ohne die Werke abstrakter zu attackieren, als notwendig ist, sie der Fäulnis psychologistischer Individualität zu entreißen. Die Idee der konstruktiven Erhellung der Werke leitet ihn, er folgt ihr besonnen und bleibt des Restes von Unerhellbarem, in Konstruktion nicht Aufgehendem gedenk, der in jedem Werke lagert. Er hat die Breite des Bereichs der musikalischen Mittel langsam und beharrlich durchdrungen: radikaler als die üblichen Maschinenmusiker und darum vorsichtiger, als deren Unernst es ist. Sehr zielbewußt hat er sich eine besondere Orchestertechnik aufgebaut, die, dispositiv zentriert, mit wachsender Präzision über die farblichen Werte verfügt. Seine immense und nachhaltige Rezeptionsfähigkeit, garantiert durch untrügliche Sicherheit der akustischen Imagination, hat die Internationale der musikalischen Gegenwart aufgesaugt. Immer wieder läßt er sich von der sinnlicheren Leichtigkeit des Westens affizieren: dort weiß er seine Korrektive. Ohne jemals Renaissancen der Langweile zu inszenieren, sucht er Entlegenes von ehedem; die Beziehung zum Aktuellen lenkt ihn dabei. In der Moderne haftet er am engsten: und dort müßte wohl jeder Dirigent haften, der Vergangenes angemessen bringen will. Seine modernen Programme sind die besten, die existieren; er kennt sich in Kompositionen aus, das geschieht nicht oft. Er ist für Schönberg dagewesen, als alle anderen noch zu feig waren. Er hat Strawinsky in Deutschland bekannt gemacht. Er hat sich für die junge Berliner Generation eingesetzt, als sie noch bei Schreker Unterricht nahm. Unvergeßlich: man hat von ihm erstmals und exemplarisch die Wozzeck-Bruchstücke gehört. Er hat Unruhe und Sicherheit des Beginns in die musikalische Reproduktion geworfen, ihre Gefahr evident gemacht und Wahrheit vertreten. Er tat es legitimiert. Er ist uns selber evident geworden.
Beschwörung: Anton Webern
Es scheint gewagt, von einem Dirigenten zu reden, den man dreimal nur gehört hat. Der Charakter von Weberns Dirigieren indessen sollte das Wagnis hinreichend rechtfertigen. Denn hier stehen nicht ästhetische Leistungen eigentlich nach Rundung und Geschlossenheit zur Diskussion. Die ästhetische Sphäre vielmehr sprengt, seinen obersten Intentionen nach, dies Dirigieren oder deutlicher: eine geschichtlich abgesprengte Realität aus anderer Sphäre verirrt sich gewaltig in die Kunst.
Das erste Mal hörte ich ihn in einem seiner Wiener Arbeiterkonzerte. Der große Konzerthaussaal war halbleer und hallte, das Orchester war mittelmäßig, die Solisten weniger noch. Vorn begann ein Mann zu musizieren. Nicht eigentlich, daß sich ein Kapellmeister der Stimmen bemächtigt hätte. Auf einen Punkt gedrängt, zielte ein schmaler Wille in die Masse und wirkte durch beharrliche Exzitation. Er begann langsam mit der eigenen Wirkung zu steigen. Eine musikalische Demagogie ohnegleichen nahm ihren Anfang; die Leidenschaft, die die Werke faßte, brannte sichtbar über sie hinaus. Ein dichter Sturm schon, wandte sie Musik an die Bedrängung unbekannten Zieles. Auch wer die Gefahr kennt, metaphorisch Gehalte der Religion im Bereiche von Kunst ungebrochen wieder aufzusuchen, kann sich des Gedankens an einen besessenen Laienprediger nicht erwehren, der, wo das Wort starb, zelotisch Musik in den Dienst dessen stellt, was ihm zu sagen ist. Tatsächlich ist es nicht um den Vergleich einer musikalischen Intensität mit einer oratorischen zu tun. Der Sinn jener musikalischen Intensität vielmehr ist, in unvermittelter Evidenz: Musik beredt zu machen. Mag immer selbst der Vorsatz verloren sein: so müssen wohl die verdrängten Rufe der aufrührerischen Inbrunst laut werden, in Kunst selbst erinnernd, bis sie ihre soziale Entsprechung endlich vielleicht doch, und freilich ganz gewandelt, finden. Längst ist die Kirche nicht mehr fähig, die großen Häresien in sich zu empfangen. Das Quere mag verständlich sein, daß ein Häretiker aus dunkler Katholizität Kapellmeister wird, weil die Zeit predigender Mönche vorbei ist, weil das Amt des Geistlichen ihm nicht taugt und weil er zu eng doch an der Kirche haftet, um ins Profane überzugehen. Ihm ist wahrhaft Kunst die letzte Ausflucht und darum mehr als Ausflucht: nicht Kunst mehr allein. Sprengend gibt sich sein unvernommenes Selbst kund. Das Dirigieren des Komponisten Anton Webern ist gewalttätige Innerlichkeit. Er beschwört durch Kunst Gehalte, die der Wirklichkeit entfielen; für Sekunden nimmt sie die unerbittliche Hand in Griff.
Webern ist der unweingartnerischste Dirigent, den ich kenne; der unroutinierteste Könner, der respektloseste Ehrfürchtige. Niemals ist er in banaler Souveränität oberhalb des Orchesters. Immer ist er, verlassen, unter ihm und überredet es mit maßlos zur Höhe gespannten Gebärden. Die drohend fast geballte Faust kennzeichnet ihn am besten. Manchen, die aus der Mahlerschen Tradition kommen, war seine Achte zu rasend. Der Schönberg-Schüler hat das Allegro des ersten Satzes unverstellt gefunden; der Expressionist ließ es die Gestalt einziehen in sich. Das Veni creator spiritus wurde zum eisernen unverrückten unendlichen Marsch, der über allen Widerstand, über alle Brüche des überhitzten Materials, über alles Zuwenig bloßer Musik hinwegschritt bis dorthin, wo Wirklichkeit Musik ablösen müßte. So wurde der Satz komponiert, und wäre er hundertmal anders gedacht gewesen. Beim Accende vergaß man, daß Musik hier überhaupt Musik noch bleibt. Der zweite Teil verlor alle Kontemplation; ward in die Dynamik des Durchbruchs hineingezogen. Webern, nach der Wahrheit seiner Situation produzierend der absoluten Lyrik verfallen, tilgt in der entbundenen Unmittelbarkeit seines Dirigierens alle Lyrik eigentlich, alles, was bei sich bleiben, pflanzenhaft blühen und welken möchte. Das komplementäre Verhältnis des Komponisten und Dirigenten bildet vollständig zugleich den Riß ab, der das musikalische Heute durchschneidet. Wenn seine Werke, der letzten Absicht nach, ihm selbst nur verständlich sind, so wendet sein Dirigieren sich an alle, die die einsame Musik verließ. Es müßte nur die Möglichkeit sein, daß sie ihn hörten.